Was seit Jahrtausenden angewandt wird, muss wirksam sein. Solche Begründungen für traditionelle Heilmittel oder Heilmethoden hört man aus der Komplementärmedizin oder Alternativmedizin ziemlich häufig. Meines Erachtens ist dieses Argument ausgesprochen fragwürdig und schwach. Das heisst aber keineswegs, dass die Tradition gering geschätzt werden sollte.
Vor allem die Pflanzenheilkunde hat eine lange und faszinierende Geschichte, die uns als Anregung und Inspirationsquelle dienen kann.
Dabei sind aber ein paar wichtige Punkte zu beachten:
1. Die Tradition hat nicht immer Recht. Die Medizingeschichte zeigt, dass auch Jahrhunderte lange Erfahrung den Irrtum nicht unbedingt zeigt. Deshalb braucht es sorgfältige, kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Heilmethoden. Die Phytotherapie leistet diese Arbeit, in dem altes Heilwissen mit wissenschaftlichen Methoden überprüft und dabei wenn mögliche bestätigt oder widerlegt wird.
2. Es ist ein Irrtum zu glauben, was sich als Heilmittel oder Heilmethode über lange Zeit halte, müsse zwangsläufig auch wirksam sein. Der Medizinhistoriker und Sinologe Paul U. Unschuld hat überzeugend dargelegt, dass eine Methode ihren „Wahrschein“ bekommt, weil sie mit dem historischen und kulturellen Umfeld kompatibel ist und mit gesellschaftlichen Interessen übereinstimmt
(in: „Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst“, erhältlich im Buchshop).
3. Der rechtfertigende Verweis auf „Tradition“ geschieht heute meines Erachtens viel zu oberflächlich. Man kann nicht einfach ein Zitat beispielsweise von Hildegard von Bingen (1098 – 1179) oder von Paracelsus (1493 – 1541) wie mit einer „Ausschneiden“-Taste im Word-Programm aus dem Mittelalter oder der Renaissance herauslösen, und anschliessend mit der „Einfügen“-Taste ins Jahr 2011 transplantieren.
Das heisst: Man kann so etwas natürlich schon machen, nur wird dabei der historische und philosophische Kontext vollkommen ausgeblendet. Solche hochgradig isolierten Versatzstücke dann noch als „ganzheitlich“ zu propagieren ist allerdings sehr fragwürdig.
Hildegard von Bingen und Paracelsus
Hildegard von Bingen und Paracelsus sind sehr interessante Persönlichkeiten der Medizingeschichte. Wer ihre Aussagen und Empfehlungen in die Gegenwart übernehmen will, sollte sich aber meines Erachtens auch mit dem Weltbild, dem Menschenbild und dem Verständnis von Krankheit und Gesundheit in der jeweiligen Epoche vertraut machen – weil alle Aussagen aus jener Zeit auf’s engste mit solchen Kontextaspekten verflochten sind.
Wer sich mit diesen historisch-philosophischen Grundlagen der traditionellen Pflanzenheilkunde vertraut machen will, bekommt dazu gut verdauliches und konzentriertes „Futter“ am Kurs
„Die Heilkräfte der Pflanzen im Wandel der Zeit“. Schwerpunkte sind dabei die Magische Medizin, die Vier-Säfte-Lehre (Humoralpathologie), die Klostermedizin im Mittelalter (Hildegard von Bingen), die Signaturenlehre der Renaissance (Paracelsus), die Bachblüten-Therapie und Phytotherapie.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz