Von allen politischen Parteien zeigt meines Erachtens die SPS im Umgang mit dem Verfassungsartikel zur Förderung der Komplementärmedizin – leider – die undifferenzierteste Position und das ausgeprägteste Schwarz-Weiss-Denken. Das zeigt sich auch in den Forderungen der Sozialdemokratischen Partei nach verstärkter wissenschaftlicher Forschung im Bereich Komplementärmedizin. Fragwürdig ist allerdings nicht diese Forderung an sich, sondern die Art und Weise, in der sie gestellt wird. Da verlangt zum Beispiel SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga im SP Pressedienst vom 31. März. 2009: “Und es muss zwingend mehr wissenschaftliche Forschung an den Universitäten und Fachhochschulen betrieben werden können, damit die Wirksamkeit besser belegt werden kann.”
Die selbe Simonetta Sommaruga sagt einige Tage später, in der Tagesschau vom 9. April 2009, 19.30 Uhr: “Wenn Bundesrat Couchepin aber die Zulassungsverfahren korrekt anwendet und umsetzt und unvoreingenommen prüft, dann gehe ich heute davon aus, dass die fünf Methoden wieder in die Grundversicherung zugelassen werden, weil sie nämlich wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind, das haben alle wissenschaftlichen Studien gezeigt.” Das ist ja wahnsinnig schnell gegangen mit dem wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit…. Wenn alle wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit der fünf zu Diskussion stehenden Komplementärmedizin-Methoden zeigen, wozu braucht es dann noch “zwingend” mehr wissenschaftliche Forschung, damit die Wirksamkeit besser belegt werden kann?
Nun, dieser Widerspruch lässt sich leicht auflösen: Die Aussage von SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga, dass alle wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit der fünf Komplementärmedizin-Methoden zeigen, ist schlicht und einfach nicht wahr. Siehe dazu auch: Falschaussage von Simonetta Sommaruga zur Komplementärmedizin-Abstimmung Vor allem dass “alle” wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit (und Zweckmässigkeit) zeigen, scheint mir eine krasse Verzerrung. Aber schauen wir uns doch einmal die andere Aussage von Simonetta Sommaruga genauer an: “Und es muss zwingend mehr wissenschaftliche Forschung an den Universitäten und Fachhochschulen betrieben werden können, damit die Wirksamkeit besser belegt werden kann.” Wissenschaftliche Forschung sollte ergebnisoffen sein. Der Wissenschaft quasi einen Auftrag zu erteilen, der das Ergebnis schon vorspurt, ist ein sehr fragwürdiges Unterfangen.
Wenn die Politik von der Wissenschaft Ergebnisse verlangt, um die eigenen Positionen zu untermauern, kommt das nicht gut heraus. Und diese Tendenz steckt meiner Ansicht nach in der Aussage von Simonetta Sommaruga. Zudem scheint mir, dass Simonetta Sommaruga die bisherige Forschung gar nicht zur Kenntnis nimmt. Wie sonst könnte sie behaupten, dass alle Studien die Wirksamkeit der Komplementärmedizin zeigen. Für einen ausgesprochen selektive Umgang mit der Forschungssituation spricht auch, dass SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga als Beleg für die Wirksamkeit der Komplementärmedizin die Studie von Heiner Frei heranzieht, welche der Homöopathie eine Wirksamkeit in der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms (ADHS) zuschrieb (SF Sendung Arena vom 24. 4. 2009).
Im ähnlichen Sinn sagte SP-Nationalrätin Bea Heim (SO) bereits am 19. Sept. 2007 im Nationalrat: “Der Wirksamkeitsnachweis der Homöopathie ist erbracht: Nehmen Sie die Studie der Universität Bern über den Ein- satz von Homöopathie bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefi- zitsyndrom, eine Studie nach den Prinzipien der «evidence- based medicine».” Selektive Studiengläubigkeit Solche Aussagen zeigen meinem Eindruck nach eine sehr fragwürdige Studiengläubigkeit. Offenbar blind geglaubt wird genau jener Studie, welche die eigene Überzeugung stützt.
Mir scheinen es hier also mit einer selektiven Studiengläubigkeit bzw. einer selektiven Wissenschaftsgläubigkeit zu tun zu haben. Eine Studie zeigt aber nicht einfach die Wahrheit. Sie kann nicht einfach die Wirksamkeit der Homöopathie beweisen. Studien sagen nicht direkt, wie es ist. Sie müssen interpretiert und bewertet werden. Es gibt immer auch falsch-positive und falsch-negative Studien, zum Beispiel wegen statistischer Ausreisser, vor allem bei Studien mit wenig Teilnehmenden (wie bei der Studie Frei).
Studien sind fehleranfällig, sonst gäbe es keine widersprüchlichen Ergebnisse. In der Studie von H. Frei zeigte sich bei Kindern mit ADHS offenbar nach ziemlich langer Behandlungdauer ein (schwacher) Vorteil der homöopathischen Behandlung gegenüber Placebo. Die Studie entspricht wissenschaftlichen Kriterien (randomisiert-doppelblind) und der homöopathischen Forderung nach Individualisierung. Sie ist daher ernst zu nehmen. Ein sorgfältiger Umgang mit Studien, der diese nicht einfach für die eigene Position instrumentalisiert, würde sich aber auch mit der Kritik auseinandersetzen, die gegen sie vorgebracht wird.
Zum Beispiel bei der “Frei-Studie” die Einwände von Prof. Dr. med. Götz-Erik Trott – FA f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie u.f. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: “Open-label-Phase unbegrenzter Dauer; im Schnitt 5,1 Monate (1-18 Monate!), Nur Responder wurden in die Studie aufgenommen (50% Besserung im CGI unter Homöopatika), Komorbiditäten wurden nicht erfasst, keine Untersuchung durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Eltern wussten, dass es sich um eine homöopathische Behandlung handelt, Carry-Over-Effekte wurden nicht berücksichtigt, auch unter Placebo fanden sich signifikante Effekte (p=0,04).”
(Quelle: http://www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/Kliniken/Kinder_Jugendpsychiatrie/Praesentationen/Trott_Psypharm_0908.pdf) Kritisiert wurde auch, dass nur die Eltern, die von der Homöopathie überzeugt sind, befragt wurden, nicht aber im Verlauf die betroffenen Kinder und Lehrer (Coulter MK, Dean ME, The Cochran library 2007, Issue 4, Wiley&Sons).
Wenn man nur schon zur Kenntnis nehmen würde, dass es fachlich ernsthafte Kritik gibt an dieser Studie, würde man kaum derart plump gerade und einzig mit dieser Studie winken, welche die Wirksamkeit der Homöopathie beweisen soll. Ein sorgfältiger Umgang mit dieser Studie würde auch bedeuten, die Übersichtsstudie zur Kenntnis zu nehmen, welche nach Auswertung von vier Studien zu ADHS-Behandlung mit Homöopathie (incl. Studie von H. Frei) den Schluss zog, dass daraus keine signifikanter Effekt auf die Kernsymptomatik der ADHS sowie auf begleitende Störungen wie Angststörungen etc. festzustellen sei. Siehe: http://www.sfg-adhs.ch/downloads/adhsaktuell15.pdf
Man muss meines Erachtens diese Kritik nicht teilen, aber sie mindestens zur Kenntnis zu nehmen wäre angemessen. Zur Kenntnis nehmen müsste man meiner Ansicht nach auch, dass es eine grosse Anzahl von Studien gibt, die wie die Studie Frei wissenschaftlichen und homöopathischen Kriterien entsprechen und keinen über Placebo hinausgehenden Effekt der Homöopathie zeigen konnten.
