Das „Weidenröschen“ wird in der Pflanzenheilkunde empfohlen als Mittel gegen die Beschwerden bei gutartiger Prostatavergrösserung (benigne Prostatahyperplasie, BPH), wobei in Apotheken und Drogerien oft ausdrücklich das „Kleinblütige Weidenröschen“ (Epilobium parviflorum) verlangt wird.
Mag. pharm. Dr. Siegrun Gerlach hat in der Zeitschrift „PHYTO Therapie“ (2/2016) der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie interessante Informationen dazu publiziert, von denen ich hier einige weitergeben möchte, ergänzt mit eigenen Bemerkungen.
Das Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) der Europäischen Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency – EMA) hat im November 2015 die Monographie „Epilobium angustifolium L. und/ oder Epilobium parviforum Schreb., herba“ veröffentlicht.
Die Publikation einer Monographie bedeutet die Anerkennung als traditionell verwendete Heilpflanze und damit die Möglichkeit einer Registrierung als traditionelles pflanzliches Arzneimittel in der EU (traditionelle pflanzliche Arzneimittel sind vom Wirkungsnachweis befreit).
Die Empfehlung von gezielt kleinblütigen Arten ist auf die österreichische Kräuterbuchautorin Maria Treben zurück zu führen, die allerdings bei der Bestimmung der Weidenröschenarten nicht sehr genau war. So ist nicht klar, ob sie wirklich die botanische Art „Kleinblütiges Weidenröschen“ (Epilobium parviflorum) empfehlen wollte oder einfach alle kleinblütigen Weidenröschenarten.
Eine Diplomarbeit an der Universität Wien (Lachinger 2004) konnte in der Zwischenzeit aufzeigen, dass die Inhaltsstoffe und deren Konzentration der in Österreich vorkommenden Weidenröschenarten vergleichbar sind.
Die von Maria Treben getroffene Unterscheidung der „kleinblütigen“ Weidenröschenarten als wirksam und der „großblütigen“ als unwirksam lässt sich nach diesen Resultaten nicht nachvollziehen.
Auf der Suche nach wirksamen Inhaltsstoffen der Weidenröschen glaubte man in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei den Flavonoiden fündig geworden zu sein. Das sind in Epilobium parviflorum und verwandten Weidenröschenarten:
Quercetin, Myricetin und Kämpferol, sowie die entsprechenden Glykoside, in Mengen von 1 – 2 Prozent. Als Prostaglandinsynthese-Hemmer können diese Inhaltsstoffe potenziell entzündungshemmend wirken.
Das Institut für Pharmakognosie der Universität Graz beschäftigte sich ausgiebig mit der Flavonoidfraktion aus Weidenröschenarten. Hiermann et al. stellten im Labor fest, dass Myricetin-3-O-glucuronid aus Epilobium bis zu 500mal stärker entzündungswidrig wirkt als der synthetische Wirkstoff Indomethacin.
Als weitere Inhaltsstoffe wurden in Weidenröschen bis zu 0,55 Prozent Phytosterole (β-Sitosterol, Sitosterolglucoside und Sitosterolester) gefunden. Diese Stoffgruppe gilt als wirksamkeitsmitbestimmend bei der Anwendung von Kürbissamen, Sägepalmenfrüchten und Brennnesselwurzel bei der gutartigen Prostatavergrösserung, was eine Anwendung von Weidenröschen bei der gleichen Indikation plausibel erscheinen lässt.
Einige Jahre später wurde dann die erste Arbeit publiziert, in der Oenothein A und B als Wirkstoffe vorgestellt wurden (Lesuisse et al., 1996).
Diese Gallussäurederivate (hydrolysierbare Tannine), strukturell in die Gruppe der Gerbstoffe einzuordnen, lassen sich in Mengen von 4 – 14 Prozent in Epilobium finden. In der Studie wurden verschiedene Inhaltsstoff-Fraktionen aus Weidenröschen hinsichtlich ihrer 5α-Reductase- Hemmwirkung getestet, wobei sich Oenotheine als die wirksamsten Substanzen erwiesen. 5α-Reductase- Hemmer sind etablierte Medikamente bei gutartiger Prostatavergrösserung (z.B. Finasterid, das aber beträchtliche Nebenwirkungen haben kann).
Oenotheine wurden weiter im Labor (=in vitro) untersucht. Dabei zeigte sich, dass sie nicht nur 5α-Reductase-Hemmstoffe sind, sondern in vitro auch Aromatase-Hemmstoffe.
Die Kombination der Prostaglandinsynthese-Hemmung durch Flavonoide mit der 5α-Reductase- und Aromatase-Hemmung durch Oenotheine macht den Einsatz von Weidenröschen bei benigner Prostatahyperplasie plausibel.
Die Autorin Siegrun Gerlach geht in ihrem Beitrag abschliessend noch auf Hürden für eine zukünftige Vermarktung von Weidenröschen ein:
„1. Ist nur die Anwendung als Tee traditionell belegt. „Weidenröschenextrakt“ als Basis einer galenischen Zubereitung würde, vielen europäischen Zulassungsbehörden zufolge, eine Vollzulassung mit klinischen Studien bedeuten und somit (weil teuer) unrentabel wer- den. Und 2.: Ob der Name „Weidenröschen“ sich gut als Männerarznei vermarkten ließe, wurde schon angezweifelt.“
Neben Kürbissamen, Sägepalmenfrüchten und Brennnesselwurzel stellt die Anwendung von Weidenröschenkraut nach Ansicht der Autorin eine interessante Option bei der Behandlung der BPH dar und bereichert den pflanzlichen Arzneischatz.
Quelle:
PHYTO Therapie 2|16
http://www.phytotherapie.co.at/pdf/PT0216.pdf
Kommentar & Ergänzung:
Am interessantesten ist für mich die Bestätigung, dass die Inhaltsstoffe der verschiedenen Weidenröschenarten sich nicht wesentlich unterscheiden. Damit ist es plausibel, dass auch das Schmalblättrige Weidenröschen (Epilobium angustifolium) verwendet werden kann, wenn Weidenröschentee gewünscht wird. Das Schmalblättrige Weidenröschen ist zudem häufiger und eindeutiger zu bestimmen als das Kleinblütige Weidenröschen (Epilobium parviflorum).
Zum Schmalblütigen Weidenröschen beschreibt Siegrun Gerlach im übrigen eine interessante Anwendung als Tee in östlichen Ländern:
„Die frischen oder getrockneten Blätter des Schmalblättrigen Weidenröschens (Epilobium angustifolium) wer- den besonders in östlichen Ländern zur Bereitung eines wohlschmeckenden Tees verwendet (Koptischer Tee, Ivans Tee, Kapor Tee), der u. a. auch zur Behandlung von gastrointestinalen Beschwerden empfohlen wird.“
Bezüglich der Wirksamkeit von Weidenröschentee bei gutartigen Prostatabeschwerden überzeugt mich der Artikel allerdings nicht.
Maria Treben ist keine verlässliche Empfehlerin. Ihre Bücher sind voll von falschen, unsinnigen und gefährlichen Angaben.
Und die Resultate der Laboruntersuchungen zu den Inhaltsstoffen sind zwar interessant, sagen aber wenig Handfestes aus. Schön, wenn Flavonoide in vitro (= im Reagenzglas) entzündungswidrig wirken. Aber werden sie bei peroraler Anwendung auch in relevanter Menge aufgenommen in den Körper und erreichen sie in der Prostata wirklich eine Konzentration, die Entzündungen hemmt?
Desgleichen bei den Oenotheinen als 5α-Reductase-Hemmstoffe und Aromatase-Hemmstoffe – im Labor. Und wenn Oenotheine strukturell zu den Gerbstoffen gerechnet werden, dann ist es wohl nicht unwesentlich, dass Gerbstoffe im Allgemeinen kaum resorbiert werden.
Zum Gehalt an Phytosterolen in den Weidenröschen ist anzumerken, dass er mit bis zu 0,55% verhältnismässig gering ist (Kürbissamen: etwa 1 %). Laut klinischen Studien braucht es als Initialtherapie bei BPH 60mg Phytosterol pro Tag und für Langzeittherapie 30 mg pro Tag. Rechnet man mit diesen bis zu 0,55 Prozent, hat es 60 mg Phytosterole in rund 11 g Weidenröschenkraut und 30 mg in rund 5,5 g.
Die Monografie des Monografie des HMPC gibt als Tagesdosis an: 1,5 – 2,0 g Weidenröschenkraut / 250 ml Wasser als Aufguss, 2 x täglich, 1 Teelöffel entspricht rund 0,8 g.
Damit kommt man nicht ganz auf die 5,5 g Weidenröschenkraut, in denen die für Langzeittherapie nötigen 30 mg Phytosterole grundsätzlich vorhanden sein sollten. Aber: Phytosterole sind kaum wasserlöslich. Sie werden nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil ins Teewasser übergehen. Daher ist es fragwürdig, bei einer Heilpflanze, die als Kräutertee angewendet wird, mit Phytosterolen zu argumentieren.
Dazu kommt noch: Bei normaler, westeuropäischer Ernährung werden täglich 160–360 mg an Phytosterolen aufgenommen. Ob da eine zusätzliche Gabe von 30 mg noch einen Einfluss ausübt, kann als fraglich angesehen werden.
Fazit: Über die Wirksamkeit von Weidenröschentee gegen gutartige Prostatavergrösserung lässt sich so gut wie nichts Sicheres aussagen. Entscheidend wäre die Bestätigung der Wirksamkeit in klinischen Studien mit BPH-Patienten. Solche Studien gibt es aber nicht. Und leider – Siegrun Gerlach spricht das in ihrem Text an – wird es sie auch wohl kaum je geben. Für nicht patentierbare Arzneimittel wie Weidenröschentee und Weidenröschenextrakt lohnt es sich für keine Firma, mit der grossen Kelle in Forschung zu investieren.
Aber das ist natürlich ein Fazit, das kaum jemand hören will.
Dass Männer den Weidenröschentee aufgrund des Namens ablehnen, kann ich mir nicht recht vorstellen. Nicht ganz einfach dürfte es dagegen sein, ältere Männer dafür zu motivieren, 2 – 3 mal täglich eine Tasse Kräutertee zu trinken – und das über 6 bis 12 Monate. Die Studien mit pflanzlichen Prostatamitteln haben nämlich gezeigt: Falls sich eine Wirksamkeit besser als Placebo feststellen lässt, zeigt sich der Unterschied erst nach 6 bis 12 Monaten.
Ich selber würde bei Prostatabeschwerden wohl am ehesten Kürbissamen einnehmen, weil sie neben einer möglichen Linderung auch ein gesunder Bestandteil für die Ernährung sind. Als pflanzliches Arzneimittel würde ich ein Kombipräparat mit Brennesselwurzel & Sabalfrüchten (Prostagutt) in Betracht ziehen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
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