In den Diskussionen rund um Vorbeugung und Therapie der Schweinegrippe taucht immer wieder die Frage nach Heilpflanzen auf, die ähnlich wie der Neuraminidase-Hemmer Tamiflu® wirken könnten. Tatsächlich wurden zahlreiche Heilkräuter, die in der traditionellen Pflanzenheilkunde gegen Erkältungskrankheiten und Grippe eingesetzt wurden oder werden, auf allfällige Wirkungen als Neuraminidase-Hemmer untersucht. Aus diesen Untersuchungen lassen sich allerdings keine fundierten Empfehlungen betreffend einer wirksamen Vorbeugung oder Behandlung der Schweinegrippe ableiten. Trotzdem scheinen mir diese Ergebnisse interessant und der Kenntnisnahme wert.
Hier also eine kurze Erklärung zu den Neuraminidase-Hemmern generell, gefolgt von einer Zusammenstellung der Forschungsresultate bezüglich Heilpflanzen mit Hemmeffekt auf die Neuraminidase.
Neuraminidase und Neuraminidase-Hemmer
Neuraminidase-Hemmer bzw. Hemmstoffe der Neuraminidase sind virustatisch wirkende Arzneimittel, welche jenes Oberflächenprotein hemmen, das die Antigenität verschiedener Bakterien und Viren mitbestimmt. Das Influenzavirus (Grippevirus) bindet über virales Hämagglutinin an die Oberfläche der Wirtszelle, dringt in die Zelle ein und vermehrt sich im Zellinneren. Die neugebildeten Viren knospen an der Zelloberfläche aus, bleiben aber über Rezeptoren an die Zelle gebunden. Mit Hilfe der viralen Neuraminidase wird die Bindung gespalten. Die Viren werden freigesetzt und können weitere Zellen infizieren. Neuraminidasehemmer blockieren die Neuraminidase, so dass sich die Viren nicht von der Wirtszelle lösen können und sich nicht weiter im Körper ausbreiten.
Der bekannteste Neuraminidase-Hemmer ist Oseltamivir, vertrieben als Tamiflu® von Roche.
Heilpflanzen als Neuraminidase-Hemmer
Die “Zeitschrift für Phytotherapie” (2008; 29: 65-70) veröffentlichte eine Studie zur “Wirkung von Pflanzenextrakten auf die Neuraminidase-Aktivität”.
Danach zeigten folgende Heilpflanzen-Extrakte starke Hemmwirkung:
Die wässrigen Extrakte von Achillea millefolium (Gemeine Schafgarbe), Camellia sinensis (Teepflanze), Cistus incanus (Zistrose), Eucalyptus globulus (Eukalyptus), Geranium sanguineum (Blutroter Storchenschnabel), Ginkgo biloba, Melissa officinalis (Zitronenmelisse), Rubus idaeus (Himbeere), Salvia officinalis (Garten-Salbei), Sanicula europaea (Sanikel), Scutellaria baicalensis (Baikal-Helmkraut) und Thymus vulgaris (Garten-Thymian).
Außerdem zählten die methanolischen Extrakte von Achillea millefolium, Chelidonium majus (Schöllkraut), Melissa officinalis, Phytolacca americana (Amerikanische Kermesbeere), Rubus idaeus, Salvia officinalis, Sanicula europaea, Scutellaria baicalensis und Thymus vulgaris zu dieser Gruppe.
Die methanolischen Extrakte von Geranium sanguineum, Eucalyptus globulus, Ginkgo biloba und der ethanolische Extrakt von Bergenia ligulata (Kaschmir-Bergenie) zeigten eine besonders starke Hemmaktivität. Darüber hinaus wies auch der frische Milchsaft von Chelidonium majus (Schöllkraut) eine starke Hemmaktivität auf.
Mittlere Hemmaktivität zeigten folgende Heilpflanzen-Extrakte:
Wässrige Extrakte von Chelidonium majus, Datura stramonium (Gemeiner Stechapfel), Phytolacca americana, Sambucus nigra (Schwarzer Holunder) und Sutherlandia frutescens (Ballonerbse).
Auch die methanolischen Extrakte von Datura stramonium, Sambucus nigra und Sutherlandia frutescens sowie der wässrige und methanolische Extrakt des Milchsaftes von Chelidonium majus (Schöllkraut).
Schwache Hemmaktivität zeigen folgende Heilpflanzen-Extrakte:
Die wässrigen Extrakte von Allium sativum (Knoblauch), Echinacea angustifolia (Schmalblättriger Sonnenhut), Eleuterococcus senticosus (Taigawurzel), Eupatorium cannabinum (Gewöhnlicher Wasserdost) und Zingiber officinale (Ingwer) sowie die methanolischen Extrakte von Allium sativum (Knoblauch), Echinacea angustifolia, Eleuterococcus senticosus, Eupatorium cannabinum (Gewöhnlicher Wasserdost) und Zingiber officinale (Ingwer).
Ebenfalls schwach wirkten die untersuchten ätherischen Öle.
Die Autoren des Artikels in der “Zeitschrift für Phytotherapie”, Sverre Morten Schwerdtfeger und Matthias F. Melzig, schreiben zu diesen Ergebnissen:
“Alle getesteten ätherischen Öle zeigten nur schwache Hemmaktivität auf die Neuraminidase. Mögliche antivirale Wirkungen müssen daher auf anderen Mechanismen als der Inhibierung dieses Enzyms beruhen. Eine Antiinfluenza-Eigenschaft jener pflanzlichen Extrakte mit schwacher Hemmaktivität lässt sich weiterhin nicht ausschließen, liegt jedoch nicht in der Neuraminidase-Inhibierung begründet. Auch eine allgemeine Stimulierung des Immunsystems kommt für die Nutzung in der Volksmedizin bei Grippe oder grippalen Infekten in Betracht.”
Die Autoren gehen dann speziell noch auf Heilpflanzen-Extrakte ein, die in dieser Untersuchung die stärksten Effekte als Neuraminidase-Hemmer zeigten. Es sind dies:
– Bergenia ligulata
– Eukalyptus globulus
Eukalyptusöl war aber nicht wirksam, die Autoren vermuten Flavonoide als potenteste Substanzen
– Geranium sanguineum
Allerdings konnte die in vitro (im Reagenzglas) beobachtete starke antivirale Wirkung nicht in dem gleichen Umfang in vivo (im lebenden Organismus = Tier) nachgewiesen werden.
– Ginkgo biloba
– Scutellaria baicalensis
Im Ausblick schreiben die Autoren:
“Da die Influenzaviren über Aerosole zuerst mit den Schleimhäuten der Mund- und Nasenhöhlen sowie des Epi- und Mesopharynx in Kontakt treten, bietet sich hier eine erste antivirale Therapie an, da eine Neuraminidase-Inhibierung innerhalb der ersten 48 Stunden nach Infektion erfolgen muss, um eine effektive Grippebehandlung zu bewirken. Gurgellösungen, Lutschpastillen, Nasentropfen oder Sprays können einen Schutzfilm über dem Epithel bilden, treten folglich als Erstes mit den Viren in Kontakt und nützten damit effektiv das schmale Zeitfenster einer erfolgreichen Therapie bei einfacher Applikation. Zugleich kommen dadurch auch hochmolekulare Substanzen zum Einsatz, die das Lungenepithel nicht erreichen bzw. vom Darmepithel nur schlecht oder gar nicht resorbiert werden, wie es bei Geranium sanguineum der Fall zu sein scheint.”
Kommentar & Ergänzung: Schweinegrippe – Heilpflanzen als Neuraminidase-Hemmer wirksam?
Das sind interessante Ergebnisse, doch muss festgehalten werden, dass es sich um Laborresultate handelt. Die Autoren haben die kritischen Punkte bereits angesprochen. Sind die wichtigsten Inhaltsstoffe aus dem Verdauungstrakt überhaupt in relevanter Menge resorbierbar? Lässt sich damit überhaupt eine wirksame Konzentration im Organismus erreichen?
Im Reagenzglas ist es nämlich immer ziemlich einfach, irgendwelche Ergebnisse zu erzielen. Ob sich ein Resultat aber auch positiv am kranken Menschen zeigt, ist eine ganz andere Sache. Das hat sich offenbar beim Blutroten Storchenschnabel gezeigt, der zwar im Labor einen starken Hemmeffekt entfaltete, dessen Wirkstoffe aber offenbar kaum resorbiert werden.
So bleibt dann noch die von den Autoren aufgeworfene Idee mit Gurgelungen und Spülungen im Mund-Rachenraum oder von Lutschpastillen und Nasensprays.
Als einfachste Variante wären dann Spülungen / Gurgelungen zum Beispiel mit Grüntee / Schwarztee denkbar, weil Camellia sinensis als wässriger Effekt starke Hemmwirkung zeigte. Dabei müsste man den Tee dann wohl 8 – 10 Minuten ziehen lassen, um eine hohe Konzentration an Polyphenolen zu erreichen.
Und die Anwendung müsste wahrscheinlich vorbeugend geschehen, weil eine Neuraminidase-Hemmung nur in den ersten Phasen der Infektion Sinn macht. Die Nase als Eintrittspforte bleibt dabei unberücksichtigt. Nasenspülungen mit starkem Schwarztee / Grünttee kann ich mir nicht so recht vorstellen. Spülungen mit Kochsalzlösung wären hier aber ziemlich sicher nützlich
Siehe dazu:
Schweinegrippe – was bieten die Heilpflanzen?
(mit Infos zur Kochsalzlösung)
Eine komplexe und ungesicherte Sache also, diese Neuraminidase-Hemmung mit Heilpflanzen, wenn man sie konkret unter die Lupe nimmt. Spekulation auf der Basis von experimentellen Ergebnissen halt, aber immerhin eine preisgünstige und aller Voraussicht nach unschädliche Spekulation.
Eine Impfung – sollte sie nochwendig sein – lässt sich meines Erachtens damit allerdings nicht ersetzen.
Interessant ist an den geschilderten Ergebnissen auch, dass die gegen Schweinegrippe stark propagierte Zistrose (Cistus incanus) bezüglich Neuraminidase-Hemmung zwar gut abgeschnitten hat, aber gar nicht so allein auf weiter Flur dasteht, wie das die Werbung darstellt.
Zu Cistus incanus siehe auch:
Cistus incanus – Grippemittel mit vielen offenen Fragen
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch