Weil die Menschen in Europa immer älter werden, bekommen Medikamente in ihrem Leben eine immer wichtigere Rolle. Wie wichtig, belegt die Statistik: In Deutschland nimmt jeder Kassenpatient über 60 Jahre im Durchschnitt drei Arzneimittel pro Tag ein! Das Problematische dabei: Zahlreiche dieser Medikamente sind ausgerechnet bei älteren Menschen mit Nebenwirkungen und sogar gefährlichen Risiken verbunden. Eine Arbeitsgruppe um die Wuppertaler Pharmakologin Prof. Dr. med. Petra A. Thürmann hat jetzt zum ersten Mal eine für Deutschland gültige Liste von Arzneistoffen erstellt, die bei älteren Menschen wenn möglich vermieden werden sollten.
Die soeben publizierte PRISCUS-Liste (Dtsch.Arztebl. Int. 2010; 107(31-32): 543-51, www.priscus.net) liest sich wie ein Katalog der am häufigsten verordneten synthetischen Medikamente. 83 Arzneimittel haben die an der Beurteilung mitwirkenden 38 Experten aus acht verschiedenen Fachrichtungen als für ältere Menschen „potentiell inadäquate Medikamente“(PIM) eingestuft. Dazu zählen die in Deutschland besonders oft verordneten Schlaf- und Beruhigungsmittel Benzodiazepine, Z-Substanzen, Chloralhydrat und Diphenhydramin.
Sie gefährden die Alltagssicherheit und das Reaktionsvermögen und sind eine häufige Ursache von schweren Stürzen. Benzodiazepine beispielsweise steigern das Risiko von Knochenbrüchen bei älteren Patienten um 50 bis 110 Prozent! Gefürchtet sind jedoch auch ihre unerwünschten Wirkungen auf die Psyche: Sie reichen von paradoxen Reaktionen wie Unruhe und Reizbarkeit bis hin zu Depressionen und Psychosen.
Therapeutischen Alternativen
Als eine der wenigen therapeutischen Alternativen, welche ohne unangemessene Risiken auch bei älteren Patienten angewendet werden können, nennt die PRISCUS-Liste pflanzliche Arzneimittel mit Baldrian. Die beruhigende und Schlaf anstoßende Wirkung von Baldrian-Extrakten ist in randomisierten und kontrollierten wissenschaftlichen Studien gut dokumentiert. In keiner dieser Untersuchungen zeigte sich ein Hinweis auf eine Verschlechterung der Konzentration, der Reaktionsgeschwindigkeit, der Wahrnehmung oder der Wachheit. Eine Erhöhung der Sturzgefahr muss nach Einnahme von Baldrian-Extrakten ebenfalls nicht befürchtet werden. Weil Baldrian-Extrakt den Schlafrhythmus nicht störet und nicht abhängig machen, können diese Heilpflanzen-Präparate im Gegensatz zu Benzodiazepinen über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.
Quelle:
www.phytotherapie-komitee.de KFN 14/2010 – 19.08.2010
Kommentar & Ergänzung: Baldrian als verträgliche Schlafhilfe für Senioren bestätigt
Die erhöhte Sturzgefahr bei älteren Menschen durch Schlafmittel oder Beruhigungsmittel sind ein ernsthaftes Problem. Heilpflanzen-Präparate auf der Basis von Baldrian-Extrakt, eventuell in Kombination mit Hopfen-Extrakt, Melissen-Extrakt oder Passionsblumen-Extrakt, sind in vielen Fällen eine sichere und empfehlenswerte Alternative.
Zu beachten ist dabei aber:
Um das Potenzial von Baldrian optimal zu nutzen, scheint die Einnahme über längere Zeit sinnvoll zu sein, darauf deuten jedenfalls klinische Studien hin.
Die Qualität der Baldrian-Zubereitungen ist sehr unterschiedlich. Gut mit Patienten-Studien belegt sind die beruhigenden und schlafanstossenden Wirkungen nur für eine kleine Zahl von Baldrian-Präparaten auf der Grundlage von Trockenextrakten.
Baldriantinktur muss ausreichend stark dosiert werden. Die Dosierung ist abhängig von der Herstellungsweise der jeweiligen Tinktur: Frischpflanzentinkturen zum Beispiel enthalten in der Regel geringere Wirkstoffmengen als Tinkturen nach Arzneibuch aus getrockneten Baldrianwurzeln und müssen daher höher dosiert werden. Für die heute oft propagierten Tiefstdosierungen von zum Beispiel 3 mal täglich 3 – 5 Tropfen Baldriantinktur gibt es keinerlei Hinweise auf eine Wirkung, die über Placebo hinaus geht. Diese Tiefstdosierungs-Empfehlungen gehen zurück auf einen Hersteller von Pflanzentinkturen, der seine Produkte für 10mal wirksamer hält als vergleichbare Produkte der Konkurrenz. Sieht nach Selbstüberschätzung aus.
Es gibt jedenfalls meines Erachtens keine auch nur ansatzweise überzeugenden Argumente für die Richtigkeit dieser Behauptung und damit für die Tiefstdosierungen. Konsumentinnen und Konsumenten sollten daher wachsam und kritisch bleiben, damit sie nicht Naturheilmittel mit stolzem Preis aber fragwürdiger Qualität kaufen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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