Die Menschenaffen auf Borneo benutzen offenbar die gleichen Heilpflanzen wie Einheimische, um Entzündungen zu behandeln.
Wie Helen Morrogh-Bernard und ihre Kollegen von der University of Cambridge festgestellt haben, behandeln die Affen auf Borneo entzündete Stellen mit einer salbenähnlichen Masse.
Vier Tiere wurden von den Wissenschaftlern dabei beobachten, wie sie Blätter einer Pflanze zerkauten und den Brei auf ihre Gliedmaßen schmierten. Die gleiche Pflanze wird auch von Einheimischen zu einer Salbe verarbeitet und auf die Haut aufgetragen um Muskelschmerzen, Schwellungen oder Schmerzen in den Knochen zu lindern. Das berichten die Forscher im International Journal of Primatology.
Bisher wusste man, dass Schimpansen und Gorillas Blätter oder Pflanzenmark einnehmen, um Darmparasiten zu bekämpfen
Einige Affen reiben sich ihr Fell auch mit Tabakpflanzen oder Knoblauch ein, um Insekten abzuwehren. Dass aber wildlebende Affen eine Art Salbe herstellen und als Medikament verwenden, war bislang unbekannt.
Dem Fachmagazin New Scientist erklärte Morrogh-Bernhard, das die Affen die Behandlung nicht von den Einheimischen gelernt haben. Sie vermutet im Gegenteil, dass es in der Vergangenheit eher umgekehrt gewesen sei, dass die Menschen also diese Heilpflanzen-Anwendung bei den Affen abgeschaut haben.
(Quelle: sueddeutsche.de/mcs)
Wie kommen Orang-Utans zu Phytotherapie-Wissen?
Die interessanteste Frage wird meines Erachtens in diesem Text noch gar nicht gestellt:
Wie kommen die Orang-Utans zu diesem phytotherapeutischen Wissen? Ist es ein Wissen, das mit Lernvorgängen verbunden ist und dann über die Generationen weitergegeben wird? Oder ist es Instinkt, der in den Genen festgelegt ist? Oder gibt es auch Mischungen von beidem?
Dass Menschenaffen mit ihrem verhältnismässig hoch entwickelten Gehirn zu Lernvorgängen fähig sind, steht ausser Zweifel. Dabei müsste dann aber, wie bei menschlichen Lernvorgängen auch, mit Irrtümern und Selbsttäuschungen gerechnet werden. Uns Menschen passiert das jedenfalls laufend: Wir haben bestimmte Beschwerden, setzten dagegen ein bestimmtes Heilmittel ein und voilà – wir werden gesund und sind fortan überzeugt, dass unser Heilmittel in solchen Fällen hilft. Auch wenn die Chance gross ist, dass wir Dank kompetenter Selbstheilungskräfte auch ohne Heilmittel gesund geworden wären. Die Versuchung ist aber fast unwiderstehlich, das Vorangegangene (die Heilmittel-Anwendung) mit dem darauf Folgenden (der Besserung) in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu stellen.
Diesen altbekannten Fehlschluss nennt die Erkenntnistheorie “Post hoc, ergo propter hoc” (Etwas gilt als Ursache für ein Ereignis, nur weil das Ereignis danach geschieht)
Dieser Fehlschluss passiert sehr häufig bei der Beurteilung von Heilerfolgen, in der Medizin und auch im weiten Bereich von Naturheilkunde / Pflanzenheilkunde / Phytotherapie / Komplementärmedizin.
Die Medizin ebenso wie der forschende, an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessierte Teil der Phytotherapie bzw. Pflanzenheilkunde versuchen diesen Fehlschluss durch Doppel-Blind-Studien mit Patienten zu vermeiden. Durch den Vergleich von zwei möglichst ähnlich zusammengesetzten Gruppen, von denen eine ein Medikament (Verum) und die andere ein äusserlich identisches Scheinmedikament (Placebo) erhält, versucht man den Unterschied zwischen dem Effekt der Selbstheilung und dem zusätzlichen Effekt des Heilmittels zu ermitteln. Voraussetzung für eine aussagekräftige Untersuchung sind dabei vor allem: genügend grosse Gruppen, damit eine statistische Auswertung möglich ist; Zuteilung der Patienten in die Placebo- oder Verum-Gruppe nach dem Zufallsprinzip; weder die behandelnde noch die behandelte Person dürfen wissen, ob im konkreten Fall ein Verum oder ein Placebo zur Anwendung kommt, weil sonst die Ergebnisse beeinflusst werden (Placebo-Effekt).
Dieses Verfahren ist aufwendig, komplex und auch nicht ohne Tücken, aber es ist jedenfalls ein Versuch, den “Post hoc, ergo propter hoc”-Fehlschluss zu vermeiden
Diejenigen Kreise in den Bereichen Naturheilkunde / Pflanzenheilkunde / Komplementärmedizin, die den Doppelblind-Studien als Erkenntnisquellen ablehnend gegenüberstehen, müssten meines Erachtens darlegen, wie sie diesen Fehlschluss bei der Beurteilung ihrer Heilerfolge vermeiden. Ein grosser Teil dieser Heilmittel ist jedenfalls nicht mit Doppel-Blind-Studien dokumentiert und wird aber trotzdem in Apotheken und Drogerien als Heilmittel verkauft. Ich würde niemals behaupten, was nicht mit Doppel-Blind-Studien belegt ist, kann nicht wirken. Es gibt nur keinerlei Garantie, das solche nicht mit Studien dokumentierten Heilungsversprechungen über den Placebo-Effekt und über die Selbstheilung hinaus irgendwelche Wirkungen haben. Meiner Ansicht nach existiert hier ein grosser Graubereich, den man eigentlich als Betrug an Patientinnen und Patienten bezeichnen müsste. Zumindestens eine kritische Diskussion von Heilungsversprechungen im Hinblick auf einen möglichen “Post hoc, ergo propter hoc”-Fehlschluss wäre Voraussetzung für einen sorgfältige, seriöse und professionelle Haltung. Diese selbstkritische Auseinandersetzung fehlt meiner Erfahrung nach im Bereich der Naturheilkunde fast vollständig.
„Superstition” in the pigeon
Dass Tiere diesem Fehlschluss genauso unterliegen, hat der Psychologe B. F. Skinner erforscht und 1948 in einem Aufsatz publiziert mit dem Titel “Superstition” in the pigeon (etwa: “Aberglaube bei Tauben”). Das war einer der ungewöhnlichsten Fachartikel im Bereich der Psychologie, die je veröffentlicht wurden und er gilt inzwischen als Klassiker der psychologischen Literatur.
Das Verfahren ist recht einfach. Skinner setzte eine hungrige Taube in eine Kiste. Die Nahrungszufuhr in dieser Kiste wurde von einer Schaltuhr automatisch gesteuert, die völlig unabhängig vom Verhalten der Taube funktionierte. Nahrung kam regelmässig alle 15 Sekunden. Die erfolgreichste Strategie wäre es gewesen, sich vor der Nahrungsquelle niederzulassen und geduldig auf die Belohnung zu warten. Skinners Tauben jedoch waren hoch aktiv. Jeder Vogel entwickelte nach einigen Minuten in der Kammer sein eigenes Ritual. Die einen drehten Runden und machten zwischen den Futtergaben zwei bis drei Umdrehungen; andere steckten ihren Kopf in eine der oberen Ecken der Kammer.
Andere wiederum nickten mit dem Kopf, wie wenn sie versuchen würden, einen unsichtbaren Ball zu treffen und wegzustossen. Ausgelöst wurde dieses eigentümliche Verhalten durch eine einfache zeitliche Kontiguität (Berührung). Skinner zufolge genügte das zufällige Zusammentreffen einer beliebigen Handlung der Vögel mit der Zufuhr von Futter, um dieses eigenartige Verhalten zu verstärken. Bald tanzten die Tauben in der Kiste, als ob dies die Futterzufuhr aktiviere. Dabei hatte das Verhalten der Tiere überhaupt keinen Einfluss auf den Empfang der Belohnung – die Tauben waren aber offenbar vom Einfluss ihrer Rituale überzeugt. Es war ein Fall des sogenannten “Konditionierens durch Zufall”. Skinners Experimente wurden später in abgewandelter Form auch mit anderen Tierarten und mit Menschen durchgeführt, wobei sich immer das gleiche Verhalten zeigte wie bei den Tauben.
Was heisst das alles nun für den Bericht von den Orang-Utans und ihrer Verwendung von Heilpflanzen?
Wenn es sich dabei um Lernvorgänge handelt, dann könnte diesem Verhalten auch ein “Post hoc, ergo procter hoc”-Fehlschluss zugrunde liegen. Irgendein Orang-Utan hat bei einem Schmerz zufällig diese Pflanze angewendet und der Schmerz bildete sich zurück. Ob das ein Spontanverlauf der Krankheit war oder mit der Handlung zusammenhing, bleibt dabei offen. Aber die Verbindung von Besserung mit dieser (zufälligen?) Handlung könnte sich dabei etabliert haben. Dass sich Menschenaffen einen solchen Vorgang merken, ihn im Falle einer erneuten Erkrankung vielleicht wiederholen und dieses Ritual dann auch von anderen Affen übernommen wird, scheint jedenfalls naheliegend.
Damit will ich nicht sagen, dass an der Heilpflanzen-Therapie der Orang-Utans “nichts dran ist” ausser einem Fehlschluss. Ich finde, wir sollten bei solchen Beobachtungen aufmerksam hinschauen und sie prüfen. Unzulässig ist meiner Ansicht nach nur, die Möglichkeit eines Fehlschlusses zum Vorneherein auszuschliessen. Ich treffe im Bereich der Naturheilkunde immer wieder Menschen mit der Meinung, das Tiere sich im Hinblick auf Heilpflanzen nicht irren können, weil sie im Gegensatz zu uns degenerierten Menschen ursprünglicher sind und eben noch ganz in der Natur. Das ist mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Irrtum, wenn wir von Lernprozessen ausgehen.
Eine andere Erklärungsmöglichkeit liegt darin, dass die beschriebene Heilpflanzen-Anwendung der Orang-Utans instinktgesteuert sei
Viele Tiere nutzen Pflanzen sehr gezielt und quasi unfehlbar aufgrund ihres Instinkts. Psychologie und Verhaltensbiologie ersetzen heute das ziemlich alte Wort “Instinkt” mit “angeborenes Verhalten”. Es sind Verhaltensweisen, die ohne jede Erfahrung schon beim ersten Ausführen beherrscht werden. Bei Insekten kann man das gut beobachten. Ein Schmetterling kann nach dem Schlüpfen fliegen, ohne eine Flugschule zu besuchen und er kommt auch ohne Botanikkurs mit den Blüten zurecht. Andererseits wird beispielsweise das Jagdverhalten der Falken in eigentlichen Lektionen von den Altvögeln an die Jungen weitergegeben.
Die Vorstellung, Tiere hätten auf Grund ihrer Natürlichkeit ein sicheres, zweifelsfreies Wissen über die Wirkungen der Heilpflanzen, während wir Menschen immer meinen, wir müssten alles erforschen und analysieren, scheint mir ziemlich fragwürdig.
Beruht die Verwendung von Heilpflanzen auf Lernprozessen, ist sie so täuschungsanfällig wie unser eigenes Lernen
Beruht die Verwendung von Heilpflanzen durch Tiere aber auf Instinkt, dann gibt es in dieser “Therapie” keinen Zweifel, aber auch keine Wahlmöglichkeiten. Ich komme in der Naturheilkunde immer wieder in Kontakt mit Leuten, die den sicheren Instinkt der Tiere idealisieren und ihn sich zum Vorbild nehmen. Das scheint mir sehr fragwürdig. Bei uns Menschen hat sich die Instinksteuerung im Vergleich zu den Tieren stark reduziert zugunsten von Lernprozessen. Dadurch ist der Zweifel in das Leben der Menschen gekommen – instinktgesteuerte Insekten kennen höchstwahrscheinlich keinen Zweifel.
Weniger Instinktsteuerung bedeutet aber auch mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Freiheit.
Wer den Instinkt der Tiere im Umgang mit Heilpflanzen so hoch idealisiert, hält meines Erachtens die Zweifel nicht aus, die mit jedem Lernprozess verbunden sind (..oder sein sollten). Es scheint mir die Sehnsucht nach dem sofortigen, endgültigen und absoluten Wissen, während ein Lernprozess immer mit geistiger Anstrengung, Irrtumsmöglichkeiten und widersprüchlichen oder gar schmerzlichen Erfahrungen verbunden ist. Wer instinkthaft das Richtige zu wissen meint, wird auch nie die Erfahrung machen, dass Wissen sich immer wieder verändert.
Die Idealisierung des “naturgemässen” und “instinktiven” Wissens kommt daher oft einer Dogmatisierung gleich. Gewünscht und angeboten wird hier das endgültige, zweifelsfreie, absolute Wissen.
Ich bin aber überzeugt, dass wir stattdessen so gut wie möglich lernen sollten, auch mit Zweifel, Widersprüchen und der Unabgeschlossenheit des Wissens konstruktiv umzugehen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Leiter von Heilpflanzen- und Naturkursen / Heilkräuter-Exkursionen / Phytotherapie-Ausbildungen
Seminar für Integrative Phytotherapie
Forum für Naturheilkunde und Philosophie
www.phytotherapie-seminare.ch
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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