Ätzend, dieser Hype um den angeblichen Weltuntergang am 21. Dezember 2012 aufgrund angeblicher Vorhersagen eines Mayakalenders.
Ich habe mich gefragt, ob ich auch noch etwas dazu schreiben soll, oder ob es besser wäre, diesen esoterischen Blödsinn gar nicht zu beachten.
Interessant ist nicht die Frage, ob diese bescheuerte Prophezeiung wahr ist oder nicht – die Welt wird am 21. Dezember 2012 nicht untergehen.
Interessant ist vielmehr das Phänomen, wie solche Prophezeiungen konstruiert werden.
Unser Gehirn ist, wenn es auf „Welt“ trifft, ständig auf der Suche nach Ordnung und Zusammenhängen. Das ist auch bei vielen Tierarten schon so.
Besonders in unübersichtlichen Situationen neigt unser Gehirn dazu, auch dort Ordnung und Zusammenhänge zu sehen, wo gar keine sind. Offenbar ziehen wir notfalls selbst konstruierte Ordnungen dem Chaos vor. Menschen, die stark zu selbst konstruierten Zusammenhängen neigen, finden sich besonders häufig in den Bereichen der Esoterik und der Verschwörungstheorien. Das hat ganz einfach damit zu tun, dass diese Bereiche auf solchen Konstrukten basieren.
Stärker werden solche Konstrukte beispielsweise, wenn viele Menschen die selbst geschaffenen Ordnungen und Zusammenhänge einer passenden Führerperson übernehmen. Auf dieser Basis entstehen Sekten, Gurusysteme, fundamentalistische Ideologien, Verschwörungstheorien. Sie alle interpretieren die Welt entlang von forciert konstruierten Zusammenhängen und setzen ihre Interpretation absolut.
Rupert Lay hat dieses Phänomen prägnant beschrieben:
„In Situationen objektiver oder subjektiver Orientierungslosigkeit basteln wir Menschen oft die phantastischsten Theorien zusammen. Sie sind um so phantastischer, als sich der Grund oder die Erklärung eines Sachverhaltes oder einer Beziehung zwischen zwei oder mehreren Sachverhalten nicht gleich aus dem Repertoire des eigenen oder sozialvermittelten Lernens anbietet. Unser Vertrauen in die Richtigkeit dieser selbsterstellten Theorie ist nahezu unerschütterlich, und das um so mehr, je grösser der Aufwand bei ihrer Erstellung war und je sonderbarer sie ist. Informationen, die dieser Theorie widersprechen, führen in der Regel nicht zu Korrekturen, sondern zur weiteren Ausarbeitung und Verfeinerung der absurden Erklärung.“
(aus: Philosophie für Manager, Econ Verlag 1991)
Verschwörungstheorien, Weltuntergangs-Prophezeiungen und esoterische Konstrukte sind offenbar Phänomene, die ziemlich stark im menschlichen Hirn verwurzelt sind. Katzen produzieren wohl kaum solche Geschichten (wer weiss…?).
Erstaunlich ist es aber schon, dass fast ohne reale Fakten, nur basierend auf konstruierten Zusammenhängen, ein solcher weltweiter Hype wie diese Weltuntergangs-Prophezeiung nach dem Mayakalender entstehen kann. „Maya“ genügt offenbar vielen Menschen als Qualitätslabel, das den Wahrheitsgehalt einer Behauptung bestätigt.
Für das Qualitätslabel „Maya“ spricht der Traditions-Bonus (Tradition hat bekanntlich immer Recht) und der Exoten-Bonus (Je exotischer, desto überzeugender – was man nicht kennt, eignet sich besser als weisse Leinwand für die Projektion eigener Wünsche und Bedürfnisse)…..
Komplementärmedizin: Hat Tradition Recht?
Und schwup, schon übernehmen offenbar ganze Heerscharen ein irres Konstrukt, das nichts enthält als erhitzte Luft. Dabei ist diese Mayakalender-Weltuntergangs-Prophezeiung ja noch vergleichsweise harmlos. Gut, einige Leute verdienen sich daran wohl eine goldene Nase, wie das im Esoterikmarkt mit seinen überrissenen Margen halt so üblich ist. Und einige Leute steigern ihren Eso-Kultstatus, indem sie sich durch Einsicht in diese tiefen Zusammenhänge und in uralte Weisheiten von der breiten, unerleuchteten Masse abheben. Heikler wird es, wenn Menschen im Hinblick auf den bevorstehenden Weltuntergang ihr Haus verkaufen, den Job kündigen, ihre Beziehung aufgeben oder sich und ihre Kinder umbringen, um den Horror eines Weltuntergangs nicht miterleben zu müssen. Das sind alles ganz reale Begleiterscheinungen bisheriger Weltuntergangsszenarien. Wer solche Prophezeiungen weiterverbreitet, trägt dafür Mitverantwortung.
Wer sich detailliert für die Fakten rund um diese angeblichen Wahrsagungen des Mayakalenders zum Weltuntergang interessiert, findet alles dazu hier:
http://www.scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/weltuntergang-2012-fragen-und-antworten.php
Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799), den ich sehr schätze, hat zur Wahrsagerei geschrieben:
„Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben, aber nicht vom Wahrheit sagen.“
Wobei er aber wohl nicht eine absolute, zweifelsfreie Wahrheit gemeint hat, schreibt er doch auch:
„Wir irren allesamt, nur irret jeder anders.“
Faktenferne Konstrukte in der Politik
Richtig beunruhigend finde ich aber, dass vergleichbare Phänomene auch auf der politischen Ebene zu beobachten sind. Bei Silvio Berlusconi beispielsweise – einem „exzellenten“ Verschwörungstheoretiker – liess sich sehr gut beobachten, dass seine Fantasien über hintergründige feindliche Einflüsse immer verstiegener wurden, je mehr er in Bedrängnis kam.
Konstruierte Zusammenhänge, die kollektive Bedeutung erlangten, waren aber auch zentral beteiligt am Hexenwahn (rund um den „Schadenzauber“) und im Sündenbocksystem der Nationalsozialisten (die Juden als Ursache für alles Übel). Wenn ich sehe, wie leicht und massenhaft Menschen auf diese Mayakalender-Weltuntergangs-Prophezeiung abfahren – ein leeres Konstrukt ohne Faktenbasis – dann scheint mir das vor allem aus gesellschaftspolitischer Sicht bedenklich..
Für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaftsform ist es unabdingbar, dass Bürgerinnen und Bürger den Willen und die Fähigkeit haben, angebotene Konstrukte auf ihren Faktengehalt hin abzuklopfen.
Die Überschwemmung mit esoterischen Konstrukten – wie beispielsweise dieser Mayakalender-Weltuntergangs-Prophezeiung – unterminiert meines Erachtens diese Fähigkeit und ist darum gesellschaftspolitisch schädlich.
Faktenferne oder faktenwidrige Konstrukte in der Komplementärmedizin
Faktenferne oder faktenwidrige Konstrukte spielen auch in der Komplementärmedizin eine grosse Rolle und werden vom Markt bestens aufgenommen. Faktenfreiheit ist dafür vielleicht sogar vorteilhaft. Ein gewisser Realitätsgehalt könnte auch dazu betragen, dass Konstrukte an der Erfahrung scheitern.
Dazu zwei Beispiele:
Borreliose-Behandlung mit Kardentinktur
Borreliose ist eine schwierig zu diagnostizierende und – jedenfalls in späteren Stadien – schwer behandelbare Krankheit. Bei den späten Stadien der Borreliose kommt die Medizin an Grenzen (sie kommt immer wieder an Grenzen, weil selbstverständlich nicht alles machbar ist).
Jedenfalls kann Medizin in solchen Fällen meist keine Heilung versprechen, sondern allenfalls die Beschwerden lindern.
Wo die ganze Wissenschaft und Medizin weltweit an Grenzen stösst, weiss ein Buchautor die Lösung: Kardentinktur heilt Borreliose. Antibiotika sind unnötig und unwirksam. Unzählige Borreliosepatienten setzen ihre Hoffnung (vergeblich) auf Kardentinktur.
Endlich frei von „Schulmedizin“. Kultstatus für Wolf-Dieter Storl als Entdecker dieser natürlichen Behandlung. Schöne Umsätze für den AT-Buchverlag, der keine Skrupel hat, solche fahrlässigen Heilungsversprechungen zu vermarkten.
Wolf-Dieter Storl beschreibt, dass er vor vielen Jahren eine Wanderröte hatte (d. h.: er hatte offenbar Kontakt mit Borreliose-Erregern), sich mit Kardetinktur behandelte und immer noch gesund ist. Was Wolf-Dieter Storl verschweigt: Bei der grossen Mehrheit der Menschen, die Kontakt mit Borrelien haben, entwickelt sich auch ohne Behandlung keine Borreliose. Die Chance ist ausgesprochen gross, dass Storl zu dieser glücklichen Gruppe gehört. Nur eine kleine Minderheit erkrankt an Borreliose, sofern nicht im Frühstadium mit Antibiotika behandelt wird. Für diese kleine Minderheit ist die Antibiotika-Behandlung aber wichtig und die Behandlung mit Kardentinktur anstelle von Antibiotika fatal. Verpasst man nämlich die Antibiotika-Behandlung im Frühstadium, und die Krankheit entwickelt sich weiter, lassen sich die Borreliose-Erreger nur noch schwer oder gar nicht mehr durch Antibiotika bekämpfen.
Die ganze Geschichte mit der Borreliosetherapie durch Kardentinktur basiert offensichtlich auf einer Fehlinterpretation der Storl’schen „Eigenheilung“ (ein Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss, siehe unten) und auf wunschbasiertem Denken.
Es handelt sich um ein faktenfernes Konstrukt mit hohem Risiko, wenn sich Menschen mit Wanderröte einzig darauf verlassen.
Mehr Details dazu hier:
Karde & Borreliosetherapie nach Storl
Miracle Mineral Supplement (MMS)
Ein Oxidations- und Reinigungsmittel, das in manchen Gegenden auch zur Trinkwasserchlorierung verwendet wir, soll gegen Malaria, Tuberkulose, Diabetes, Krebs, AIDS und vieles andere mehr helfen. Interessant ist hier, dass MMS auch gerne verwendet wird von Menschen, die aus Überzeugung Antioxidantien („Radikalfänger“) schlucken gegen freie Radikale. MMS entwickelt aber freie Radikale (Chlordioxid).
Auch hier haben wir es meines Erachtens mit einem faktenfreien Konstrukt zu tun.
Siehe auch:
Warnung: Miracle Mineral Supplement (MMS)
Faktenferne Konstrukte wie die Borreliose-Kardentinktur-Story und das Miracle Mineral Supplement werden jeweils gestützt durch zahlreiche Heilungsanekdoten. Dabei wird aber der Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss nicht beachtet.
Siehe dazu:
Komplementärmedizin: Der Post-hoc-ergo-procter-hoc-Fehlschluss
Komplementärmedizin: Wer heilt hat Recht?
Warum wir gesund werden
Jede Besserung wird also vorschnell und ungeprüft dem angewandten Mittel zugeschrieben. Placeboeffekt, Selbstheilung, temporäre Besserung im Verlauf chronischer Krankheit und andere mögliche Einflüsse werden ausgeblendet.
Es gibt einen ziemlich egozentrischen „Erfahrungsfundamentalismus“, der die eigene Erfahrung als Massstab unbezweifelbarer Wahrheit betrachtet. Dass die Interpretation der eigenen Erfahrung sehr komplex und mit vielfältigen Selbsttäuschungsmöglichkeiten behaftet ist, geht dabei völlig unter.
Wer um diese Selbsttäuschungsmöglichkeiten weiss wird bescheidener, setzt seine eigenen Erfahrung nicht mehr absolut und wird auch im Bereich Komplementärmedizin genau hinzuschauen und Heilungsversprechungen kritisch hinterfragen.
Und zu guter letzt:
Sollten dereinst Argumente auftauchen, die für eine Wirksamkeit von Kardentinktur bei Borreliose oder von Miracle Mineral Supplement sprechen (äusserst unwahrscheinlich, aber aus grundsätzlichen Überlegungen nicht mit letzter Gewissheit auszuschliessen), werde ich sie genau prüfen und nötigenfalls meine Ansichten modifizieren. Aber mit grossspurigen Geschichten allein kann man mich nicht überzeugen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
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