Die Sendung „Reflexe“ auf Radio DRS 2 brachte einen Beitrag über Jean Améry zu dessen 100. Geburtstag am 31. Oktober 2012.
Der österreichische Schriftsteller Jean Améry (1912-1978) war ein blendender Stilist und ein kritischer Analytiker der Zeitläufe.
Jean Améry war von der französischen Aufklärung und vom Existenzialismus Jean-Paul Sartres geprägt, ein wacher, sensibler und nervöser Geist, der über Michel Foucault und den Strukturalismus ebenso glänzend zu schreiben vermochte wie über seine Erfahrungen als KZ-Häftling in Auschwitz und die moralischen Aspekte des Freitods.
Sehr eindrücklich ist seine Auseinandersetzung mit dem Thema Folter aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in den Händen der SS, auf die auch der Radiobeitrag eingeht.
Die Sendung können Sie hier nachhören:
http://pod.drs.ch/mp3/reflexe/reflexe_201210301205_10246135.mp3
Nicht so bekannt ist, dass Jean Améry sich auch mit dem Thema Altern und Krankheit auseinandergesetzt hat:
„Wohl ist wahr, dass wir auch als alternde Menschen erkranken und danach wieder im Sinne der medizinischen Wissenschaft ‚gesund’ werden. Doch finden wir uns im Altern nach der Wiederherstellung stets auf einem tiefer gelegenen Punkt der Spirale des Organischen wieder: wir sind niemals so heil wie wir das vorher gewesen waren, wie zufriedenstellend die Auskunft des Arztes auch lauten möge. Heute sind wir etwas weniger gesund als wir es gestern waren und um eine Abschattung gesünder als wie es morgen sein werden. Es ist das Altern eine unheilbare Krankheit, und weil es ein Leiden ist, unterliegt es den gleichen phänomenalen Gesetzen wie irgendeine akute Beschwernis, die uns in einem beliebigen Lebensstadium befallen mag. Es stellt darum das Altern auch das gleiche, Vertrautheit und Verfremdung umfangende Verhältnis zu unserem Körper her wie eine spezifische Unpässlichkeit, da es doch, indem es uns Krankheiten in steigender Anzahl und von wachsender Zerstörungskraft zubringt, als ganzes und auch in seinen Phasen relativen physischen Wohlseins jenen Charakter der Mühsal hat, der jede leichtere und schwerere Erkrankung kennzeichnet. Im Altern, das die Bereitschaft zur Revolte noch erlaubt, während das schon erreichte Alter durch Resignation herabgesetzt ist, sind wir uns unseres Befindens bewusst.
Nun ja doch: es ist eine nicht sehr kostspielige Wahrheit, dass Befinden allgemein stets nur im Missbefinden spürbar wird. Wer da sagt: ‚Ich fühle mich gut’, dem ist natürlich schon nicht mehr ganz wohl in seiner Haut, so wie der Mann, der von sich behauptet, dass er sich jung fühle, nie ein wirklich junger Mann sein kann. Wer sich ‚fühlt’, gut oder schlecht, mit dem steht es nicht so ausgezeichnet, denn solange er tatsächlich im Vollbesitz seiner Kräfte ist, in der Gewissheit gesunder Körperlichkeit lebt, ‚fühlt’ er sich nicht. Er ist nicht bei sich – sondern, wie wir das nachlesen können bei einem grossen deutschen Arzt und Anthropologen, ‚dort’: bei den Dingen und Geschehnissen der Welt, er ist, wie wir auf eigene Faust hinzufügen, ausser sich, im Raum, der zu ihm gehört und ihm gehört, der untrennbar mit seinem Ich verwachsen ist.“
(aus: Über das Altern – Revolte und Resignation, Klett Verlag Stuttgart 1971)
Dass Heilung keine Rückkehr zum vorherigen Zustand sei, schreibt – unabhängig vom Altern – auch der französische Arzt und Philosoph Georges Canguilhem (1904 – 1995):
„Die Gesundheit nach der Krankheit ist nicht die frühere Gesundheit. Das klare Bewusstsein der Tatsache, dass heilen nicht heisst, zurückzukehren, hilft dem Kranken in seiner Suche nach einem Zustand geringstmöglichen Verzichts, indem sie ihn von der Fixierung auf den früheren Zustand befreit.“
(in: Gesundheit – eine Frage der Philosophie; Merve Verlag Berlin 2004)
Der Text von Jean Améry mag ja manchem und mancher einen bitteren und pessimistischen Eindruck hinterlassen, wird doch Altern darin als Abstieg geschildert. Es lohnt sich aber, sich damit auseinanderzusetzen, unter anderem weil er einen Kontrast bildet zum gegenwärtig herrschenden Zeitgeist. Heute gehört zum Ideal des Alterns, dass es beschwerdefrei, gesund und fit geschehen soll. In diesem Gesundheitsideal gehören Beschwerden und Krankheiten nicht zum normalen Leben – sie sind unakzeptable Störungen und Abweichungen vom gesunden Normalzustand. Dieses Ideal ist vielleicht nicht so gesund.
Um diesem Ideal näherzukommen, schlucken wir viele Medikamente, Nahrungsergänzungen von Burgerstein, Ginseng-Kapseln, Similasan-Globuli, Schüssler-Salze und, und, und.
Ich glaube, dass wir stattdessen mehr über unsere Gesundheitsvorstellungen diskutieren und nachdenken sollten. Das würde auch unseren Umgang mit chronischen Krankheiten verändern.
Ein dialogische Angebot für solche Auseinandersetzungen sind die Eidberger Gedankengänge – vor allem (aber nicht nur) für Menschen mit chronischen Krankheiten und/oder chronischen Schmerzen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch