Kürzlich wurde ich gefragt, ob es stimme, dass man mit Schachtelhalm die Lymphe reinigen könne. Auf meine Gegenfrage, woher sie diese Idee habe, sagte die Person nur, sie habe das so in ihrer Naturheilpraktiker-Ausbildung gelernt.
In der Phytotherapie-Fachliteratur, die sich auf Studien und dokumentierte Erfahrungen stützt taucht bei Schachtelhalm nirgends eine Wirksamkeit zur Reinigung der Lymphe auf. Im Internet findet man diese Angabe aber nicht selten, allerdings immer ohne nähere Erklärung dazu, wie dieser Effekt zustande kommen soll – und ohne eine auch nur einigermassen plausible Begründung.
Um die Glaubwürdigkeit einer solchen Behauptung beurteilen zu können, müsste ich den Weg wissen, wie sie zustande gekommen ist. Wer hat eine solche Wirkung von Schachtelhalm auf die Lymphe festgestellt? Mit welchen Methoden? Wie soll die Wirkung zustande kommen? Von welchen Schadstoffen soll der Schachtelhalm die Lymphe reinigen? Welche Wirkstoffe sollen an dieser Wirkung beteiligt sein?
Mit solchen Fragen läuft man beim Thema „Lymphe reinigen mit Schachtelhalm“ völlig ins Leere.
Die Phytotherapie-Fachliteratur schreibt dem Schachtelhalm eine leicht harntreibende Wirkung zu (genauer: Die Ausscheidung von Wasser steigt). Darüber hinaus ist ein hoher Gehalt an Kieselsäure für den Schachtelhalm charakteristisch. Der Kieselsäure wird eine stärkende Wirkung auf Bindegewebe zugeschrieben, was aber fraglich ist. Überzeugende Argumente dafür fehlen jedenfalls. Eine Reinigung der Lymphe lässt sich damit nicht begründen.
Das ist zusammengefasst ziemlich unspektakulär und bescheiden. Da tönt es schon viel bedeutender, wenn gesagt wird, dass Schachtelhalm die Lymphe reinigt.
Aber darf man einfach ungeprüft etwas erzählen, nur damit Bedeutsamkeit erreicht wird? Darf eine Heilpflanze nicht auch unspektakulär und bescheiden daher kommen? Muss alles super toll sein?
Interessant sind die Schachtelhalme durch ihre wichtige Rolle in der Entwicklung der Pflanzenwelt. Sie schafften es zusammen mit Farnen und Bärlappgewächsen, in grossem Stil die Landmassen der Erde zu besiedeln und damit der Pflanzenwelt den Sprung vom Meer aufs Land zu ermöglichen. Vor etwa 300 Millionen Jahren in der „Karbon-Zeit“ gab es Schachtelhalme und Farne mit 30 Metern Höhe und 1 m Stammdurchmesser. Aus den Überresten dieser Wälder entstanden Steinkohlelager (Daher: Karbon-Zeit). Wie die Farne und die Bärlappe bilden die Schachtelhalme keine Blüten und Samen, was auf ihr hohes entwicklungsgeschichtliches Alter hinweist. Erst die später folgenden Nadelhölzer entwickelten Blüten & Samen.
Der Kieselsäuregehalt der Schachtelhalme hat zur Folge, dass man sie als milde Scheuermittel verwenden kann, zum Beispiel zur Reinigung von Pfannen – daher kommt der Volksname Zinnkraut für den Schachtelhalm.
Als Heilpflanzen wir übrigens nur der Acker-Schachtelhalm (Equisetum arvense) verwendet.
An feuchteren Stellen trifft man den Sumpf-Schachtelhalm an (= Equisetum palustris), der für Weidevieh giftig ist. Wikipedia schreibt dazu:
„Der Sumpf-Schachtelhalm ist aufgrund seiner Inhaltsstoffe für Weidevieh giftig. Für die Giftwirkung sind hauptsächlich zwei Stoffe verantwortlich: Erstens eine Thiaminase, die das Vitamin B1 zerstört und vor allem auf Pferde giftig wirkt und ein Taumeln der Tiere auslöst. Zweitens das Piperidin-Alkaloid Palustrin (0,01–0,3 %), das auch im Heu über Jahre hinweg erhalten bleibt und das bei Rindern zur Abnahme des Milchertrags und zu Lähmungserscheinungen führt.
Beim Menschen sind keine Vergiftungen bekannt; trotzdem sollte der Sumpf-Schachtelhalm nicht in Tee-Mischungen enthalten sein.“
Hübsch anzusehen ist der Riesen-Schachtelhalm (Equisetum maximum, Equisetum telmateia). Mit einer Grösse von bis zu 150 cm ist er die grösste in Mitteleuropa heimische Schachtelhalm-Art.
P.S. Wenn Sie diese Schachtelhalmarten unterscheiden lernen wollen, dann zeige ich Ihnen die Erkennungsmerkmale gerne auf einer Kräuterwanderung.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz