In letzter Zeit häuften sich Pressemitteilungen über die gute Wirksamkeit von Cystus052 als Vorbeugemittel gegen Influenza A (H1N1). Inzwischen wird die Pflanze auch als Mittel gegen Schweinegrippe propagandiert.
Dazu im folgenden zwei fachliche Stellungnahmen in von mir bearbeiteter Form:
Cistus incanus: Gegen Grippe A(H1N1) wirksam?
Cystus052 ist ein Extrakt aus der Pflanze Cistus incanus. Das Produkt wird im gleichen Atemzug mit Neuraminidase-Hemmern wie Tamiflu® (Oseltamivir) genannt. Angeboten wird der Extrakt gegenwärtig in drei Varianten als Medizinprodukt: Als Sud, als Gurgellösung und als Lutschtablette. Ungeklärt bleibt dabei, wie viel Extrakt in einer Tablette enthalten ist. Es besteht die Hypothese, dass die polymeren Polyphenole aus dem Extrakt an die Viruspartikel in einer unspezifischen Art und Weise binden, die Eiweisse der Virushülle denaturieren und dadurch die Adsorption der Viren an die Zielzellen verhindern. Ob von diesen in-vitro und tierexperimentellen Untersuchungen auf eine klinisch relevante Wirksamkeit geschlossen werden kann, ist mehr als fraglich. Gegen die Hypothese, dass polymere Polyphenole auch systemisch antiviral wirksam sein könnten, spricht, dass solche Moleküle kaum bioverfügbar sind.
Quelle: Deutsche Apotheker Zeitung 19/2009/p78
www.pharmavista.net
Cistus – Ein neuartiger Grippeschutz auf pflanzlicher Basis?
Schnupfen, Husten, Heiserkeit erweisen sich als treue Begleiter nasskalter Tage und fordern die körperlichen Abwehrkräfte. Jedes Jahr stellt sich die Frage nach einem zuverlässigen Schutz vor Erkältungen oder gar einer Grippe. Eine ausgewogene, vitamin- und mineralstoffreiche Ernährung mit Vitamin C-reichen Früchten, viel Gemüse, Vollkorn- und Milchprodukten trägt dazu bei, das Immunsystem auf Trab zu halten. Viele Menschen suchen weitere Unterstützung in der Pflanzenheilkunde. Einen vielversprechenden Ansatz zur Grippevorbeugung sieht die Forschung in Extrakten aus der Heilpflanze Cistus incanus. Sie gehört zur Familie der Zistrosengewächse und wird in der Naturheilkunde gegen Durchfall oder zur Behandlung von Hauterkrankungen wie Neurodermitis verwendet.
Der Blattextrakt von Cistus incanus ist reich an hochpolymeren Polyphenolen, die zu den sekundären Pflanzenstoffen zählen. Studien der Universität Münster, des Friedrich-Löffler-Instituts in Tübingen und der Charité Berlin zeigen, dass gewisse Vertreter dieser Stoffgruppe Krankheitserreger wie Viren verhüllen und ihre Anheftung an die Zellen verhindern können. Die Zahl der eindringenden Viren reduziert sich also. Untersuchungen mit Mäusen bestätigen die Abwehrwirkung auf Grippeviren. Allerdings zeigen sich diese Resultate ausschließlich für den Cistus-Extrakt „CYSTUS052“, der ein bestimmtes Spektrum verschiedener polyphenolischer Verbindungen enthält. Entscheidend für die antivirale Wirkung ist außerdem, dass der Extrakt äußerlich durch Lutschen, Gurgeln oder Inhalieren zur Anwendung kommt. „Ein Schlucken der Wirkstoffe kann nicht gegen Grippeviren helfen, da die wirksamen Inhaltsstoffe vom Darm praktisch nicht aufgenommen werden“, erklärt Prof. Stephan Ludwig von der Universität Münster den aktuellen Stand der Forschung.
Cistus-Präparaten
Dieser entscheidende Aspekt ist bei vielen Cistus-Präparaten nicht berücksichtigt. Denn häufig handelt es sich um Kapseln zum Schlucken, die keine Wirkung gegen Viren haben. Meist fehlen Angaben dazu, ob die Präparate den wirksamen Cistus-Extrakt „CYSTUS052“ überhaupt enthalten. Vor allem über das Internet werden Cistus-Nahrungsergänzungsmittel mit Bezeichnungen wie „Abwehr-Kapseln“ oder direkten Hinweisen auf eine Anti-Grippe-Wirkung vermarktet. Eine solche Werbung ist unzulässig, weil Lebensmittel der Ernährung dienen und nicht der Vorbeugung von Krankheiten. Sie dürfen deshalb nicht krankheitsbezogen beworben werden.
Quelle:
aid infodienst, Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft e. V.
Heilsbachstraße 16, 53123 Bonn, https://www.aid.de
Kommentar & Ergänzung: Cistus incanus – Grippemittel mit vielen offenen Fragen
Viele Leute, die der Pflanzenheilkunde positiv gegenüber stehen, saugen alle Erfolgsmeldungen, wie sie zur Zeit beispielsweise von der Cistus-Propaganda verbreitet werden, vollkommen unkritisch auf.
Offenbar ist für diese “Szene” alles so wunderbar, was von den Heilpflanzen kommt, dass keinerlei Platz ist für die sorgfältige Prüfung solcher Versprechungen.
Mir scheint es dagegen wichtig, dass wir diesen Meldungen zwar interessiert begegnen, aber auch die notwendigen kritischen Fragen nicht ausser acht lassen.
Sowohl die “Deutsche Apothekerzeitung” als auch der “aid infodienst” sprechen zentrale ungeklärte Punkte bezüglich Cistus an:
Ergebnisse aus dem Labor und aus Tiermodellen lassen sich nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen. Das wird bei Nahrungsergänzungsmitteln und Heilpflanzen-Präparaten oft nicht berücksichtigt, wenn sie vorschnell und ungeprüft propagiert werden. So wird dann beispielsweise beim Thema Cistus die nicht ganz unwesentliche Frage ausgeblendet, ob die Wirkstoffe überhaupt aus dem Verdauungstrakt resorbiert werden.
Ich bin sehr für die Anwendung von Heilpflanzen-Präparaten, aber nicht für die naive Gläubigkeit gegenüber allen Versprechungen, die aus den Bereichen Pflanzenheilkunde / Naturheilkunde / Komplementärmedizin stammen. Kritische Fragen sind nötig, nicht nur gegenüber der “Chemie”, sondern genauso bei Naturheilmitteln.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch