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Ist von offener oder geschlossener Gesellschaft die Rede, so kann das im heutigen politischen Kontext auch verstanden werden im Sinne von offenen oder geschlossenen Grenzen. So ist es in diesem Beitrag aber nicht gemeint.
Hier geht es um die „Offene Gesellschaft“, wie sie vom österreichischen Philosophen Karl Popper (1902 – 1994) beschrieben wurde.
Popper hat – beeindruckt von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs – sein Konzept einer offenen Gesellschaft entwickelt, das er den geschlossenen Gesellschaften der totalitären Mächte des Nationalsozialismus und des Stalinismus entgegensetzte.
Dieses Thema gewinnt seit einigen Jahren wieder an Bedeutung, weil die offenen Gesellschaftsordnungen zunehmend durch aufkommende autoritäre bis totalitäre Tendenzen gefährdet sind.
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Inhaltsverzeichnis
1. Poppers Werk „Die offene Gesellschaft und Ihre Feinde“.
2. Gegenüberstellung der Merkmale offener und geschlossener Gesellschaften.
3. Offene versus geschlossene Gesellschaftsmodelle.
4. Einige wesentliche Merkmale offener Gesellschaften.
5. Demokratie und Gesellschaft (Popper-Zitate).
5. 1. Die Machtfrage in der offenen Gesellschaft (Popper-Zitat).
5. 2. Woran glauben wir im Westen?
5. 3. Demokratie = Herrschaft des Volkes?
5. 4. Mehrheitsdiktatur als Gefahr in der Demokratie.
5. 5 Charakteristika offener, geschlossener und abstrakter Gesellschaften.
6. Kritik am Konzept der offenen Gesellschaft.
6. 1. Ralf Dahrendorf
6. 2. William W. Bartley
6. 3. Joachim Fest
6. 4. Michael Funken
6. 4. 1. Die Institutionen sind nicht vorbereitet auf schlechte, inkompetente Herrscher.
6. 4. 2. Poppers Definition der Demokratie ist viel zu dünn.
6. 4. 3. Die Gefahr der Atomisierung in offenen Gesellschaften.
7. Kommentar zum Abschluss:
7. 1. Gefährdung der offenen Gesellschaft.
7. 2. Kritik des Kommunitarismus ernst nehmen.
7. 3. Neue Feinde der offenen Gesellschaft?
7. 4. Verteidigung der offenen Gesellschaft.
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Poppers Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“
Poppers Vorstellung einer offenen Gesellschaft steht in der Tradition des Liberalismus und ist eng mit der Staatsform der Demokratie verbunden, allerdings nicht verstanden als Herrschaft der Mehrheit, sondern als die Möglichkeit, die Regierung gewaltfrei abzuwählen.
Die offene Gesellschaft unterscheidet sich sowohl von der Laissez-Faire-Gesellschaft, als auch von der totalitären geschlossenen Gesellschaft, die Popper auch ironisch den „Himmel auf Erden“ genannt hat, weil sie als solcher propagiert wird.
Popper sah sich selbst in der Tradition der Aufklärung. Deshalb waren ihm Toleranz, Wahrung der Menschenrechte und Gleichheit vor dem Gesetz wichtig. Diese Ideale waren für ihn insbesondere verbunden mit Immanuel Kant, dem „Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit“.
Was „offene Gesellschaft“ im Alltag bedeutete, hatte Popper in seinem Exil während dem Weltkrieg in Neuseeland und zuvor bei einem neunmonatigen Aufenthalt in England erfahren: Respekt für der Würde des Individuums, Freiheit, Weltoffenheit und insbesondere ein politisches System, das sich der Kritik seiner Bürger aussetzte.
Ausgearbeitet hat Karl Popper seine beiden konträren Gesellschaftmodelle im Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, das 1945 erschienen ist.
Band 1: Der Zauber Platons
Band 1 enthält eine kritische und provozierende Auseinandersetzung mit Platon (428/427 – 348/347 v. u. Z.), dem Verfasser der ersten und überlieferten Staatsutopie.
Der athenische Staatsmann Perikles (um 490 – 429 v. u. Z.) steht in Poppers Modell für die offene, demokratische Gesellschaft, Platon für den geschlossenen Ständestaat. Als Motto stellte Popper seinem Buch deshalb Zitate dieser beiden Protagonisten voraus. Das Perikles-Zitat unterstreicht die Mündigkeit des Bürgers:
„Obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchführen können, so sind wir doch alle fähig, sie zu beurteilen.“
Im Gegensatz dazu beginnt das Platon-Zitat mit dem totalitären Führungsprinzip:
„Das erste Prinzip von allen ist dieses: Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Führer sein.“
Poppers Absicht im Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ist es, die ideologische Tradition Platons und seiner Nachfolger zu entlarven und die Prinzipien einer offenen Gesellschaft in der Tradition des Perikles offen zu legen und zu verteidigen.
Über Platon hinaus sah Popper als Feinde der Freiheit auch frühgriechische „orakelnde Philosophen“ wie den Vorsokratiker Heraklit ( um 520 bis um 460 v. u. Z.), bei dem er ein Muster sieht, das sich auch bei späteren Feinden der offenen Gesellschaft wiederholen sollte:
In einer Zeit des sozialen Umbruchs suchen die Gegner der aufkommenden Veränderungen nach festen Orientierungen, nach einer Erklärung oder nach einem Gesetz, mit dessen Hilfe sie den geschichtlichen Wandel deuten können. Die Gegner stellen den ungeliebten Veränderungen das Konzept einer unveränderlichen, stabilen Ordnung entgegen und lehnen eine Gesellschaft der unablässigen Reform ab. Sie bevorzugen den großen, endgültigen Wurf, der alle politischen Grundprobleme mit einem Schlag zu lösen verspricht.
Platon war der Erste, der mit seinem Hauptwerk „Der Staat“ einen solchen großen Gesellschaftsentwurf vorlegte.
Platons Idee der Gerechtigkeit: „Jedem das Seine!“
Der Staat ist für Popper der Entwurf einer idealen und stabilen Gesellschaftsordnung, in der es keine Veränderung geben kann, weil in ihr die „Idee der Gerechtigkeit“ schon endgültig verwirklicht ist.
Doch Platons Gerechtigkeit ist nach Popper nicht jene, die wir seit der Aufklärung mit den Schlagworten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beschreiben. Der von Platon postulierte Gerechtigkeitsgrundsatz „Jedem das Seine!“ meint geradezu das Gegenteil: Jeder hat den Platz und die Funktion in der Gesellschaft auszufüllen, die ihm von seinem Stand und seiner Geburt her zugeteilt werden. Gerechtigkeit bedeutet in diesem Gesellschaftsmodell also nichts anders, als die Stabilität eines nicht reformierbaren Ständestaates. Im Entwurf dieses Platon’schen „Idealstaates“ sind zahlreiche der fatalen Entwicklungen vorgeprägt, wie sie im 20. Jahrhundert in totalitären Gesellschaften verwirklicht wurden: Unfreiheit, Zensur, Degradierung der Mehrheit der Bevölkerung zu Arbeitssklaven und eine konsequente Militarisierung der Gesellschaft. Platon geht in seinem Gesellschaftsentwurf laut Popper nicht von der Gleichheit, sondern von der natürlichen Ungleichheit der Mensch aus, eine Ungleichheit sowohl in biologischer als auch in rechtlich-moralischer Beziehung. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die biologisch angeblich „wertvolleren“ Menschen haben auch Anspruch auf mehr Rechte und auf Herrschaft über die anderen. Eine solche Ungleichheit postuliert Platon nicht nur zwischen Griechen und Nicht-Griechen (den so genannten „Barbaren“), sondern auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Diese Darstellung der politischen Philosophie Platons weist viele Parallelen zum Zeitgeschehen auf, die nicht nur für damalige Leser offensichtlich waren, sondern auch in der Gegenwart noch deutlich sind: Platon ist für Karl Popper ein Vorläufer der nazistischen Rassenlehre und er beschuldigt ihn ganz ausdrücklich einer „biologischen Rassentheorie“.
Dabei geht es Platon im Werk „Staat“ hauptsächlich um die Herrenrasse der so genannten „Wächter“, die berufen sind, den Staat zu lenken. Die Wächter sind offenbar gedacht als Antwort auf den Demokratisierungsprozess in Athen, bei dem die natürliche Herrschaft der alteingesessenen Aristokraten zunehmend in Frage gestellt wurde. Durch ein konsequentes Programm der biologischen Auslese und einer von früher Kindheit an streng beaufsichtigten und geregelten Erziehung, die sich am Vorbild der Führungsschicht in Sparta orientiert, soll nach den Vorstellungen Platons eine neue, stabile Herrscherschicht gezüchtet werden, die jeden Veränderungsversuch im Keim ersticken kann und vor dem Schicksal der Athener Aristokratie gefeit ist.
Bei Platon geht es nach Popper immer um das „Ganze“ des Staates. Er propagiert eine „utopische Sozialtechnik“, die den Anspruch erhebt, alle Probleme mit einem Schlag zu lösen, und dem Einzelnen die Rolle zuweist, sich in den großen Gesamtentwurf einzufügen. Der Einzelne bedeutet nichts und ist nur ein Zahnrädchen im Gefüge der Gesellschaft.
Platons Staatsentwurf richtet sich nach Popper hauptsächlich gegen zwei Grundsätze: gegen den Grundsatz des „Individualismus“, der die Achtung vor der Freiheit und Würde des Individuums verlangt, und gegen den Grundsatz des „Universalismus“, das heißt die Auffassung, dass jeder Mensch die gleichen Rechte beanspruchen kann.
Diese Grundsätze einer offenen Gesellschaft sind nach Popper jedoch nicht erst in der Aufklärung, sondern auch bereits von Zeitgenossen Platons vertreten worden: insbesondere von der so genannten „Großen Generation“, einer Gruppe von Intellektuellen, die in Athen zu Zeiten des Peloponnesischen Krieges lebten und lehrten. Sie sind es, die nach Popper zum ersten Mal die Verantwortlichkeit des Menschen für sein eigenes Schicksal betont haben.
Zu dieser Gruppe der „Grossen Generation“ zählt Popper Sokrates (469 – 399 v. u. Z.) den Lehrer Platons. Sokrates war zwar kein Demokrat, blieb aber für Popper ein aufrechter Vertreter der Freiheit, jemand der die eigene Würde und Gewissensentscheidung gegenüber staatlichen Autoritäten behauptet und das „Prinzip Kritik“ zum Antrieb seines Lebens und seines Philosophierens gemacht hatte.
Neben Sokrates zählen zur „Grossen Generation“ unter anderem die Philosophen Protagoras und Demokrit, der Historiker Herodot und vor allem Perikles, der Führer der athenischen Demokratie, der in seiner berühmten Grabrede die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz propagierte. Zahlreiche dieser griechischen Aufklärer zählen zur Bewegung der Sophisten, die von Platon als Scharlatane und Wortverdreher geschmäht wurden, für Popper hingegen Vorläufer der modernen Demokratie und des Humanismus sind. Platon dagegen steht für Popper am Beginn eines „Aufstands gegen die Vernunft“. Als Spross der alten Athener Aristokratie hatte er von Anfang an die Rechtfertigung der traditionellen Standesherrschaft im Sinn. Platon’s Interessen decken sich immer mit denen der alten athenischen Aristokratie. Popper stellt Platon als enttäuschten Konservativen dar, der mit seiner Philosophie den sozialen und politischen Umbrüchen seiner Zeit die Legitimation entziehen will.
Band 2: Falsche Propheten
Band 2 ist eine Abrechnung mit den Philosophen, die diesen „Aufstand gegen die Vernunft“ fortgesetzt haben, insbesondere Hegel und Marx, die beiden „falschen Propheten“, aber auch Aristoteles (384 – 322 v. u. Z.), der Schüler Platons. Aristoteles ging wie Platon von der natürlichen Ungleichheit der Menschen aus und verteidigte sogar die Sklaverei. Die aristotelische Lehre, dass alle Dinge sich auf einen von vornherein festgelegten Zweck hin entwickeln (Teleologie), haben die Auffassungen Hegels und Marx’ beeinflusst, wonach die Geschichte der Menschheit „gesetzmäßig“ ihrer Vollendung entgegenstrebt – bei Hegel die Verwirklichung der Freiheit im modernen Staat und bei Marx die klassenlose Gesellschaft. Auch hier wird das Individuum laut Popper nur zu einem Werkzeug einer übergeordneten Weltvernunft. Aristoteles, Hegel und Marx sind für Popper Vorläufer des Totalitarismus.
Hegel und Marx gelten ihm als die eigentlichen klassischen Philosophen des Historizismus. Mit diesem Begriff beschreibt Popper den Glauben an die Gesetzmäßigkeit und Voraussagbarkeit sozialer und geschichtlicher Abläufe. Zwischen dieser historizistischen Geschichtsauffassung und totalitären Bedrohungen wie Nationalsozialismus und Stalinismus sah Popper einen engen Zusammenhang.
Kommunisten und Faschisten erhoben in ähnlicher Art den Anspruch, Herren der Geschichte und des Schicksals der Völker zu sein. Ob nun im Hinblick auf eine auserwählte Klasse oder eine auserwählte Rasse: Adolf Hitler und Josef Stalin, angeblich Feinde, betrieben beide die Vergötterung des Staates, die Verherrlichung des Krieges und die Verachtung des Individuums und seiner Freiheit. Statt eines friedlichen, vom offenen Austausch der Ideen und Güter geprägten Zusammenlebens der Völker pflegten die Diktatoren nationalistisches Stammesdenken, das mit der Anmaßung verbunden war, „auserwählt“ zu sein und auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Nach Popper gibt es keine historischen Gesetze, die sich in ihrem wissenschaftlichen Anspruch mit Naturgesetzen vergleichen lassen. Wir können immer nur einzelne historische Tendenzen, niemals jedoch den Gang der Geschichte als Ganzes begreifen, wie dies die großen Geschichtsphilosophen des 19. Jahrhunderts, Hegel und Marx, beansprucht hatten. Popper war der festen Überzeugung, dass die Zukunft offen ist und von uns selbst abhängt.
Auch der Basis dieser Kritik entwickelt Popper eine Theorie der modernen liberalen Demokratie als Alternative zur geschlossenen Gesellschaft der totalitären Diktaturen.
Eine offene Gesellschaft kann nach Popper sowohl auf einen utopischen Gesamtentwurf als auch auf jede Art von Historizismus verzichten. Basis dieser Demokratie ist keine historische Gesetzmäßigkeit, sondern die Freiheit und Selbstverantwortung des Bürgers.
Die bei Philosophen wie Platon und Marx so zentrale Frage: „Wer soll regieren?“, muss nach Popper abgelöst werden durch eine ganz andere Frage: Wie muss ein politisches System beschaffen sein, das die Freiheit des Bürgers schützt und soziale Gerechtigkeit befördert?
Wie in der Wissenschaft, spielt für Popper auch in der Demokratie die Kritik die entscheidende Rolle. Die Demokratie muss Raum für Opposition und öffentliche Kritik geben und Institutionen entwickeln, die eine Fehlerkontrolle der regierenden Politiker ermöglichen. Poppers Demokratietheorie umfasst also auch das, was man heute als „Zivilgesellschaft“ bezeichnet.
Insbesondere müssen das Volk und seine Vertreter die Möglichkeit haben, eine Regierung auf friedlichem Wege abzuwählen. Für Popper ist dieser Punkt geradezu das entscheidende Merkmal der Demokratie. Nicht wer regiert ist im Modell der offenen Gesellschaft wichtig, sondern die Möglichkeit, die Regierenden auf friedlichem Wege wieder loszuwerden. Alle Diktaturen sind daran erkennbar, dass die Machthaber an ihrem Sessel kleben und nur dem Druck der Gewalt weichen. Institutionell abgesicherte Kritikmöglichkeit und ein legales Verfahren zur Absetzung der Regierung – das sind die Merkmale, die eine Demokratie vor einer Diktatur auszeichnen.
Eine Gesellschaft hat nach Popper niemals eine endgültige Form, die man ihr wie ein Korsett verpassen könnte. Das Konzept der offenen Gesellschaft berücksichtigt diesen Punkt: Es erhebt Reform und ständige Veränderung zum Normalzustand. An die Stelle eines groß angelegten utopischen Gesellschaftsentwurfs tritt bei Popper die gezielte Reform einzelner Missstände. Der von Popper hierfür geprägte Begriff „piecemeal-engineering“ hat durch die deutsche Übersetzung „Stückwerk-Reform“ einen sehr missverständlichen Klang bekommen. Gemeint ist damit eine „schrittweise“ vorgehende Reform, die auf der genauen Analyse von Sachproblemen basiert. Genau wie die wissenschaftliche Forschung kommt sie niemals an einen Schluss und erhebt auch keinen Anspruch auf Endgültigkeit.
„Kritischer Rationalismus“ – so nannte Popper diese Haltung, „auf kritische Argumente zu hören und aus der Erfahrung zu lernen“, die er sowohl für die Wissenschaft als auch für das politische Handeln fordert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus dem „kritischen Rationalismus“ eine von Popper begründete philosophische Richtung, der sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Schüler in Europa und den Vereinigten Staaten anschlossen.
Quelle für diesen 1. Abschnitt: Robert Zimmer: Das Philosophenportal – Ein Schlüssel zu klassischen Werken, dtv, München 2004 (S.209- 223)
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Die wichtigsten Merkmale von Offenen und Geschlossenen Gesellschaften – eine Gegenüberstellung:
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Offene Gesellschaft | Geschlossene Gesellschaft (Sippe, Volk) |
Basiert auf Recht, das potentiell für alle gilt ( = universal gültig). | Basiert auf Blut-und-Boden, Wurzeln, Heimat; Betonung darauf, wer dazugehört und wer nicht dazugehört. |
Individuum wird nicht dem Ganzen geopfert. | Die Gemeinschaft steht über dem Individuum. |
Kritik
Griech: kritike = Beurteilungskunst. Ur-teilen = Teilen des ursprünglich Ganzen (= „antiganzheitlich“). |
Dogma
Für gut oder richtig beschlossene Lehrmeinung, unumstössliche Grundsätze. |
Stellt Gewissheiten in Frage. | Suggeriert „Tatsachen“, verkündet Gewissheiten. |
Argumentierende Gesprächspartner. | Führer – Gefolgschaft, Gurus. |
Gesellschaftliche Ordnung ist hergestellt. Gesellschaftsvertrag beruht auf Einsicht und Vernunft vieler Einzelner, entstanden aus diskusiver Auseinandersetzung. | Gesellschaftliche Ordnung gilt als naturgegeben, vorgegeben (ist aber ein Konstrukt). „Natürliche“ Hierarchien. |
Wahrheit als Leitidee, aber eher als nicht erreichbares Ideal. Universale Kriterien der Wahrheitssuche. | Wahrheit als Ziel, das schon erreicht ist. |
Wissen unabhängig von Personen. | Elitärer Zugang zum Wissen. |
Alle Personen haben nur Teilwissen (fragmentarisch), deshalb Dialog unabdingbar für demokratischen Prozess. | Einzelne Idividuen haben (angeblich) totales Wissen. |
Wissen ist vorläufig. | Wissen wird als ewig aufgefasst. |
Lehre ist in Frage zu stellen. | Lehre ist zu übernehmen und möglichst unverändert weiterzugeben. |
Lehrende sind zu kritisieren (mit Argumenten). | Lehrende gelten als unhinterfragbare Autoritäten. |
Mit Tradition soll man sich auseinandersetzen. | Tradition ist unhinterfragt zu übernehmen. |
Bewegung / Veränderung | Konservierung / Statik |
Progressiv | Regressiv |
Einsicht in die Begrenztheit von Wissen, Glück, Gesundheit und in die Fragilität des Lebens. | Ideale von Absolutheit und Vollkommenheit. Allumfassende Phantasien; Absolute Gesundheit, Heil, Ganzheiten. |
Anwaltschaft für Dissonanzen, Fehler, Irrtümer. | Dissonanzen, Unreines, Missgebildetes wird abgespalten (im Totalitarismus vernichtet). |
Fehler, Irrtümer, Scheitern sind erwünscht, da zum Menschsein gehörend = Humanismus; bringen uns oft weiter. | Scheitern darf nicht sein (stellt das Ganze in Frage). |
Einsamkeitsfähigkeit
Geborgenheiten sind vorläufig und partiell. |
Aufgehen in Gemeinschaft
Geborgenheiten als umfassend und ewig dagestellt. |
Stellt Natur / Natürlichkeit als Normgeber in Frage. | Natürlichkeit (das Reine, Gute) als Norm. |
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(Tabelle erstellt von Martin Koradi 2005 mit Unterstützung durch Eva Schiffer, Philosophin)
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3. Offene versus geschlossene Gesellschaftsmodelle
Geschlossene Gesellschaftsmodelle…..
– Beispiele: Kommunismus, Marxismus, alle Faschismen, Nationalsozialismus, Stalinismus, alle Gesellschaftsmodelle, die sich auf „religiöse Wahrheiten“ oder „ewige Werte“ berufen wie beispielsweise der islamistische Fundamentalismus.
– Anhänger dieser Ideologien streben danach, „die beste aller Welten“ zu errichten. In ihren Vorstellungen soll dadurch so etwas wie „der Himmel auf Erden“ entstehen, eine ideale Gesellschaft oder eine gottgewollte gesellschaftliche Ordnung .
– Diese Vorstellungen einer idealen Gesellschaft basieren auf der Überzeugung, dass es etwas gibt, was absolut richtig oder wahr ist. Meistens handelt es sich dabei um autoritäre Quellen wie beispielsweise Offenbarungstexte wie die Bibel oder der Koran oder zu absoluten Autoritäten hochstilisierten Vordenker wie z. B. Marx im unkritischen Marxismus. Und dann braucht es dazu selbstverständlich auch jemanden, der diese Wahrheit kennt und (als einziger) das Recht hat, die autoritären Quellen zu deuten / zu interpretieren. Meistens handelt es sich dabei um religiöse oder politische Führer (Chef-Ideologen wie religiöse Gurus, Hohe Priester, Mullahs, politische Führerfiguren wie Stalin oder Hitler, …), deren Ansicht nicht in Frage gestellt werden darf.
– Um die idealisierte Gesellschaftsordnung durchzusetzen und um diejenigen, die sich dem entgegen stellen in Schach zu halten, ist sehr rasch jedes Mittel recht, auch Gewalt. Der Zweck heiligt dabei alle Mittel und wie die Geschichte gezeigt hat, überschreitet der Fundamentalismus an diesem Punkt schnell die Schwelle zum Terror.
– Wenn die idealisierte Gesellschaftsordnung – zum Beispiel durch eine Revolution oder einen Krieg – einmal eingeführt ist, wird jede Veränderung automatisch als Verschlechterung oder gar Verfall aufgefasst, der mit allen Mitteln verhindert werden muss. An diesem Punkt schlägt die totalitäre Ideologie in ein totalitäres politisches System um.
– Jeder, der die idealisierte Gesellschaftsordnung kritisiert oder in Frage stellt, gilt dann als Feind der Wahrheit und des Richtigen. Er bewirkt aus der Optik der Machthaber Zerfall und Zerstörung und muss mit allen Mitteln bekämpft werden.
– Aus dem utopischen Ideal einer idealisierten Gesellschaft wird eine totalitäre Diktatur, weil es nur mit Gewalt möglich ist, Diskussionen und Veränderungen zu eliminieren.
Offene Gesellschaftsmodelle…..
– Beispiele: Westliche Demokratien, für Popper v.a. solche angelsächsischer Prägung.
– Diese Gesellschaftsmodelle gehen davon aus, dass Menschen immer Fehler machen und sich irren können; kein Mensch kennt die letzte Wahrheit und keine Partei oder Gruppe hat Lösungen für alle Probleme.
– Menschen mit anderen Ansichten sind wichtig, weil sie auf Irrtümer und Fehler aufmerksam machen können. Das erleichtert offenen Gesellschaften die Korrektur von Fehlern.
– Offene Gesellschaften verändern sich durch Diskussion und Auseinandersetzung; niemand kann heute wissen, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen wird. Eine zukünftige Gesellschaft wird das Resultat laufender Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen sein und muss auf Veränderungen reagieren, die man heute noch nicht kennt.
– In einer Demokratie ist das Spiel zwischen Regierung und Opposition ein Mechanismus, der Menschen Möglichkeiten eröffnet, Entscheidungen kritisch zu diskutieren und Fehler zu korrigieren.
Quelle für diesen 3. Abschnitt:
https://www.brgdomath.com/glaube-und-zweifel/fundamentalismus-und-gewalt-tk7/popper-offene-gesellschaft/
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4. Einige wesentliche Merkmale offener Gesellschaften
(Zitat aus: Jürgen August Alt, Karl R. Popper, Reihe Campus, Einführungen 1992)
„1. An die Stelle starrer, abgesicherter Machtbereiche treten marktförmige Institutionen, die eine Zunahme von Mobilität zur Folge haben.
2. Ausserfamiliäre Sozialisationsinstanzen, vor allem Bildungsinstitutionen, drängen den Einfluss der Herkunft auf die Lebenschancen in einem gewissen Umfang zurück.
3. Bestimmte institutionelle Vorkehrungen (z. B. Wahlen, das Recht, Parteien und Verbände zu gründen etc.) ermöglichen im Prinzip allen Bürgern die Mitwirkung an Entscheidungen, die die Gestaltung der Zukunft betreffen.
4. Die Bereiche der Moral, der Religion, der Wissenschaft und der Kunst entfalten ihre je eigene Dynamik, ohne voneinander völlig abgeschottet zu sein – ein Vorgang den Max Weber als „Ausdifferenzierung von Wertsphären“ bezeichnet hat. Insbesondere ist die Wissenschaft kaum mehr eine ideologische Stütze für bestimmte Machtverhältnisse, sondern ein Unternehmen, das Erkenntnis unabhängig davon produziert, ob diese auch schön und nützlich sind oder den Menschen Trost zu spenden vermögen.
5. Die Möglichkeit der Kritik wird institutionell garantiert und bleibt dabei nicht auf den Bereich der Wissenschaft beschränkt.
6. In offenen Gesellschaften gibt es institutionelle Vorkehrungen, die den interkulturellen Austausch von Gütern und Ideen sicher. Die „Diffusion fremder Techniken, Weltbilder und Institutionen“, so Giessen,1 steigert die Vielfalt und beschleunigt das Wandlungstempo.“
1 B. Giessen, Makrosoziologie, Hamburg 1980.
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5. Demokratie und Gesellschaft (Popper Zitate)
5. 1. Die Machtfrage in der Offenen Gesellschaft (Popper-Zitat)
Die grundlegende Frage der Staatstheorie ist nach Popper eine ganz andere, als Platon annahm:
„Sie ist nicht ‚Wer soll herrschen?’ oder ‚Wer soll die Macht haben?’, sondern ‚Wieviel Macht soll der Regierung eingeräumt werden?’ oder vielleicht noch genauer: ‚Wie können wir unsere politischen Einrichtungen so ausbauen, dass auch unfähige und unredliche Machthaber keinen grossen Schaden anrichten können?’
Mit anderen Worten, das Fundamentalproblem der Staatstheorie ist das der Zähmung der politischen Macht – der Willkür und des Missbrauchs der Macht – durch Institutionen, durch die die Macht geteilt und kontrolliert wird.
Ich zweifle nicht daran, dass die Demokratie, an die der Westen glaubt, nichts anderes ist als ein Staatswesen, in dem die Macht in diesem Sinn beschränkt und kontrolliert ist. Denn die Demokratie, an die wir glauben, ist kein Staatsideal. Wir wissen sehr wohl, dass vieles geschieht, da nicht geschehen sollte. Wir wissen, dass es kindisch ist, in der Politik Idealen nachzustreben, und jeder halbwegs reife Mensch im Westen weiss: Alle Politik besteht in der Wahl des kleineren Übels (wie der Wiener Dichter Karl Kraus einst sagte). Für uns gibt es nur zwei Regierungsformen: solche, die es den Regierten möglich machen, ihre Machthaber ohne Blutvergiessen loszuwerden, und solche, die ihnen dies nicht möglich machen oder nur durch Blutvergiessen. Die erste dieser Regierungsformen nennen wir gewöhnlich Demokratie, die zweite Tyrannei oder Diktatur. Aber auf den Namen kommt es hier nicht an, sondern nur auf die Sache.
Wir im Westen glauben an die Demokratie nur in diesem nüchternen Sinn – als eine Staatsform des kleineren Übels. So hat sie auch der Mann geschildert, der die Demokratie im Westen gerettet hat. ‚Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen’, so sagte Winston Churchill, ‚ausgenommen aller anderen Regierungsformen.’“
Quelle: 1) Seite 249/250.
5.2. Woran glauben wir im Westen?
Karl Popper gibt eine interessante Antwort auf diese Frage:
„Wenn wir uns die Frage, woran wir glauben, ernsthaft vorlegen und wenn wir sie ehrlich zu beantworten versuchen, so werden wohl die meisten von uns gestehen, dass sie nicht recht wissen, woran sie glauben sollen. Die meisten von uns haben es erlebt, dass sie an diese oder jene falschen Propheten glaubten und durch die Vermittlung dieser falschen Propheten auch an diese oder jene falschen Götter. Wir alle haben Erschütterungen in unserem Glauben durchgemacht; und auch die wenigen, deren Glauben durch alle diese Erschütterungen unerschütterlich hindurchgegangen ist, werden wohl zugeben müssen, dass es heute nicht leicht ist, zu wissen, woran wir im Westen glauben.
Meine Bemerkung, dass es nicht leicht ist, zu wissen, woran der Westen glaubt, klingt vielleicht recht negativ. Ich kenne viele und gute Menschen, die es als eine Schwäche des Westens ansehen, dass wir im Westen keine tragende, einheitliche Idee, keinen einheitlichen Glauben haben, den wir der kommunistischen Religion des Ostens stolz gegenüberstellen können.
Diese weitverbreitete Ansicht ist überaus verständlich. Aber ich halte sie für grundfalsch. Unser Stolz sollte sein, dass wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen, gute und schlechte; dass wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion, sondern viele, gute und schlechte. Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, dass wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion, wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“
Quelle: 1) Seite 238.
5.3. Demokratie = Herrschaft des Volkes?
Popper kritisiert die verbreitete Interpretation der Demokratie als Volksherrschaft und begründet das an verschiedenen Stellen seines Werks.
„Wie ein jeder weiss, heisst ‚Demokratie’ auf deutsch ‚Volksherrschaft‘ oder ‚Volkssouveränität’, im Gegensatz zu ‚Aristokratie’ (Herrschaft der Besten oder der Vornehmsten) und ‚Monarchie’ (Herrschaft eines einzelnen). Aber der Wortsinn hilft uns nicht weiter. Denn nirgends herrscht das Volk: Überall herrschen die Regierungen (und leider auch die Bürokratie, das heisst die Beamten, die nur schwer oder gar nicht zur Verantwortung gezogen werden können).“
Quelle: 2) Seite 207/208.
„Platons Frage ‚Wer soll regieren? Wer soll die Macht haben?’ ist also falsch gestellt. Wir glauben an die Demokratie, aber nicht, weil in der Demokratie das Volk herrscht. Weder Sie noch ich herrschen; im Gegenteil, Sie sowohl wie ich, wir werden regiert, und manchmal mehr als uns lieb ist. Wir glauben an die Demokratie als die einzige Regierungsform, die mit politischer Opposition und daher mit politischer Freiheit verträglich ist.“
Quelle: 1), Seite 250.
„ Das Wort ‚Demokratie’, das ‚Volksherrschaft’ bedeutet, ist, leider, eine Gefahr. Jedes Mitglied des Volkes weiss, dass es nicht herrscht, und fühlt deshalb, dass die Demokratie ein Schwindel ist. Darin liegt die Gefahr. Es ist wichtig, dass man schon in der Schule lernt, dass der Name ‚Demokratie’ seit der Athenischen Demokratie der traditionelle Name für eine Verfassung ist, die eine Diktatur, eine ‚Tyrannis’ verhindern soll. Die Diktatur, die Tyrannis, ist das Schlimmste, wie wir eben wieder in China gesehen haben. Man kann sie ohne Blutvergiessen nicht loswerden, aber gewöhnlich auch nicht mit Blutvergiessen: Die Diktatoren sind heutzutage wohl immer zu stark, wie wir auch schon beim Aufstandsversuch gegen Hitler vom 20. Juli 1944 sehen konnten.
Aber jede Diktatur ist unmoralisch. Jede Diktatur ist moralisch böse. Das ist das erste, moralische Grundprinzip für die Demokratie als jene Staatsform, in der die Regierung ohne Blutvergiessen abgesetzt werden kann. Die Diktatur ist moralisch böse, weil sie die Staatsbürger dazu verurteilt, gegen ihr besseres Wissen und Gewissen, gegen ihre moralische Überzeugung mit dem Übel mitzuarbeiten, zumindest durch ihr Schweigen. Sie enthebt den Menschen der menschlichen Verantwortung, ohne die er nur ein halber, nur ein hundertstel Mensch ist. Sie macht aus jedem Versuch, seine menschliche Verantwortung zu tragen, einen Selbstmordversuch.“
Quelle: 2) Seite 242/243.
„Aber der stärkste Einwand gegen die Theorie der Volksherrschaft ist, dass sie eine irrationale Ideologie, einen Aberglauben fördert: den autoritären und relativistischen Aberglauben, dass das Volk (oder die Majorität) nicht unrecht haben kann und nicht unrecht tun kann. Diese Ideologie ist unmoralisch und muss abgelehnt werden. Wir wissen von Thukydides, dass die Athenische Demokratie (die ich in vielem bewundere) auch verbrecherische Beschlüsse gefasst hat. Sie überfiel (wenn auch nicht ohne Warnung) die neutrale Inselstadt Melos, tötete alle Männer und verkaufte alle Frauen und Kinder auf den grossen Sklavenmärkten. Dazu war die Athenische Demokratie fähig.
Und das gewählte deutsche Parlament der Weimarer Republik war fähig, Hitler durch das Ermächtigungsgesetz auf legitimem Weg zum Diktator zu machen. Obwohl Hitler in Deutschland nie eine freie Wahl gewonnen hat, feierte er doch in Österreich nach dem gewaltsamen Anschluss einen ungeheuren Wahlsieg.
Wir sind alle fehlbar, und das Volk, oder jede andere Gruppe von Menschen, ist es genauso. Und wenn ich dafür spreche, dass ein Volk seine Regierung absetzen kann, so nur deshalb, weil ich keine bessere Methode kenne, die Tyrannis zu vermeiden. Auch die Demokratie als Volksgericht, wie ich sie verteidige, ist alles eher als fehlerlos. Für sie gilt Winston Churchills ironischer Ausspruch, der sagte: ‚Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, mit der alleinigen Ausnahme aller anderen Regierungsformen.’“
Quelle: 2) Seite 245/246
„Ich vertrete also die Ansicht, dass das Wichtigste einer demokratischen Regierungsform darin besteht, dass sie es ermöglicht, die Regierung ohne Blutvergiessen abzusetzen, worauf eine neue Regierung die Zügel übernimmt……Bei einem Regierungswechsel ist diese negative Macht, die Drohung mit Entlassung, das Wichtigste. Eine positive Macht zur Einsetzung einer Regierung oder ihres Chefs ist ein verhältnismässig unwichtiges Korrelat. Das ist leider nicht die gängige Ansicht. Und zu einem gewissen Grad ist die falsche Betonung der Neueinsetzung gefährlich: Die Einsetzung der Regierung kann interpretiert werden als eine Lizenzerteilung durch die Wähler, eine Legitimierung im Namen des Volkes und durch den ‚Willen des Volkes’. Aber was wissen wir und was weiss das Volk, welchen Fehler – ja, welches Verbrechen – die von ihm gewählte Regierung morgen begehen wird?
Wir können eine Regierung oder eine Politik im nachhinein beurteilen und vielleicht unsere Zustimmung geben und sie wiederwählen. Im vorhinein können sie vielleicht unser Vertrauen haben; aber wir wissen nichts, wir können nicht wissen, wir kennen sie nicht; und wir dürfen darum nicht voraussetzen, dass sie unser Vertrauen nicht missbrauchen werden.
Nach dem Bericht von Thukydides hat Perikles diese Gedanken in einfachster Weise formuliert: ‚Wenn auch nur wenige von uns imstande sind, eine Politik zu entwerfen oder durchzuführen, so sind wir doch alle imstande, eine Politik zu beurteilen.’
Ich halte diese knappe Formulierung für grundlegend…..Es ist zu beachten, dass hier die Idee einer Herrschaft des Volkes, ja sogar die Idee einer Initiative durch das Volk abgelehnt werden. Sie werden durch die ganz andere Idee einer Beurteilung durch das Volk ersetzt……
Perikles – oder vielleicht war es Thukydides? Vermutlich waren sie beide dieser Meinung – hat hier in aller Kürze gesagt, warum das Volk nicht regieren kann, auch wenn es sonst keine Schwierigkeiten gäbe. Ideen, insbesondere neue Ideen, können nur das Werk von einzelnen sein, vielleicht geklärt und verbessert in der Zusammenarbeit mit einigen wenigen anderen. Viele können wohl nachher sehen – insbesondere dann, wenn sie die Folgen durchlebt haben, zu denen diese Ideen geführt haben -, ob sie gut waren oder nicht. Und solche Beurteilungen, solche ‚Ja-Nein-Beschlüsse’, können auch von einer grossen Wählerschaft durchgeführt werden.
Ein Ausdruck wie ‚Volksinitiative’ ist daher irreführend und propagandistisch. Es ist in der Regel eine Initiative von wenigen, die sie bestenfalls dem Volk zur kritischen Beurteilung vorlegen. Und es ist daher in solchen Fällen wichtig, ob die vorgeschlagenen Massnahmen nicht hinausgehen über die Kompetenz der Wählerschaft, sie zu beurteilen.“
Quelle: 2) 225/226.
„Der Unterschied zwischen den beiden Ideen, der Demokratie als Volksherrschaft und der Demokratie als Volksgericht – oder als Instrument zur Vermeidung einer Regierung, die man nicht loswerden kann, also einer Tyrannis – ist keineswegs verbal, sondern hat wichtige praktische Folgen; er ist auch für die Schweiz relevant. Dennoch wird im Unterricht, in den Volksschulen und Gymnasien, soviel ist weiss, noch sehr oft die verderbliche und ideologische Theorie der Volksherrschaft vertreten, anstelle der viel bescheideneren und realistischen Theorie der Vermeidung der moralisch untragbaren und unerträglichen Diktatur.“
Quelle: 2) Seite 246.
5. 4. Mehrheitsdiktatur als Gefahr in der Demokratie
„Ich weiss natürlich, dass vieles verbessert werden sollte. Das Wichtigste ist wohl, dass unsere ‚Demokratien’ von Mehrheitsdiktaturen nicht hinreichend unterschieden sind. Aber es hat niemals vorher in der Geschichte Staaten gegeben, in denen Menschen so frei leben konnten und in denen sie die Möglichkeit hatten, ein ebenso gutes oder besseres Leben zu führen.“
Quelle: 2) Seite 237.
„Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Hitler auf legitime Weise an die Macht kam und dass das Ermächtigungsgesetz, das ihn zum Diktator machte, von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen wurde. Das Legitimationsprinzip reicht nicht hin. Es ist eine Antwort auf die Platonische Frage ‚Wer soll herrschen?’ Wir müssen die Frage selbst ändern.
Wir haben gesehen, dass auch das Prinzip der Volksherrschaft eine Antwort auf die Platonische Frage ist. Es ist ein gefährliches Prinzip. Eine Mehrheitsdiktatur kann für die Minderheit fürchterlich sein.“
Quelle: 2) Seite 242.
„Wir sind frei, wenn wir unsere Herrscher ohne Blutvergiessen loswerden können.
Hier haben wir ein Kriterium, das uns gestattet, die politische Freiheit von der politischen Unfreiheit zu unterscheiden oder, wenn man will, eine Demokratie von einer Tyrannis….
Das Kriterium der politischen Freiheit, das ich soeben gegeben habe, ist ein einfaches, aber natürlich ein etwas grobes Instrument. Vor allem sagt es uns nichts über die so wichtige Frage des Schutzes von Minoritäten, zum Beispiel von religiösen, sprachlichen oder ethnischen Minderheiten.“
Quelle: 3) Seite 240 / 241.
5.5 Charakteristika offener, geschlossener und abstrakter Gesellschaften
„Ein demokratischer Staat kann nicht besser sein als seine Staatsbürger. So müssen wir hoffen, dass die grossen Werte einer offenen Gesellschaft – Freiheit, gegenseitige Hilfe, Wahrheitssuche, intellektuelle Verantwortlichkeit, Toleranz – auch in Zukunft als Werte anerkannt werden. Dafür müssen wir unser Bestes tun.“
Quelle: 4) Seite 141.
„Ein charakteristischer Zug der magischen Einstellung einer primitiven ‚geschlossenen’ oder Stammesgesellschaft ist dieser: sie lebt in einem Zauberkreis unveränderlicher Tabus, Gesetze und Sitten, die als ebenso unvermeidlich empfunden werden wie der Aufgang der Sonne, der Kreislauf der Jahreszeiten oder ähnlich klare Regelmässigkeiten des Naturverlaufs.“
Quelle: 5) Seite 69.
„Im folgenden wird die magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft auch die geschlossene Gesellschaft genannt werden; eine Gesellschaftsordnung aber, in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen, nennen wir die offene Gesellschaft.“
Quelle: 5) Seite 207.
Popper hat neben der geschlossenen und der offenen Gesellschaft noch eine dritte Gesellschaftsform beschrieben, wenn auch nur rudimentär: Die abstrakte Gesellschaft.
Darin spricht er mögliche Folgelasten und Fehlentwicklungen offener Gesellschaften an.
Im folgenden Zitat charakterisiert er aber zuerst die geschlossene Gesellschaft als Organismus:
„Eine geschlossene Gesellschaft in ihren besten Formen kann ganz gut mit einem Organismus verglichen werden. Die sogenannte organische oder biologische Theorie des Staates ist auf sie in beträchtlichem Ausmasse anwendbar. Eine geschlossene Gesellschaftsordnung ähnelt immer einer Herde oder einem Stamm; sie ist eine halborganische Einheit, deren Mitglieder durch halbbiologische Bande, durch Verwandtschaft, Zusammenleben, durch die Teilnahme an gemeinsamen Anstrengungen, gemeinsamen Gefahren, gemeinsamen Freuden und gemeinsamem Unglück zusammengehalten werden. Sie ist noch immer eine konkrete Gruppe konkreter Individuen, die nicht bloss durch abstrakte soziale Beziehungen, wie Arbeitsteilung, Gütertausch, sondern durch konkrete physische Beziehungen, wie Berührung, Geruch, Sicht, miteinander verbunden sind. Eine solche Gesellschaftsordnung kann auf Sklaverei beruhen; die Gegenwart der Sklaven braucht jedoch kein Problem zu schaffen, das von dem Problem domestizierter Tiere verschieden wäre. Daher fehlen gerade jene Züge, die, wie wir sehen werden, eine erfolgreiche Anwendung der organischen Theorie auf die offene Gesellschaft vereiteln.
Die Züge, an die ich denke, sind mit der Tatsache verbunden, dass viele Mitglieder der offenen Gesellschaft sozial emporzukommen versuchen, dass sie versuchen, die Stellen anderer Mitglieder einzunehmen. Dies kann zum Beispiel zu einem so wichtigen sozialen Phänomen wie zum Klassenkampf führen. In einem Organismus finden wir nichts, das einem Klassenkampf nur irgendwie ähnlich wäre; die Zellen oder die Gewebe eines Organismus, von denen man manchmal sagt, dass sie den Gliedern des Staates entsprechen, bekämpfen sich vielleicht um Nahrung; aber die Beine zeigen keine Bestrebungen, zum Gehirn zu werden, noch streben andere Glieder des Körpers danach, die Funktion des Magens zu übernehmen. Nichts im Organismus entspricht einem der wichtigsten Kennzeichen der offenen Gesellschaft, dem Wettstreit ihrer Mitglieder um die Stellung, die sie in ihr einnehmen sollen; damit ist aber gezeigt, dass die sogenannte organische Theorie des Staates auf einer falschen Analogie beruht. In der geschlossenen Gesellschaft jedoch gibt es kaum solche Bestebungen. Ihre Institutionen, die Kasten eingeschlossen, sind sakrosankt – tabu. Die organische Theorie passt hier nicht so schlecht. Es ist daher nicht überraschend, wenn wir finden, dass die meisten Versuche zur Anwendung der organischen Theorie auf unsere Gesellschaftsordnung verkappte Formen einer Propaganda sind, die die Rückkehr zur geschlossenen Gesellschaft, zur Stammesgesellschaft, predigt.“
Die Fortsetzung dieses Zitats – mit dem Publikationsjahr 1950! – hat fast schon gespenstig prophetischen Charakter:
„Eine Folge des Verlustes des organischen Charakters ist diese: Eine offene Gesellschaft kann sich allmählich in eine sogenannte «abstrakte Gesellschaft» verwandeln, wie ich mich ausdrücken möchte. Sie kann den Charakter einer konkreten Gruppe von Menschen oder eines Systems solcher Gruppen in beträchtlichem Ausmaß verlieren. Das ist kaum je richtig verstanden worden. Wir erklären es mit Hilfe einer Übertreibung: Man kann sich eine Gesellschaftsordnung vorstellen, in der sich die Menschen praktisch niemals von Angesicht zu Angesicht sehen, in der alle Geschäfte von isolierten Individuen ausgeführt werden, die sich durch maschinengeschriebene Briefe oder durch Telegramme verständigen und die sich in geschlossenen Kraftfahrzeugen umherbewegen. (Künstliche Befruchtung würde sogar die Fortpflanzung ohne persönlichen Kontakt ermöglichen.) Eine solche fiktive Gesellschaftsform könnte man eine «vollständig abstrakte oder entpersönlichte Gesellschaft» nennen. Der interessante Umstand ist nun der, daß unsere moderne Gesellschaft einer solchen völlig abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht ähnelt. Obgleich wir nicht ständig allein in geschlossenen Fahrzeugen umherfahren (sondern Tausende Menschen auf der Straße von Angesicht zu Angesicht sehen), ist doch das Ergebnis nahezu dasselbe, als wenn wir uns so verhielten; denn in der Regel treten wir zu unseren Mit-Fußgängern in keinerlei persönliche Beziehung. In gleicher Weise braucht die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr zu bedeuten als den Besitz einer Mitgliedskarte und die Bezahlung eines Beitrages an einen unbekannten Sekretär. In der modernen Gesellschaft leben viele Menschen, die keine oder nur sehr wenig enge persönliche Beziehungen haben, die in Anonymität und Isoliertheit leben und die in Folge davon unglücklich sind. Denn obgleich die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, hat sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verändert; die Menschen haben soziale Bedürfnisse, die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen können.
Unser Bild ist natürlich sogar in dieser Form stark übertrieben. Eine völlig abstrakte oder sogar eine vorwiegend abstrakte Gesellschaft wird und kann es niemals geben, ebensowenig wie eine völlig rationale oder sogar eine vorwiegend rationale Gesellschaftsform. Noch immer bilden die Menschen konkrete Gruppen und kommen auf verschiedene Weise konkret miteinander in Berührung; sie versuchen, ihre emotionalen sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, so gut sie können. Aber die meisten konkreten sozialen Gruppen einer modernen offenen Gesellschaftsordnung (mit der Ausnahme einiger glücklicher Familien) sind armselige Ersatzmittel, denn sie schaffen nicht den Rahmen für ein gemeinsames Leben. Viele von ihnen haben überhaupt keine Funktion innerhalb der grösseren gesellschaftlichen Zusammenhänge.“
Popper weist im darauf folgenden Abschnitt auch auf den Gewinn hin, den diese Entwicklung mit sich bringen kann:
„Ein anderes Element der Übertreibung des Bildes liegt darin, dass es bis jetzt nirgends einen Gewinn zeigt, sondern nur die Verluste. Es gibt aber Gewinne. Persönliche Beziehungen einer neuen Art können dort entstehen, wo sie frei eingegangen werden können, ohne durch die Zufälle der Geburt festgelegt zu sein; damit entsteht ein neuer Individualismus. In ähnlicher Weise können geistige Bande dort eine grössere Rolle spielen, wo die biologischen oder die physischen zurücktreten usf. Wie dem auch sei – unser Beispiel wird, wie ich hoffe, klargemacht haben, was mit einer mehr abstrakten Gesellschaftsform im Gegensatz zu einer mehr konkreten Sozialgruppe gemeint ist; und es wird auch klargemacht haben, dass unsere modernen offenen Gesellschaftsformen zum Grossteil auf dem Weg über abstrakte Relationen, wie Austausch oder Arbeitsteilung, funktionieren. (Die moderne Sozialtheorie, wie etwa die Volkswirtschaftslehre, befasst sich hauptsächlich mit der Analyse dieser abstrakten Beziehungen. Das wurde von vielen Soziologen nicht verstanden, zum Beispiel nicht von Durkheim, der niemals den dogmatischen Glauben aufgegeben hat, eine jede Gesellschaft müsse sich als Verband von konkreten sozialen Gruppen analysieren lassen.)
Im Lichte des bisher Gesagten ist es klar, dass der Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft eine der grössten Revolutionen genannt werden kann, die die Menschheit durchgemacht hat. Infolge dessen, was wir als den organischen Charakter der geschlossenen Gesellschaft beschrieben haben, muss dieser Übergang zutiefst empfunden werden. Wenn wir daher sagen, dass unsere abendländische Zivilisation von den Griechen herkommt, so sollten wir uns vergegenwärtigen, was das bedeutet. Es bedeutet, dass die Griechen für uns jene grosse Revolution begonnen haben, die sich, wie es scheint, noch immer im Anfangsstadium befindet, den Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaftsordnung.“
Quelle: 5) Seiten 233 / 234 / 235 / 236
Quellen:
1) Karl R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, Piper 1987.
2) Karl R. Popper, Alles Leben ist Problemelösen, Piper 2002.
3) Karl R. Popper, Alle Menschen sind Philosophen, Piper 2002.
4) Karl R. Popper, Die Zukunft ist offen, Piper 1985.
5) Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1, Bern 1957.
6. Kritik am Konzept der offenen Gesellschaft
Kritik an Poppers Konzept der offenen Gesellscaft übten unter anderem:
6. 1. Ralf Dahrendorf:
Er war der Meinung, der Poppersche Liberalismus unterschätze die Notwendigkeit und Bedeutung von sozialen Bindungen (Ligaturen) und Traditionen.(Quelle 1)
6. 2. William W. Bartley:
Er warf Popper im Gegensatz zu Dahrendorf Fideismus vor – eine Glaubenshaltung, die dem Glauben absoluten Vorrang vor der Vernunft beimisst – und kritisierte, Popper betone zu stark die Notwendigkeit von Traditionen. (Quelle 1)
6. 3. Joachim Fest:
Der deutsche Publizist und Historiker war der Ansicht, dass die offene Gesellschaft gemäß ihrer liberalen Grundauffassung nicht in der Lage sei, einen seiner Meinung nach notwendigen Minimalkonsens in Bezug auf Grundwerte herzustellen bzw. zu erhalten . Stattdessen würde eine offene Gesellschaft wie keine andere Gesellschaftsform auch ihren Gegnern Raum bieten, an ihrer Zerstörung zu arbeiten. Gegenüber utopischen Ideologien sei die offene Gesellschaft zudem wegen ihrer vermeintlichen „Inhaltsleere“ argumentativ im Nachteil. (Quelle 1)
6. 4. Michael Funken:
Der Publizist und Philosoph Michael Funken stellt Poppers Konzeption der offenen Gesellschaft an mehreren Punkten in Frage:
6. 4. 1. Die Institutionen sind nicht vorbereitet auf schlechte, inkompetente Herrscher
Zum Credo des Liberalismus gehört laut Funken, daß die Frage ‚Wer soll regieren?’ als Scheinfrage betrachtet wird. Für Karl Raimund Popper, der die Idee der liberalen Staatsform in seiner politischen Philosophie am deutlichsten formuliert habe, sei die Beantwortung dieser Frage ‚völlig nutzlos’. Man müsse sich vielmehr ‚von Anfang an mit der Möglichkeit schlechter Regierungen vertraut machen’ und wir täten ‚gut daran…, uns auf die schlechtesten Führer vorzubereiten‘.
„Popper wollte daher ‚politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten oder inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten’“, schreibt Funken. Das, so müsse man inzwischen zugeben, sei nicht gelungen, stellt Funken fest und verweist auf die schweren ökologischen, sozialen und ökonomischen Schäden.
Diese Argumentation lässt sich meines Erachtens nicht so leicht vom Tisch wischen, doch stellt sich die Frage, ob das Versagen der Herrschenden und damit der Institutionen sich verallgemeinern lässt.
Popper wollte eine Auswahl der Regierenden durch die Regierenden selbst verhindern und gelangte deshalb zur Schlußfolgerung, die Frage „Wer soll regieren?“ sei nicht das eigentliche Problem.
Funken dagegen schreibt, die Frage „Wer soll regieren?“ sei zwar nicht das eigentliche Problem. Sie müsse aber sehr wohl gestellt und auch beantwortet werden – aber eben nicht von den Regierenden, sondern von den Regierten.
Funken weist darauf hin, dass schon Platon und Aristoteles davor gewarnt haben, daß Oligarchen dazu neigen, am liebsten ihre eigenen Interessen zu verfolgen und den Staat als ihre Beute zu betrachten. Die wahren Feinde der offenen Gesellschaft sind nach Funken die jeweiligen Regierenden, und nicht Platon, Hegel und Marx, gegen die Popper polemisiert habe. Er postuliert eine normal-menschliche Neigung der Regierenden, die institutionelle Gewaltenteilung aufzuweichen. Popper habe zudem nicht berücksichtigt, daß auf allen Ebenen der „geteilten“ politischen Macht dauerhaft Inkompetenz herrschen könnte – im Sinne des „Peter-Prinzips“ (Jeder wird befördert bis zur Stufe seiner absoluten Unfähigkeit). Um die Stabilität der „Offenen Gesellschaft“ zu sichern bzw. wiederherzustellen, müssen die Machtbefugnisse der Repräsentanten eingeschränkt und diejenigen der Bevölkerung ausgebaut werden, schreibt Funken.
Aktueller Einschub von Martin Koradi: Gegenwärtig haben wir ein Live-Exemplar mit Donald Trump, dem perfekten Beispiel eines schlechten, inkompetenten Herrschers. Es wird sich zeigen, ob die US-amerikanischen Institutionen stark genug gebaut sind, um diesem Desaster standzuhalten.
6.4.2. Poppers Definition der Demokratie ist viel zu dünn.
Demokratie dürfe sich nicht darauf beschränken, einen unblutigen Regierungswechsel zu ermöglichen, schreibt Funken, und weist darauf hin, dass nach Poppers Definition die DDR aufgrund des unblutigen Umsturzes im nachhinein als demokratisch bezeichnet werden müsste.
Zur Ausdünnung der Demokratie trägt die liberalistische Vision des Staates entscheidend bei:
„Der Traum des liberalen Bürgertums war, eine politische Rechtsordnung zu schaffen, die quasi von selbst funktioniert wie eine gut geschmierte Maschine, so daß der einzelne sich ganz um seine eigenen Geschäfte kümmern konnte; ein maschinenartiger Staat, der anstelle von Öl und Sprit die Steuerzahlungen benötigte, wobei er natürlich möglichst sparsam sein sollte, sowie ab und zu als ‚Wartung’ die Beteiligung an einer Wahl. Der liberalistische Traum war daher der ausbalancierte, selbstregulierte Rechtsstaat: ein Staat, in dem die Gesetze und die gesetzlichen Institutionen herrschen, nicht einzelne Personen.“
Dieser maschinenartige Dienstleistungsstaat kann die Bürgerinnen und Bürger dazu verleiten, sich ausschliesslich um ihre eigenen Geschäfte und ihr Privatleben zu kümmern. Ein Staat jedoch, für den sich niemand einsetzt, ist nicht lebensfähig.
Demokratie hat sehr wohl damit zu tun, daß das Volk in die politischen Prozesse involviert ist und wesentlichen Anteil an der Politikgestaltung hat.
Die Mitbestimmung darf sich nach Funken allerdings nicht darauf beschränken, alle paar Jahre sehr undifferenziert die Macht an einige Parteifunktionäre zu delegieren, „die zudem vorab die Kandidatenliste unter sich auskungeln (so war es in der DDR auch). Darin liegt ein großer Teil des Volkszorns…….Die repräsentative Republik verlangt den Wählern schier Unmögliches ab – sie sollen mit einer einzigen Stimmabgabe ihre Meinung zu vielfältigen politischen Themen kundtun, und das auf Jahre hinaus.“
Die liberale Theorie des maschinenartigen Dienstleistungsstaat wurde vielfach von kommunitaristisch orienterten Denkern kritisiert. Charles Taylor etwa beklagte, dass die mangelnde Partizipation der Menschen an der Politik eine der „Grundvoraussetzungen des demokratischen Gemeinwesens“ ignoriere, nämlich, „daß Partizipation und die damit gegebene Würde ein bedeutendes menschliches Gut darstellen“ und daß „jede freie (d.h. nichtdespotische) Regierungsform einer starken Identifikation von seiten ihrer Bürger bedarf“. Der von den Vertretern des Kommunitarismus geforderte Gemeinsinn bzw. „Patriotismus“ will über den bloßen Interessenausgleich hinausgehen, fordert dafür jedoch notwendigerweise mehr Demokratie.
6.4.3. Die Gefahr der Atomisierung in offenen Gesellschaften
Funken verweist auf die Gefahr der Atomisierung in offenen Gesellschaften, auf die Vertreter des Kommunitarismus hingewiesen haben. Die Kommunitarier insbesondere in Kanada und den USA bemühen sich darum, die atomistischen Tendenzen des Liberalismus zu korrigieren. Die Gefahr einer Atomisierung der Gesellschaft hat allerdings Popper selbst schon thematisiert (Stichwort „abstrakte Gesellschaft“). (Quelle 2)
Quellen zum Abschnitt „Kritik am Konzept der offenen Gesellschaft“:
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Offene_Gesellschaft#Kritik
(2) http://www.michael-funken.de/sofiesmassage/Nurtext/demokrat.html
7. Kommentar zum Abschluss:
7.1. Gefährdung der offenen Gesellschaft
Das Konzept der offenen Gesellschaft wurde von Karl Popper als Reaktion auf die totalitären Staatsformen seiner Zeit entwickelt – insbesondere gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus.
Man muss dieses Konzept aus den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts nicht in allen Details überzeugend finden. In seinen Grundzügen ist es jedoch eine fulminante Verteidigung der freien, liberalen Demokratien westlicher Prägung.
Wie die oben aufgeführten Zitate gezeigt haben, war Popper skeptisch gegenüber der Vorstellung einer Volksherrschaft und damit auch gegenüber Volksinitiativen und Volksentscheiden. Das kann auf die Schweiz bezogen ziemlich provozierend wirken. Wir sind schliesslich (meistens) stolz auf unsere Instrumente direkter Demokratie. Popper trifft jedoch schon einen kritischen Punkt, wenn er die ideologische Überhöhung dieser Instrumente in Frage stellt. Die Mehrheit der Abstimmenden hat nicht immer einfach fraglos Recht. Und nach einer Volksabstimmung hat nicht einfach „das Volk“ gesprochen, weil es dieses homogene Volk so gar nicht gibt. Andererseits ist aber auch die Kritik von Michael Funken bedenkenswert, dass Mitbestimmung sich nicht darauf beschränken kann, alle paar Jahre Repräsentanten zu wählen. Gerade weil die offene Gesellschaft auf das engagierte Mitwirken der Bürgerinnen und Bürger in hohem Masse angewiesen ist, braucht es dazu ausgebaute Partizipationsmöglichkeiten. Auf diesen Punkt weisen auch Vertreter des Kommunitarismus immer wieder hin und die Vertreter der liberalen, offenen Gesellschaft sollten in ihrem eigenen Interesse zu solchen Modellen Hand bieten.
Die offenen, liberalen Demokratien westlicher Prägung sind nicht ohne Schwachstellen und Widersprüche. Sie haben uns aber eine lange Zeitspanne mit hoher Sicherheit, politischer Freiheit und materiellem Fortschritt gebracht, die in der Geschichte der Menschheit einmalig ist.
Ohne durchaus vorhandene Notlagen und Ungerechtigkeiten unter den Tisch zu wischen lässt sich feststellen, dass wir verglichen mit den allermeisten anderen Epochen und Erdregionen seit Jahrzehnten in einer relativen Komfort-Zone leben. Dieser Zustand wird wohl zu Unrecht von vielen gegenwärtigen Menschen als selbstverständliche Normalität empfunden. Als Folge dieser Selbstverständlichkeit fehlt in weiten Kreisen das Bewusstsein, dass stabile, demokratische Gesellschaften nur überleben, wenn Bürgerinnen und Bürger Engagement in sie investieren und sie verteidigen.
Seit einigen Jahren sind viele dieser liberalen, demokratischen Gesellschaften nun überraschend heftig in innere Krisen geraten und zudem von äusseren Feinden bedroht.
Sie werden weltweit herausgefordert durch links- und rechtspopulistische Bewegungen, sogenannte „iliberale Demokratien“ wie in Ungarn und Polen, autokratische Regime wie in Russland und der Türkei, islamistische und dschihadistische Bewegungen, einem egomanisch-populistischen Präsidenten in den USA…..
Höchste Zeit also, für die Verteidigung der liberalen und demokratischen Gesellschaftsordnungen aktiv zu werden. Dazu bietet das Konzept der offenen Gesellschaft nach Popper wesentliche Kernpunkte, auch wenn es natürlich an einigen Stellen den gegenwärtigen Verhältnissen angepasst werden muss.
Beispiele für solche zu verteidigende Kernpunkte:
- Im Gegensatz zu ideologisch festgelegten, geschlossenen Gesellschaften, die einen für alle verbindlichen Heilsplan verfolgen, gestattet die offene Gesellschaft den politischen und intellektuellen Meinungsaustausch, der auch kulturelle Veränderungen ermöglicht.
- Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Gewerbefreiheit sind daher zu garantieren.
- Der Staat hat die Pflicht zu religiöser Neutralität.
- Staatliche und gesellschaftliche Institutionen sind zwar unumgänglich, müssen sich in offenen Gesellschaften jedoch einer ständigen Kritik stellen und immer veränderbar bleiben.
7.2 Kritik des Kommunitarismus ernstnehmen
Wenn die offene Gesellschaft widerstandsfähig sein soll gegen ihre Feinde, muss sie die Kritikpunkte kommunitaristischer Denker am Liberalismus ernstnehmen und Antworten darauf finden. Einer atomisierten, abstrakten Gesellschaft fehlt es höchstwahrscheinlich an Substanz, um autoritäre, populistische und totalitäre Angriffe abzuwehren.
Denkerinnen und Denker wie Michael Sandel, Charles Taylor, Alasdair MacIntyre, Robert Bellah, Ben Barber, Martha Nussbaum und Amitai Etzioni, die sich zum Teil selber nicht als Kommunitaristen verstehen, haben hier wichtige kritische Fragen gestellt, auch wenn ihre Antworten nicht immer überzeugen und ihrerseits wiederum eigene Gefahren mit sich bringen.
Die liberale, offene Gesellschaft muss auf diese Fragen – zum Beipiel die Gefahren einer abstrakten Gesellschaft – eigene überzeugende Antworten finden, wenn sie resistent gegen Angriffe sein soll.
Es ist aber gerade eine Stärke der offenen Gesellschaft, dass sie sich selbstkritisch mit Schwächen und Widersprüchen auseinandersetzen kann und dadurch potentiell verbesserungsfähig ist.
7.3 Neue Feinde der offenen Gesellschaft?
Darüber hinaus gilt es die Augen offen zu halten für neu auftauchende Feinde der offenen Gesellschaft, die zu Poppers Zeiten noch gar nicht oder nur ansatzweise sichtbar waren.
Wachsamkeit scheint mir zum Beispiel geboten in folgenden Bereichen:
– Globalisierungsprozesse und multinationale Konzerne engen die Entscheidungsspielräume nationaler Demokratien zunehmend ein. Hier braucht es internationale Regulierungen und supranationale Entscheidungsgremien.
– Die fast unbegrenzte Datensammelwut von Geheimdiensten und kommerziellen Unternehmen wie Google und Facebook stellt die Privatsphäre fundamental in Frage und öffnet politischer und konsumbezogener Manipulation Tür und Tor.
– Die Bedrohung unabhängiger politischer Meinungsbildung durch zunehmende Kommerzialisierung und Konzentrierung der etablierten Medien und durch das Aufkommen von voll durchideologisierten, angeblich „alternativen“ Fake-News-Schleudern auf der Basis von Verschwörungstheorien, Hasspropaganda, Social Bots etc.
– Technologische Allmachtsphantasien, wie sie im Transhumanismus vertreten werden. Durch Optimierungsprozesse mittels genetischer und pharmakologischer Eingriffe sowie Cyborgisierung soll hier der Mensch perfektioniert und schliesslich überwunden werden, was zu drastischen Ungleichheiten führen kann zwischen einer kleinen optimierten Schicht und einer breiten Masse, die sich solche Eingriffe nicht leisten kann oder will (hier weiterführend zum Thema Transhumanismus-Kritik).
7. 4. Verteidigung der offenen Gesellschaft
Gegenüber solchen Allmachtsphantasien zeichnet sich Poppers Konzept der offenen Gesellschaft durch eine wohltuende Bescheidenheit aus. Als Leitlinie strebt sie anstelle einer Maximierung des Glücks die bescheidenere Minimierung des Leidens an.
In der offenen Gesellschaft geht das Bestreben der Akteure dahin, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu gestalten, dass kleine und vor allem korrigierbare Schritte möglich bleiben.
Dadurch lassen sich die Auswirkungen allfälliger Fehler begrenzen. Popper vertritt damit eine Idee der Fehlerfreundlichkeit, die im Kontrast steht zu utopischen Perfektheitsvorstellungen.
Dieser Beitrag konnte hoffentlich aufzeigen, wieviele verteidigenswerte Werte mit der offenen Gesellschaft verbunden sind und dass wir sie nicht als Selbstverständlichkeit betrachten können.
Identifizieren Sie sich mit der offenen Gesellschaft, interessieren Sie sich für gesellschaftspolitische Vorgänge, engagieren Sie sich für und in Strukturen, welche die offene Gesellschaft stärken.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde am Seminar für Integrative Phytotherapie in Winterthur (Schweiz) und Leiter von Kräuterwanderungen und Kräuterkursen.
Weitere Texte von mir zu gesellschaftspolitischen Themen:
– Was ist Populismus? Und was nicht?
Zusammenfassung des Populismus-Konzepts von Jan-Werner Müller.
– Notwendig: Den Sumpf der Hasspropaganda im Internet trockenlegen
Hauptsächlich eine Zusammenfassung von „Hass im Netz“ von Ingrid Brodnig.
– Demokratie braucht diskursive Gesprächskultur
Zum Mittelweg zwischen Relativismus und Dogmatismus.
– Wie Medien via Aufmerksamkeitsfalle den Populismus fördern. Eine Zusammenfassung des Buches „Die Aufmerksamkeitsfalle“ von Mattthias Zehnder.
– Hannah Arendt: Standnehmen in der Welt statt Weltentfremdung.
Die Sorge um intakte Weltbezüge in der modernen Gesellschaft.
– Ralf Dahrendorf zu den Gefährdungen liberaler Demokratien
Schleichender Autoritarismus, Staatsversagen, Einschränkung demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten im Nationalstaat infolge Globalisierung, neuer Regionalismus.
.- Lob der Kritik. Vom Wert der Kritikfähigkeit in Zeiten von Fake News.
Übersicht meiner gesellschaftspolitischen Buchempfehlungen.
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