Es scheint mir einfach eine Frage der Redlichkeit, kritische Einwände und gegensätzliche Resultate auch ernst zu nehmen und nicht nur selektiv jene Ergebnisse, welche die eigene Überzeugung stützen. Gerade bei der Forschung zur Homöopathie und zur Anthroposophischen Medizin ist die Lage gar nicht so klar und eindeutig, wie die SPS das darstellt. Im Gegenteil – es gibt Fragezeichen noch und noch. Warum blendet die SPS diese Seite komplet aus? Die total einseitige Rezeption und Darstellung der Forschung durch die SPS macht mir einen ziemlich fundamentalistischen Eindruck. Und dass nun “zwingend” die Wirksamkeit der Komplementärmedizin nachgewiesen werden soll, verstärkt diesen Eindruck noch. Was soll dann nach Ansicht der SPS geschehen mit negativen Ergebnissen? Weiterhin ausblenden und noch mehr Forschung verlangen? – Nur schon die Vorstellung, man könne pauschal die Wirksamkeit der Komplementärmedizin beweisen, scheint mir sehr realitätsfremd.
In der Phytotherapie jedenfalls, in der ich mich auskenne, gibt es regelmässig positive und negative Forschungsergebnisse für einzelne Heilpflanzen. Ich kann mir schlecht vorstellen, auf welche Art pauschal die Wirksamkeit der Phytotherapie belegt werden soll. Aber die SPS verspricht so etwas – sie behauptet sogar, dass dies bereits geschehen sei. Und die Anthroposophische Medizin zum Beispiel basiert auf der Überzeugung, dass Krankheit und Behinderung durch moralisches Versagen in früheren Leben bedingt sind. Daraus folgen auf der therapeutischen Ebene Bemühungen um eine Verbesserung dieser Karma-Probleme. Es würde mich sehr interessieren, wie die SPS sich das genau vorstellt, wenn “zwingend” mehr Forschung stattfinden soll zum Nachweis der Wirksamkeit dieser “Karmaoptimierung”.
Mehr dazu: Abstimmung Komplementärmedizin: Kritische Fragen an Simonetta Sommaruga zur Förderung der Anthroposophischen Medizin Komplementärmedizin-Abstimmung: Kritische Anmerkungen zur Anthroposophischen Medizin Aber wahrscheinlich wird dieser religiöse Kern der Anthroposophischen Medizin schon zum Vorneherein ausgeklammert, wenn es um Forschung geht, und man versucht Belege zu finden in Randgebieten, die solcher Forschung zugänglicher sind. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn die Forschungslage differenziert und transparent dargestellt würde.
Wenn man aber wie die SPS vollmundig und pauschal verkündet, dass alle Studien die Wirksamkeit generell zeigen, und damit implizit auch eine Aussage über die Karmatheorie macht, scheint mir das eine massive Verzerrung. Obwohl ich mich der Naturheilkunde zugehörig fühle, verzichte ich gerne auf diese Art politischer Unterstützung, die auf Falschaussagen, hoch selektiver Darstellung von Sachverhalten und fundamentalistischen Tendenzen basiert.
Diese Art der Unterstützung wirkt sich meines Erachtens negativ aus auf die Entwicklung von Komplementärmedizin und Naturheilkunde. Ein weiterer Widerspruch soll hier noch angefügt werden: Die Sozialdemokratische Partei fordert einerseits “zwingend” mehr Forschung, damit die Wirksamkeit der Komplementärmedizin bewiesen werden kann. Andererseits setzt sich die SPS dafür ein, dass bestimmte Gruppen von komplementärmedizinischen Heilmitteln bevorzugt werden, indem sie von jeglichem Nachweis ihrer Wirksamkeit befreit sein sollen (bzw. bleiben sollen). Siehe dazu auch: Sozialdemokratische Partei & Komplementärmedizin: Heimatschutz auch für unseriöse Naturheilmittel?
Der Widerspruch liegt hier darin, dass Hersteller komplementärmedizinischer Produkte, die keine Wirksamkeit dokumentieren müssen, auch kein grosses Interesse an Forschung haben werden. Wozu forschen, wenn doch die Zulassung auch ohne diesen Aufwand erhältlich ist. Dann steckt eine Unternehmungsleitung das Geld sinnvoller in die Werbung. Prof. Rudolf Bauer vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Graz, einer der profiliertesten Arzneipflanzenforscher, schreibt unter dem Titel “Arzneipflanzenforschung – quo vadis?” zu dieser Problematik: “Für jedes zugelassene Arzneimittel muss der Nachweis von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erbracht werden. Dies gilt auch für pflanzliche Arzneimittel, auch wenn teilweise wegen der langen Erfahrung diese hohen Hürden als nicht nötig erachtet wurden.
Rückblickend betrachtet, haben diese gesetzlichen Anforderungen die Arzneipflanzenforschung sicherlich stimuliert… Die Entwicklung, dass auf europäischer Ebene vor allem die Zulassung ,traditioneller‘ Arzneimittel mit ,weichen‘ Indikationen vorangetrieben wird, und die zunehmende Tendenz, dass pflanzliche Präparate als Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt gebracht werden, lassen die Befürchtung aufkommen, dass durch den Wegfall des gesetzlichen Drucks in Zukunft weniger in die Forschung investiert wird.” Quelle: http://www.infektionsnetz.ch/frame.php?frame=http%3A//www.infektionsnetz.ch/stage/networkcenter.php%3Fnw%3D13%26cat%3D0%26table%3Darticle%26view%3Darticle%26id%3D10307 Auf universimed / Phytoforum, 27. 6. 2005
Es ist genau diese für die Forschung sehr fragwürdige Entwicklung, welche die Sozialdemokratische Partei voran treiben will. Ihre Forderung, es müsse mehr geforscht werden im Bereich Komplementärmedizin, sabotiert die SPS also gleich selber, indem sie die Hersteller vom Forschungsaufwand befreit. Oder stellt sich die SPS vor, dass der ganze Forschungsaufwand zu Lasten des Staates geht? Wenn die Forschung dadurch firmenunabhängiger wird, wäre das ja gar nicht so schlecht, braucht aber sehr viel Geld. Allerdings könnte dieser “Schuss” auch hinten hinaus gehen. In den USA pumpte der Staat seit 1999 über das National Center of Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) rund 2,5 Milliarden Dollar in die Forschung im Bereich Komplementärmedizin.
Laut dem Portal www.news.de räumte NCCAM-Leiterin Josephine Briggs ein, dass der Erkenntnisgewinn ihrer Behörde im ersten Jahrzehnt äußerst dürftig war. Trotz grosser finanzieller Ressourcen sind die bestätigenden Durchbrüche für die Komplementärmedizin ausgeblieben. Im Gegenteil: Manche Ergebnisse dieser grossen, unabhängigen Studien stellen Überzeugungen der Komplementärmedizin sehr in Frage. Aber der SPS geht es ja darum, dass “zwingend” mehr geforscht werden soll, um die Wirksamkeit zu beweisen. Da werden doch wohl keine negativen Ergebnisse auftauchen…….
Falls die SPS fordert, dass der Staat viel Geld in die Hand nehmen soll für die “zwingend” zu erbringende Forschung zum Nachweis der Wirksamkeit der Komplementärmedizin, hätte ich allerdings schon noch die Frage, ob es nicht dringendere Forschungsbereiche gäbe, die näher bei den sozialdemokratischen Kernthemen liegen. Beispielsweise die Erforschung von schweren, aber seltenen Krankheiten, die kaum erforscht werden, weil sich hier kein attraktiver Markt auftut. Ich bin nicht gegen Forschung im Bereich Komplementärmedizin. Voraussetzung dafür wäre aber schon, dass man positive und negative Ergebnisse zur Kenntnis nimmt und nicht so einseitig-fundamentalistisch daherredet, wie die Sozialdemokratische Partei (SPS) dies meiner Ansicht nach im Bereich Komplementärmedizin tut.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch