Am 17. Mai kommt in der Schweiz der Verfassungsartikel zu Förderung der Komplementärmedizin an die Urne. Die “NZZ am Sonntag” vom 22. März schreibt dazu:
“Eigentlich ist der Fall klar. Der Komplementärmedizin ist der wissenschaftliche Nachweis ihrer Wirksamkeit bisher nicht gelungen. Also gehören diese Behandlungsmethoden nicht in den Leistungskatalog der solidarischen Grundversicherung. Wer an die Wirkkraft homöopathischer Tropfen und Globuli glaubt, kann bei den Krankenkassen für wenig Geld eine Zusatzversicherung abschliessen.”
Hier wird wieder einmal pauschal von “der Komplementärmedizin” geschrieben, wie wenn es sich dabei um ein einheitliches Gebilde handeln würde. Immerhin findet sich dann weiter unten im Text eine Differenzierung:
“Kaum bestritten ist hingegen, dass die Pflanzenheilkunde und die chinesische Medizin in Teilbereichen wirksam sind.”
Das haben auch die Behörden anerkannt. Im Bereich Phytotherapie beispielsweise gibt es eine ganze Reihe von Heilmitteln, deren Wirksamkeit so gut belegt ist, dass sie auf ärztliche Verordnung hin von den Krankenkassen aus der Grundversicherung bezhalt werden.
NZZ am Sonntag
Die “NZZ am Sonntag” geht in ihrem Artikel noch detaillierter auf die bevorstehende Volksabstimmung ein. Auf die einleitenden Sätze, in denen der fehlende Nachweis der Wirksamkeit bemängelt wird, folgt die Aussage:
“Und doch zweifelt niemand daran, dass die Schweizer Stimmberechtigten am 17. Mai den Verfassungsartikel zur Komplementärmedizin annehmen. Die Frage ist nur, ob die Zustimmung bei 60, 70 oder 80 Prozent liegt.”
Diesen Eindruck teile ich, allerdings nicht einfach nur mit dem Gefühl reinster Freude.
Mir fehlt jede ernsthafte Debatte über die Komplementärmedizin.
In den Kreisen von Komplementärmedizin bzw. Naturheilkunde scheint zum vorneherein klar zu sein, dass man diese gute Sache in der Volksabstimmung unterstützen muss. Ein “Ja” ist offenbar über jeden Einwand erhaben. Nur schon über ein “Nein” nachzudenken scheint tabu.
Und die meisten politischen Parteien haben – soweit ich das sehen konnte – die Vorlage ohne vertiefte Diskussion durchgewinkt (einzig die SVP sagt “nein” – ebenfalls ohne vertiefte Diskussion). Man geht bei den Befürwortern wohl ziemlich populistisch von einem Bedürfnis im Volk aus. Das entbindet von jeder ernsthaften Auseinandersetzung.
Mir selber ist noch nicht klar, ob ich der Vorlage zustimmen soll oder nicht. Die Befürworter der Vorlage müssten mir vorgängig noch einige Fragen beantworten.
Anthroposophischen Medizin
Meines Erachtens müssten beispielsweise Fragen der Qualitätssicherung gestellt werden. Hier hat die Komplementärmedizin in vielen Bereichen ein fundamentales Problem.
Das lässt sich am Beispiel der “Anthroposophischen Medizin” zeigen.
Ein zentraler Punkt in der Anthroposophischen Medizin ist die Überzeugung, dass Krankheiten und Behinderung wesentlich von Karma aus früheren Leben ausgelöst werden. Wer eine Lungenentzündung bekommt, hat im früheren Leben ausschweifend gelebt und muss jetzt gegen Luzifer kämpfen, behauptet Rudolf Steiner, auf dessen Anregungen sich die Anthroposophische Medizin durch und durch gründet. Moralische Verfehlungen und Charaktermängel in früheren Leben führen zu Krankheit und Behinderung in diesem Leben.
Auch wenn mir diese Theorien hoch fragwürdig scheinen steht ausser Frage, dass sie vertreten werden dürfen. Allerdings: Solche moralischen Unterstellungen bestimmten Krankheiten und damit bestimmten Menschen zuzuschreiben, diese Kompetenz steht in der Anthroposophischen Medizin letztlich exklusiv Rudolf Steiner und dem Goetheanum zu. Da stellt sich die Frage, ob der Staat, wenn er die Anthroposophische Medizin fördert und unterstützt, diese Deutungshoheit und Beurteilungsberechtigung an eine demokratisch völlig unlegitimierte, intransparente Instanz am Goetheanum abtreten darf.
Ganz abgesehen davon, dass solche Karmatheorien bezüglich Entstehung von Behinderung und Krankheit den Betroffenen Schuld zuschieben (wenn auch im vorherigen Leben) und meines Erachtens zutiefst behindertenfeindlich sind.
Von diesem Aspekt her müssten sich vor allem politische Parteien mit christlichem oder sozialem Anspruch die Frage stellen lassen, warum sie mit dieser Abstimmungsvorlage eine Anthroposophische Medizin fördern wollen, die derart behindertenfeindliche Grundlagen besitzt.
Zudem steht ausser Frage, dass Anthroposophische Medizin Anthroposophie ist.
Anthroposophie aber vertritt eine Wurzelrassenlehre, in welcher die Arier als höchstentwickelte Rasse fungieren. Indianer dagegen waren für Steiner eine dekadente Abzweigung in der Entwicklung der Menschheit, ein Zwischending zwischen Menschen und Affen. Steiner wertet in unzähligen Stellen seines Werkes asiatische, afrikanische und europäische Völker ab und idealisiert die Germanen. Blondhaarige und blauäugige Menschen hielt er für besonders intelligent.
Dritte Reich
Wenn Arier, Germanen, Blonde und Blauäugige als besonders wertvoll und hoch entwickelt dargestellt werden, wird mir etwa mulmig. Das erinnert mich zu stark ans “Dritte Reich”.
Soll der Staat die Anthroposophische Medizin fördern, müsste meines Erachtens im Gegenzug von den Anthroposophinnen und Anthroposophen gefordert werden, dass sie sich von der Wurzelrassenlehre und von den Karmatheorien zur Entstehung von Krankheit und Behinderung distanzieren. Aber ist dann Anthroposophie noch Anthroposophie? Auch hier stellt sich zudem die Frage, warum politische Parteien – gerade auch linke und grüne – eine Heilmethode auf derart rassistischer Grundlage staatlich fördern wollen.
Mir sind zur Zeit noch zu viele Fragen offen, als dass ich mich schon heute vorbehaltlos für ein “Ja” entscheiden könnte bezüglich der Volksabstimmung vom 17. Mai.
Kursausschreibung: www.phytotherapie-seminare.ch/index.php
Zur Abstimmung über den Verfassungsartikel zur Förderung der Komplementärmedizin siehe auch folgenden Beitrag:
http://www.heilpflanzen-info.ch/cms/2009/04/09/abstimmung-komplementaermedizin-am-17-mai-nein-oder-ja.html
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
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Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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