Nach ihrer ersten Publikation im November 2009 wurde nun in der S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression wiederum die Empfehlung bestätigt, Johanniskraut-Präparate für die Neueinstellung von Patienten mit leichter oder mittelschwerer Depression einzusetzen. Im 5. Update vom Juni 2015 bestätigt das aus beinahe 30 Fachgesellschaften Deutschlands bestehende Expertengremium sein positives Fazit für das pflanzliche Antidepressivum.
Dass Johanniskraut-Präparate damit in eine Reihe mit synthetischen Antidepressiva gestellt werden, verdanken sie ihrer klinisch belegten Wirksamkeit und guten Verträglichkeit, die als wichtigste Kriterien bei der Auswahl eines Präparates gelten. Bedingung für die S3-Empfehlung ist allerdings, dass ausschließlich Johanniskraut-Extrakte „zur Therapie einer leichten und mittelgradigen depressiven Symptomatik eingesetzt werden, für die eine klinische Wirksamkeit durch eigene Studien belegt ist“.
Quelle:
http://www.journalmed.de/newsview.php?id=46428
Kommentar & Ergänzung:
Im folgenden Zitate aus der erwähnten Leitlinie mit kurzen Kommentaren von mir (gekennzeichnet mit M.K.).
Seite 34:
Zitat Leitlinie: „Wenn bei leichten oder mittelgradigen depressiven Episoden eine Pharmakotherapie erwogen wird, kann bei Beachtung der spezifischen Nebenwirkungen und Interaktionen ein erster Therapieversuch auch mit Johanniskraut unternommen werden.
Patienten, die Johanniskraut einnehmen, sollten über die unterschiedliche Wirkstärke der verfügbaren Zubereitungen und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten informiert werden. Sie sollten ebenfalls aufgeklärt werden über mögliche schwere Wechselwirkungen von Johanniskraut mit anderen Medikamenten (einschließlich oraler Kontrazeptiva, Antikoagulantien und Antiepileptika).“
M.K.: Ja, es ist sehr zentral sich klar zu machen, dass die verfügbaren Johanniskraut-Zubereitungen sich sehr in der Wirkstärke unterscheiden. Johanniskrauttee, Johanniskrauttinktur, Johanniskraut-Extrakt sind nicht identische Anwendungen.
Und ja, die Information über Wechselwirkungen ist wichtig, und zwar nicht nur von Arzt zu Patient, sondern auch umgekehrt: Wer Johanniskraut-Präparate auf eigene Faust einnimmt, soll seinen Arzt, seine Ärztin darüber informieren, wenn andere Medikamente verschrieben werden, damit allfällige Wechselwirkungen erkannt werden können.
Seite 96:
Zitat Leitlinie: „Bei der Behandlung depressiver Störungen mit Phytopharmaka spielen nur Johanniskrautextrakte (Hypericum perforatum) aufgrund ihrer häufigen Verordnung in Deutschland eine Rolle. Sie werden häufig wegen ihrer vermeintlich geringeren Nebenwirkungen für die Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen eingesetzt.“
M.K.: Die Formulierung der „vermeintlich“ geringeren Nebenwirkungen von Johanniskraut scheint mir nicht angemessen. Die Nebenwirkungen der synthetischen Antidepressiva variieren je nach Stoffklasse, doch zeigen Johanniskraut-Präparate vergleichsweise ein sehr günstiges Nebenwirkungsprofil. Die geringeren Nebenwirkungen sind nicht „vermeintlich“.
Zitat Leitlinie: „Die Wirksamkeit von Johanniskraut in der Therapie der Depression ist allerdings umstritten. Es gibt sowohl klinische Studien, die eine Wirksamkeit belegen, als auch solche, die keine Überlegenheit gegenüber Placebo zeigen. Eine neue Metaanalyse kommt zum Ergebnis, dass Johanniskrautextrakte bei der Behandlung von leichter und mittelgradiger depressiver Symptomatik wirksam sind. Für schwere oder chronisch verlaufende Depressionen sind keine Effekte belegt.“
M.K.: Leider sind die Unterschiede zu Placebo bei den qualitativ guten Studien grösser und bei den Studien besserer Qualität kleiner. Dieses Phänomen gibt es allerdings nicht nur bei Johanniskraut-Studien, sondern bei vielen Medikamentenstudien.Je besser die Qualität der Studie, desto geringer der Nutzen des untersuchten Präparats.
Bei den qualitativ guten Studien wirkt Johanniskraut nur wenig besser als Placebo. Das lässt sich aber auch von synthetischen Antidepressiva sagen, zum Beispiel bei SSRI:
„So ist bei leichtgradigen Depressionen häufig keine statistisch nachweisbare Überlegenheit gegenüber der Gabe von Scheinmedikamenten (Placebo) festzustellen.“
Quelle: Wikipedia
Auf diesem Hintergrund spricht das bessere Nebenwirkungsprofil oft für Johaniskraut.
Zitat Leitlinie: „Hauptproblem ist, dass für diese pflanzlichen Präparationen erhebliche Standardisierungsprobleme mit stark schwankenden Dosen der möglicherweise bioaktiven Substanzen (u. a. Hyperforin und Hypericin) bestehen. So ist nicht hinreichend bekannt, welche Konstituenten des Johanniskrautextrakts bei welchen Konzentrationen über welchen Wirkungsmechanismus für die antidepressive Wirkung verantwortlich sind. Daher sollten nur Präparate zur Therapie einer leichten und mittelgradigen depressiven Symptomatik eingesetzt werden, für die eine klinische Wirksamkeit durch eigene Studien belegt ist.“
M.K.: Ja, über den Anteil einzelner Inhaltsstoffe an der Johanniskraut-Wirkung ist wenig Gesichertes bekannt. Daher gilt der Gesamtextrakt als Wirkstoff. Und ja, es gibt bei Naturprodukten naturgemäss Schwankungen. Die guten Hersteller grenzen diese Schwankungen aber durch Standardisierung auf eine Leitsubstanz ein. Von erheblichen Standardisierungsproblemen zu sprechen ist meines Erachtens überzogen und ziemlich theoretisch. Belege, dass dadurch reale Probleme entstehen, sind mir jedenfalls nicht bekannt.
Einverstanden: Für jedes Johanniskraut-Präparat muss die klinische Wirksamkeit separat belegt werden und Präparate, die diese Belege liefern, sind vorzuziehen, wenn es um die Behandlung einer depressiven Symptomatik geht. Allerdings kommen dann nur patentierte Johanniskraut-Extrakte in Frage, weil nur für diese Zubereitungsart klinische Studien vorliegen. Für Johanniskrauttinktur fehlen relevante Studien und ihr Wirkstoffgehalt dürfte weit unter dem nötigen Niveau liegen. Für Johanniskrauttee gibt es ebenfalls keine Studien, doch kann ich mir hier vorstellen, dass eine relevante Wirkstoffzufuhr möglich ist.
Zitat Leitlinie: „Unerwünschte Wirkungen…..: Johanniskrautpräparate haben sich in den publizierten Studien als sehr gut verträglich erwiesen, obwohl die Ergebnisse der meist kleinen Studien für seltenere und evtl. auch schwerere Neben- oder Wechselwirkungen nur von sehr limitierter Aussagekraft sind. Zur oft erwähnten Phototoxizität existieren nur vereinzelte Berichte. Von gesicherter klinischer Relevanz ist jedoch, dass Johanniskraut als Induktor von Isoenzymen des Cytochroms P450 zur Wirkungsbeeinträchtigung (inkl. oraler Kontrazeption) und ggf. bei Absetzen zur erhöhten Toxizität zahlreicher Wirkstoffe mit geringer therapeutischer Breite, wie z.B. Ciclosporin, Tacrolimus, Digoxin, Theophyllin, Antidepressiva (Amitriptylin, Nortriptylin), Antikoagulantien, Antikonvulsiva und mehreren HIV-wirksamen Medikamenten, führen kann.“
M.K.: Die verstärkte Lichtempfindlichkeit (Phototoxizität) unter Johanniskraut-Einnahme ist tatsächlich nur schwach belegt. Dieser Aspekt sollte nicht dramatisiert, aber auch nicht völlig negiert werden. Während der Johanniskraut-Einnahme ist starke Sonnenbestrahlung zu meiden (wie sonst auch). Die beschriebenen Wechselwirkungen sind dagegen viel klarer relevant. Johanniskraut aktiviert in der Leber gewisse Enzyme, die bestimmte Fremdstoffe abbauen. Dadurch sinken die Blutspiegel mancher Medikamente und ihre Wirkung kann sich verringern.
Zitat Leitlinie: „Wegen der Unsicherheiten über die richtige Dosierung, der variablen Zusammensetzung der Extrakte und insbesondere der möglichen schweren Wechselwirkungen mit anderen verschriebenen Medikamenten wird Johanniskraut nicht als chemischen Antidepressiva überlegen angesehen. Da die Präparate aber von manchen Patienten als ‚natürliches Produkt’ eher akzeptiert werden als chemisch definierte Antidepressiva, kann einer solchen Patientenpräferenz bei leichten bis mittelschweren Depressionen als erster Behandlungsversuch gefolgt werden. Es ist wichtig, Patienten, die Johanniskraut einnehmen möchten, über die unterschiedliche Wirkstärke der verfügbaren Zubereitungen und die sich daraus ergebenden Unsicherheiten der Dosierung zu informieren. Außerdem ist eine Aufklärung über mögliche schwere Wechselwirkungen von Johanniskraut mit anderen Medikamenten (einschließlich oraler Kontrazeptiva, Antikoagulantien und Antiepileptika) notwendig, ebenso eine ärztliche Betreuung von Patienten, die Johanniskraut einnehmen.“
M.K.: Es kommt nicht darauf an, ob Johanniskraut-Präparate synthetischen Antidepressiva überlegen sind oder nicht. Johanniskraut ist in manchen Situationen einfach eine gute Option (und in manchen nicht).
Mir fehlt in dieser Leitlinie der Hinweis, dass Johanniskraut-Präparate erst nach etwa 14 Tagen ihre Wirksamkeit entfalten. Diese Information ist wichtig für Patientinnen und Patienten.
Quelle der Zitate:
http://www.leitlinien.de/mdb/downloads/nvl/depression/depression-1aufl-vers5-lang.pdf
In den Zitaten fehlen die im Original aufgeführten Literaturangaben.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterwanderungen in den Bergen / Kräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege
Schmerzen? Chronische Erkrankungen?