Fakten, Wahrheit und Fachwissen stecken heute in der Krise. Als Folge davon haben wir es mit einer Expertenkrise zu tun, aber auch mit zunehmender Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat, weil der Populismus davon lebt, Wahrheit durch Meinung zu ersetzen.
Dieser Text gibt Einblick in ein sehr aktuelles, brisantes Thema. Kommen Sie mit auf eine Erkundungsreise und nehmen Sie sich Zeit dafür.
Wache und informierte Bürgerinnen und Bürger sind entscheidend, wenn es darum geht, diese Gefahren abzuwenden.
Ich versuche, so verständlich wie möglich zu formulieren. Wer mit einer Passage nichts anfangen kann, kann sie aber auch ganz einfach überfliegen, weiter nach unten scrollen und dort verdaubare „Nahrung“ und neue Inputs finden. So lässt sich der Text auch als „Steinbruch“ nutzen, aus dem man einzelne Bruchstücke aufnimmt, die sich später vielleich zu einem Ganzen fügen.
Martin Koradi
„Gesichertes Wissen und dummes Geschwätz stehen heute gleichberechtigt nebeneinander.“
Mit diesem Untertitel beginnt Mathias Pluess seinen Artikel „Wir Selbstverblöder“
(Das Magazin Nr. 27, 7. Juli 2018).
Damit bringt er die Expertenkrise auf den Punkt, mit der wir es heute zu tun haben.
Jeder sollte inzwischen zu fast allem eine Meinung haben. Informationen zu jedem Thema sind beinahe unbegrenzt, gratis und sofort im Internet zu finden.
Dadurch entsteht sehr leicht der Eindruck, Bescheid zu wissen.
Dass im Internet Informationen weitgehend ungewichtet und ohne Qualitätssicherung daher kommen, geht dabei leicht unter.
Die Krise des Expertentums tangiere nicht bloss die Wissenschaft, schreibt Mathias Pluess (1):
„Ärztinnen berichten von Patienten, die keinen Rat suchen, sondern Behandlungen einfordern, die sie zuvor ergoogelt haben. Architektinnen und Handwerker erzählen von Kunden, die ihnen vorschreiben wollen, wie sie ihre Arbeit zu verrichten hätten. Und Lehrer müssen sich mit Eltern auseinandersetzen, die partout nicht akzeptieren wollen, dass die Antwort ihres Kindes in der Prüfung falsch war.“
Nun ist es ja keineswegs verkehrt, Fachleuten kritisch auf den Zahn zu fühlen. Dazu braucht es aber mehr als eine Meinung. Dazu braucht es Wissen. Und wenn man dieses Wissen nicht selber hat und sich auch nicht selber fundiert in das betreffende Thema einarbeiten kann oder will, dann muss man dazu andere Expertinnen oder Experten anhören. In der Medizin wäre das dann zum Beispiel eine Zweitmeinung zu einer empfohlenen Operation, eingeholt bei einem Arzt, der die Operation nicht selber vornehmen wird.
Populismus ersetzt Wahrheit durch Meinung
„Meinung“ triumphiert aber nicht nur über Expertenwissen. Sie dehnt sich auch zunehmend in den Bereich der Politik aus. Diese Entwicklung ist verstärkt zu beobachten seit dem Aufkommen des Populismus (Text: „Was ist Populismus“ hier).
Björn Milbradt (2) schreibt dazu:
„Der Populismus lebt davon, Wahrheit zu zerstören und durch blosse Meinung zu ersetzen. Während der Begriff Wahrheit…….einen Vorgang bezeichnet, in dem der Gegenstand durchaus mehr oder weniger gut ‚getroffen’ oder auch ganz verfehlt werden kann, geht es den Rechtspopulisten darum, Wahrheit zum Verschwinden zu bringen…..
Es geht ihnen einerseits darum, die Wahrheit als solche aufzulösen, denn…….wo es keine Wahrheit gibt, kann man den Rechten auch nichts mehr entgegensetzen. Der Kampf um den Begriff der Wahrheit und die mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Praktiken und Praxen ist einer der zentralen bei der Verteidigung moderner, aufgeklärter und demokratischer Gesellschaften. Die Diskreditierung ihrer verschiedenen Vermittlungsinstanzen: freie Presse (‚Lügenpresse’), die verschiedenen Instanzen und Prozesse der repräsentativen Demokratie (‚Volksverräter’) oder von Wissenschaft und Forschung……zielen darauf, Wahrheit durch blosse Meinung zu ersetzen. In einem zweiten Schritt, nachdem dieses politische und gesellschaftliche Immunsystem diskreditiert oder weitgehend zerstört wurde, bleibt eine Meinung übrig: die der Rechtspopulisten.“ (2)
Wenn Fakten und Wahrheit ausreichend zerstört und vernebelt worden sind, können Rechtspopulisten die Menschen unmittelbar und direkt bei blossen Meinungen abholen und in den passenden Meinungen bestärken (zum Beispiel via Facebook und Twitter).
Milbradt sieht darin den Kern populistischer Mobilisierungsstrategien:
„Indem die Menschen in ihrer unmittelbaren, noch vor dem vermittelnden und reflexiven Kontakt mit der komplexen Realität vorliegenden blossen Meinung abgeholt und bestärkt werden, wird eine Pathologie als Normalität installiert. Dafür müssen Vermittlungsinstanzen und die klassischen Vorstellungen von Wahrheit und Aufklärung angegriffen und umgedeutet, gesellschaftliche Institutionen und Bildungssysteme umgebaut und ‚gleichgeschaltet’ werden. Die Menschen müssen darin bestärkt werden, dass immer die ‚Anderen’ lügen und verraten und dass sie, die Rechtspopulisten, die eigentlichen Aufklärer und Wahrheitsliebenden sind, die mit Zivilcourage gegen eine verlogene und ideologisierte Welt kämpfen.“
Der psychologische Vorteil, den die Menschen aus diesem Triumph der Meinung ziehen, sei, dass sie weitgehende Anstrengungslosigkeit verspreche:
„Die komplizierten und langwierigen Prozesse von Erkenntnis, Erfahrung, Komplexität, Scheitern, Fremdheits- und Unwissenheitserfahrungen bleibt so gänzlich (und im wahrsten Sinne des Wortes) aussen vor.“ (2)
Vielleicht passt dazu ein Zitat von Charles Darwin:
„Unwissenheit erzeugt viel eher Selbstvertrauen als Wissen.“
Trumps „Alternative Fakten“
Unzählige Beispiele, wie Meinung über Fakten und Argumente triumphiert, liefert Donald Trump und seine Entourage. Besonders drastisch war die Lancierung des Begriffs „Alternative Facts“ durch die Präsidentenberaterin Kellyanne Conway, als sie mit Fakten konfrontiert wurde, die Trumps Behauptungen über die Zahl der Besucher bei seiner Amtseinführung widerlegten.
Es kann zwar jeder und jede eine eigene Meinung haben, aber nicht eigene Fakten. Würden wir uns alle auf eigene Fakten beziehen, hätten wir keinen gemeinsamen Boden mehr, um Lösung für politische und andere Probleme zu diskutieren und umzusetzen.
Herrscht nurmehr Meinung anstelle von Fakten und Argumenten, lässt sich kein Hebel mehr finden, um Mächtige zu kritisieren und es werden sich diejenigen durchsetzen, die mehr Macht, mehr Geld und die bessere Propaganda haben. Wenn alles zur Meinungssache wird, wird es immer zugleich zur Machtfrage.
Selbstverständlich soll und darf jeder Mensch seine eigene Meinung haben und demokratische Gesellschaften kommen ohne Meinungsäusserungsfreiheit nicht aus.
Problematisch wird es allerdings, wenn Meinung dominiert und Fakten, Argumente und das Streben nach Wahrheit verdrängt.
In der Alltagssprache wird oft nicht überschieden zwischen „Meinung“, „Glaube“, „Überzeugung“ und „Wissen“.
Diese Begriffe so gut wie möglich zu verstehen und so gut wie möglich auseinanderzuhalten ist jedoch wichtig, und es gibt eine lange Geschichte solcher Differenzierungsversuche, die bis in die Antike zurück reicht.
Klassisch ist Platons Gegenüberstellung von blosser Meinung (griechisch „doxa“) und Wissen (griechisch „Episteme“) als „wahrer, mit Begründung versehener Meinung“.
Eine weitere klassische Differenzierung, die auf Kant zurückgeht, wird auf Wikipedia so zusammengefasst:
„Nach einer verbreiteten philosophischen Begriffsverwendung ist das Meinen ein Fürwahrhalten, dem sowohl subjektiv als auch objektiv eine hinreichende Begründung fehlt. Dadurch unterscheidet sich das Meinen vom Glauben und vom Wissen. Von Glauben spricht man, wenn jemand eine Aussage für wahr hält, ihre Wahrheit also subjektiv als gesichert erscheint, obwohl der Glaubende keine objektiv zureichende Begründung dafür angeben kann. Der Unterschied zum Wissen besteht darin, dass der Wissende nicht nur von der Wahrheit der Aussage überzeugt ist, sondern auch über eine objektiv zureichende Begründung dafür verfügt.“
Quelle: Wikipedia
Kant hat „meinen / glauben / wissen“ als drei Weisen des Für-wahr-Haltens in der „Kritik der reinen Vernunft“ untersucht.
Er unterscheidet zwischen einer subjektiven Komponente des Für-wahr-Haltens, dem Überzeugtsein, und einer objektiven Komponente des Für-wahr-Haltens, dem Verfügen über eine Begründung, die methodisch sein kann, zum Beispiel nach den Regeln einer Wissenschaft.
Meinung:
Subjektiv fehlt der Meinung eine hinreichende Begründung (ich habe keine Gewissheit, es schwingt immer ein Zweifel mit, ich bin nicht 100% überzeugt).
Objektiv fehlt eine hinreichende Begründung. „Meinen“ erhebt keinen Anspruch auf Begründung.
Glauben:
Subjektiv bin ich mir gewiss. Vollkommende, aber private Überzeugung (für mich selbst), basierend zum Beispiel auf interpersoneller Gewissheit (Ich glaube dir) oder auf Offenbarung.
Objektiv fehlt eine hinreichende Begründung.
Wissen:
Subjektiv bin ich mir gewiss. Vollkommende Überzeugung.
Objektive Begründbarkeit ist unverzichtbar. Intersubjektive Gewissheit (für jedermann).
In den folgenden Abschnitten sollen einige zentrale Aspekte der Begriffe „Meinung“ und „Wissen“ zumindestens bruchstückhaft vorgestellt werden.
Meinung
Was charakterisiert eine Meinung?
Herbert Schnäbelbach (3) schreibt dazu, dass die Gedanken, die ich fasse, oder die Sätze, die ich formuliere, als bloss beliebige noch keine Meinungen sind: „…ich kann sie im Nachdenken erwägen oder auch nur zitieren und dabei offenlassen, wie ich dazu stehe. Was bei der Meinungsbildung hinzutreten muss, ist ein gewisses Mass an Zustimmung, das man daran ablesen kann, ob jemand bereit ist, seine Meinungen im Gespräch auch zu vertreten….“
Im Vergleich zum Glauben kommt das Meinen schwächer daher. Das lässt sich daran erkennen, dass wohl noch niemand sein Leben für eine Meinung riskiert hat, wohl aber für einen Glauben.
Subjektivität der Meinung
Hegel schreibt, „…eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke.“
Damit liegt schon im Begriff „Meinung“ begründet, dass das Meinen ein subjektives Geschehen ist. Die blosse Meinung kommt nicht aus der Unmittelbarkeit des Subjekts heraus.
Milbradt (2) schreibt dazu:
«Schon in unserem Alltagserleben kennen wir Situationen, wo die persönliche Meinung als etwas Unantastbares, nicht der Diskussion oder Reflexion und Kritik zugängliches behandelt wird, etwa wie der (falsche und fatale, aber äusserst beliebte) Satz ‚Über Geschmack lässt sich nicht streiten’: „Lass’ ihn, es ist halt seine Meinung!“. Bereits in Hegels ‚Phänomenologie des Geistes’ (Hegel, 1988) wird das ‚Meinen’ als ein dem Geist wesentlicher Zustand beschrieben, der aber Erstarrung bedeutet, wenn dieser ihn nicht in dialektische Bewegung zu bringen vermag…..
Im Grunde handelt es sich hierbei um einen gänzlich isolierten Zustand, in dem der Geist ganz auf sich beschränkt bleibt und noch nicht in Vermittlung mit der Welt, ihren Gegenständen und Bewohnern getreten ist und auch den Mechanismen des eigenen Denkens noch nicht auf die Spur gekommen ist. »
Milbradt verweist auf den an Hegel geschulten Theodor W. Adorno, für den das Verharren in der blossen Meinung auch ein Zustand ist, „in dem der Geist erfahrungslos bleibt, die Eigenanteile des Denkens auf die Welt projiziert und damit im Pathologischen und in erstarrter Einsamkeit und Leere verharrt.“
Die Gefahr, in der blossen Meinung zu verharren, stecke in aller menschlichen Praxis.
Theodor W. Adorno (1903 – 1969) hat zu diesem Thema einen kleinen Aufsatz geschrieben, in dem er den Mechanismus der Ausbreitung blosser Meinung und die darauf folgende Erstarrung von Weltbildern eindringlich analysiert. Für ihn fängt das Verhängnis bereits dort an, wo Meinung sich an die Stelle von Erfahrung und Reflexion setzt. Denn im Unterschied zu Erfahrung und Reflexion – die immer ein Moment der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt haben – bleibt die blosse Meinung rein subjektiv und kommt nicht aus der Unmittelbarkeit des Subjekts heraus. Meinungen haben nach Adorno auch die Tendenz, zu Glaubensbekenntnissen, ja zu Wahnsystemen zu werden. Wie sich das unter den heutigen, digitalen Möglichkeiten auswirken kann, beschreibt Gustav Seibt (4):
«Meinungen können sich als Filterblasen mit abgezirkelten Kommunikationskreisen, durchgezählten „Likes“, viralen Erdrutschen in elektronischen Massenbewegungen organisieren. In diesen geschlossenen Wahnwelten sind „Fakten“ nur das austauschbare Kleingeld der Verständigung. Wenn die eine Münze nicht passt, nimmt man eben eine andere.»
Hier ein Zitat von Adorno aus dem erwähnten Aufsatz:
„Wer eine Meinung hat über eine Frage, die einigermaßen offen ist, nicht vorentschieden; deren Beantwortung nicht ebenso leicht sich überprüfen läßt wie die Anzahl der Stockwerke eines Gebäudes, neigt dazu, sich in diese Meinung festzumachen oder, nach der Sprache der Psychoanalyse, sie affektiv zu besetzen. Töricht wäre, wer immer von dieser Neigung sich freispräche. Sie beruhe auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wird, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern. Vernunft im Dienst der Unvernunft – nach Freuds Sprache: die Rationalisierung – springt der Meinung bei und verhärtet sie so, daß sich weder mehr daran rühren läßt, noch ihre Absurdität offenbar wird. Über den aberwitzigsten Meinungen wurden erhabene Lehrgebäude errichtet. Man mag bei der Genese solcher verhärteten Meinung – und sie ist eins mit deren Pathogenese – über die Psychologie hinausgehen. Die Setzung einer Meinung, die bloße Aussage, irgend etwas sei so, enthält potentiell bereits Fixierung, Verdinglichung, noch ehe die psychologischen Mechanismen ins Spiel kommen, welche die Meinung zum Fetisch verhexen. Die logische Form des Urteils, gleichgültig ob richtig oder falsch, hat in sich etwas Herrschaftliches, Verfügendes, das dann in der Insistenz auf Meinungen als auf einem Besitz sich widerspiegelt. Überhaupt eine Meinung haben, urteilen, dichtet sich schon in gewissem Maß gegen die Erfahrung ab und tendiert zum Wahn, während andererseits doch nur der zum Urteil Fähige Vernunft hat: das ist vielleicht der tiefste und untilgbare Widerspruch im Meinen.“
Aus: Theodor W. Adorno – Meinung Wahn Gesellschaft, in:
Adorno – Eingriffe: Neun kritische Modelle, 1. Auflage 1963, Suhrkamp, S. 150f
Zitiert aus: https://dontread.blogsport.de/2015/04/24/zitate-1-adorno-ueber-die-meinung/
Soweit quasi zu Risiken und Nebenwirkungen der Meinungen. Sie können zu Erstarrung und Isolation von Weltbildern und Haltungen führen, wenn sie nicht durch Erfahrung, Reflexion, Dialog und Dissens weiter entwickelt und erweitert werden.
Bestätigungsfehler formt Meinung
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie Meinungen überhaupt zustande kommen.
Mathias Pluess (1) schreibt dazu:
„In der Realität ist es selten so, dass sich die Menschen ihre Meinung aufgrund von Fakten bilden. Vielmehr kommt die Meinung zuerst, und nachher suchen wir nach den passenden Fakten.“
Dieses Phänomen heisst „confirmation bias“ (Bestätigungsfehler). Es handelt sich dabei um die Neigung, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen (bestätigen). Informationen, die unseren Überzeugungen widersprechen, werden dagegen eher übersehen und viel weniger leicht aufgenommen.
Das Internet vereinfacht diese Suche nach bestätigenden Informationen massiv – unterstützt von Algorithmen, die uns Beiträge zuführen, die uns zusagen.
Mathias Pluess zitiert dazu Dietram Scheufele, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Wisconsin:
«Das ist das Paradox unserer neuen Informationswelt: Es war noch nie so leicht, alle Informationen zu finden, die man haben will. Es war aber auch noch niemals so leicht, all jenen Informationen auszuweichen, die man nicht haben will.»
Und natürlich werden Meinungen auch geprägt durch soziale und psychische Mechanismen wie unsere Herkunft oder die Gruppe der Gleichaltrigen. Glauben wir etwas, was unser Umfeld missbilligt, kann das eine äusserst unangenehme Erfahrung sein, die uns dazu bringt, unbewusst eine Überzeugung zurechtzuschneidern, die uns mit den anderen in Übereinkunft bringt.
Wissen
Wirksames Handeln und die Lösung von Problemen aller Art setzen Wissen voraus – sowohl auf der individuellen Ebene als auch im gesellschaftlichen Bereich.
Die Diffamierung von Wissen und das Ersetzen von Wissen durch Meinung – wie es seit einiger Zeit leider ein Trend zu sein scheint – ist deshalb ein ausgesprochen destruktiver Vorgang.
Daher ist es wichtig, Wissen und insbesondere das Streben nach Wissen in Schutz zu nehmen und sich dafür stark zu machen.
Gemeint ist damit nicht ein absolutes Wissen, sondern immer ein vorläufiges, unvollständiges und revidierbares Wissen.
In den Schriften von Karl Popper (1902 – 1994) finden sich viele Aussagen, die eine solche bescheidene Grundhaltung in Bezug auf Wissen ansprechen:
„Je mehr wir über die Welt erfahren, je mehr wir unser Wissen vertiefen, desto bewusster, klarer und fester umrissen wird unser Wissen über das, was wir nicht wissen, unser Wissen über unsere Unwissenheit. Denn die Hauptquelle unserer Unwissenheit liegt ja darin, dass unser Wissen nur begrenzt sein kann, während unsere Unwissenheit notwendigerweise grenzenlos ist.“ (5)
„Es dürfte uns gut tun, uns manchmal daran zu erinnern, dass wir zwar in dem Wenigen, das wir wissen, sehr verschieden sein mögen, dass wir aber in userer grenzenlosen Unwissenheit alle gleich sind.“ (5)
„Es ist wichtig, unsere Unwissenheit nie zu vergessen. Wir dürfen daher nie vorgeben zu wissen, und wir dürfen nie zu grosse Worte gebrauchen.“ (6)
Eine solche bescheidene Grundhaltung kann ein Stück weit schützen vor der Absolutsetzung, Dogmatisierung und Fanatisierung von Wissen. Sie soll aber nicht davon abhalten, nach dem bestmöglichen Wissen zu streben und Wissen zu verteidigen, wenn es durch Meinung hinweggespült zu werden droht.
Wissenschaftliches Wissen
An diesem Punkt ist ein Hinweis auf eine Spezialform des Wissens passend: Das wissenschaftliche Wissen.
Es zeichnet sich dadurch aus, dass Wissenschaft planmässig und in geregelten Verfahren kritisch geprüftes Wissen erzeugt.
Die Werte, nach denen sich Wissenschaft richten soll, sind bei Wikipedia übersichtlich zusammengefasst und hier wörtlich aufgeführt:
- Eindeutigkeit: Da die Beschreibung in Schrift erfolgt, geht man möglichen Irrtümern bereits hier aus dem Weg, indem man in der Einleitung die verwendeten Begriffe (das Definiendum) möglichst exakt definiert (das Definiens). Die Definition selbst wird so einfach und kurz wie möglich gehalten, sodass sie von jedermann verstanden werden kann.
- Transparenz: Die Arbeit enthält eine Beschreibung, wie die Zusammenhänge und Fakten erarbeitet wurden. Diese Beschreibung sollte so vollständig sein wie nur möglich. Darin eingeschlossen sind Verweise auf andere wissenschaftliche Arbeiten, die als Grundlage benutzt wurden. Ein Verweis auf nicht-wissenschaftliche Arbeiten wird vermieden, da dadurch das ganze Gebäude der Arbeiten ins Wanken geriete.
- Objektivität: Eine Abhandlung beinhaltet nur Fakten und objektive Schlussfolgerungen. Beide sind unabhängig von der Person, die die Abhandlung geschrieben hat. Sie folgt dem Prinzip des Realismus. Bei Schlussfolgerungen wird vermieden in die Denkfalle der Scheinkorrelation zu treten.
- Überprüfbarkeit: Die in der Arbeit beschriebenen Fakten und Zusammenhänge können von jedermann zu jeder Zeit überprüft werden (Validierung und Verifizierung). Als Grundlage dient der oben genannte Grundsatz der Transparenz. Schlägt die Überprüfung (wissenschaftlich nachweisbar) fehl, muss die Arbeit ohne Wenn und Aber korrigiert oder zurückgezogen werden (Falsifizierung). Dies sichert den Wahrheitsgehalt der Summe aller wissenschaftlichen Arbeiten.
- Verlässlichkeit: Die in der Arbeit beschriebenen Fakten und Zusammenhänge bleiben über den in der Arbeit angegebenen oder zumindest über einen genügend langen Zeitraum stabil.
- Offenheit und Redlichkeit: Die Arbeit beleuchtet alle Aspekte eines Themas neutral und ehrlich, nicht nur vereinzelte vom Autor herausgepickte Aspekte. Dadurch bekommt der Leser einen breiten und vollständigen Überblick. Auch an Selbstkritik sollte es nicht fehlen.
- Neuigkeit: Die Arbeit führt zu einem Fortschritt in der Erkenntnis.
Quelle: Wikipedia
Das sind natürlich ideale Werte, nach denen Wissenschaft streben soll, die aber auch verfehlt werden können und auch immer wieder verfehlt werden..
Wichtig ist dabei Transparenz.
John Dewey (1859 – 1952) hat als das „erste Erfordernis des wissenschaftlichen Verfahrens…“ die „volle Öffentlichkeit der Materialien und Prozesse“ bezeichnet (in: „Erfahrung, Erkenntnis und Wert“, Suhrkamp 2004).
Transparenz ist aber auch ein gutes Kriterium, wenn ich im Internet eine Aussage finde und deren Glaubwürdigkeit überprüfen möchte. Liegt offen, wie diese Aussage zustande gekommen ist? Wo sie herkommt? Wer sie auf welchem Hintergrund in die Welt gesetzt hat?
In der Wissenschaft ist Transparenz die Voraussetzung für Überprüfbarkeit. Nur wenn alle Materialien und Prozesse offen liegen und genau beschrieben wurden, kann zum Beispiel ein Experiment durch ein anderes Forschungsteam überprüft werden. Erst die Überprüfung sichert die Erkenntnis. An diesem Punkt hat die Wissenschaft allerdings ein ernsthaftes Problem. Längst nicht alle Experimente und Studien werden von anderen Forschungsteams überprüft und bestätigt.
Wichtig ist aber auch, dass Wissenschaft kein One-man- oder One-woman-Betrieb ist.
Wissenschaft geschieht im Rahmen einer scientific community von Forschenden, die zusammen an einem bestimmten Thema arbeiten. Sie diskutieren dort Fachfragen, stellen neue Fragen und evaluieren wissenschaftliche Beiträge. Eine Aufgabe der scientific community ist es auch, die Wissenschaft zu evaluieren und zu legitimieren. Dazu gehört auch gegenseitige Kritik unter Fachleuten. Denn auch wenn im Vergleich zum Alltagswissen wissenschaftliches Wissen auf methodischen, geregelten Verfahren und strengen Prüfkriterien basiert, gibt es unterschiedliche Methoden und unterschiedliche Prüfungsgesichtspunkte. Darum sind gelegentliche Meinungsverschiedenheiten unter Forschenden unvermeidlich. Das stellt die Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens nicht grundsätzlich in Frage. Es zeigt aber, dass Prüfung und Bewährung nicht ein für alle mal gültig sind, sondern immer wieder in Frage gestellt werden können. Die kritische Auseinandersetzung in der Community ist auch eine Art der Qualitätskontrolle. Denn auch Wissenschaftler haben blinde Flecken und sind anfällig für Täuschungen.
Wissen, das die kritische Auseinandersetzung in der Community überstanden hat, ist deshalb bewährter als die isolierte Idee einer Einzelfigur.
Zusammenhang von Wissen und Wahrheit
Wenn wir davon ausgehen, dass Wissen wahr und begründet sein muss, dann führt der Wissensbegriff notwendigerweise zum Problem der Wahrheit.
Und Wahrheit ist in diesem Zusammenhang ein heikler Punkt, an dem Wissen oft angegriffen wird.
Was genau unter Wahrheit zu verstehen ist, ob es sie überhaupt gibt und wie man sie feststellen kann, das sind durchaus umstrittene und schwierige Fragen.
Im Alltag kommen allerdings auch die grössten Infragesteller der Wahrheit nicht ohne sie aus. Wenn der Fahrplan angibt, dass der Intercity nach Bern um 15.58 fährt, dann werden sie alles daran setzen, spätestens zu diesem Zeitpunkt am Bahnsteig zu stehen. Sie betrachten den Fahrplan wohl kaum einfach als Ansichtssache.
Und bei der Erziehung werden sie ihren Kindern wohl irgendeine Vorstellung von Wahrheit vermitteln.
Wir können auch keine Behauptungssätze formulieren im Stil von „Draussen regnet es“, ohne dass damit ein Wahrheitsanspruch verbunden ist. Behauptungssätze unterscheiden sich durch den mit ihnen verbundenen Wahrheitsanspruch von Äusserungen wie „Guten Abend“ oder „Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt“.
Mit der Vorstellung, dass alles nur Ansichts- oder Meinungssache sei, kommt man also im Alltag nicht weit. Und vor Gericht, in der Medizin oder beim Bau von Brücken reichen Meinungen nicht aus.
„Wahrheit“ hat im Alltag eine unverzichtbare Bedeutung. Sie lässt sich nur in abgehobenen philosophischen oder esoterischen Zirkeln wegdiskutieren (und das dann paradoxerweise meistens mit einem gewissen Wahrheitsanspruch).
Wahrheitstheorien
Obwohl die Bedeutung von „Wahrheit“ im Alltag also sehr offensichtlich auf der Hand liegt, ist es durchaus schwierig genau zu fassen, um was es sich bei der Wahrheit handelt und wie sich sich feststellen lässt.
In der Philosophie wurden verschiedene Wahrheitstheorien entwickelt, die aber alle ihre Schwächen haben. Ein schematischer Überblick zu verschiedenen Wahrheitstheorien ist hier zu finden auf Wikipedia.
In der Philosophiegeschichte dominierte über weite Strecken als Wahrheitstheorie die Korrespondenztheorie: Wahr ist Wissen dann, wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Doch wie lässt sich diese Übereinstimmung feststellen? Wie ist dem Menschen „die Wirklichkeit“ zugänglich, wenn nicht in seinem Wissen? Die scheinbar einfache Bestimmung der Wahheit mittels der Korrespondenztheorie dreht sich im Kreis. Die Sicherheit meines Wissens lässt sich nicht mit der „Wirklichkeit“ begründen, sondern nur mit anderem Wissen, das seinerseits wiederum zu begründen ist. Darum wurde die Idee der Wahrheit durch den Grundsatz der Bewährung abgelöst. Wissen gilt als bewährt, wenn es, zumindestens vorläufig, kritischer Prüfung standhält. Ob das Wissen mit der Wirklichkeit übereinstimmt, lässt sich nicht grundsätzlich prüfen.
Ich kann jedoch prüfen,
– ob ein bestimmtes Wissensstück mit anderen Wissenstücken widerspruchslos verträglich ist (Kohärenztheorie der Wahrheit),
– ob ich aus einem Wissenstück Voraussagen ableiten kann, die dann später durch meine Beobachtungen bestätigt werden (empirische Prüfung),
– ob ich mit meinem Wissen Handlungen planen und durchführen kann, die den erwünschten Erfolg haben (pragmatische Wissenstheorie),
– ob mein Wissen von anderen denkenden Menschen geteilt wird (Konsenstheorie der Wahrheit).
Keines dieser Prüfverfahren gewährleistet allerdings vollständige Gewissheit. Hält eine Auffassung jedoch keinem dieser Prüfverfahren stand, muss ich jedoch zugeben, dass sie sich nicht bewährt. Es handelt sich dann nicht um Wissen, sondern um blosses Meinen. (7)
Unter anderem aus diesen Schwierigkeiten heraus haben sich Positionen entwickelt, die den Begriff der Wahrheit komplett ablehen oder jedem seine eigene Wahrheit zugestehen.
Solche Positionen werden meist als Relativismus bezeichnet.
Relativismus
Der Relativismus behauptet mit dem Hinweis auf die subjektive Abhängigkeit aller Beurteilung, dass es keine Objektivität und somit auch keine verbindliche Wahrheit gibt. Die klassische Formulierung dieser Überzeugung stammt vom Sophisten Protagoras (481 – 411 v. u. Z.):
„Der Mensch ist der Massstab aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind. Sein ist jemandem Erscheinen.“
Aus dem Zusammenhang dieses Satzes ergibt sich, dass Protagoras nicht den Menschen als Gattungswesen meinte, sondern dass jeder einzelne Mensch der Massstab sei. Wahr ist für ihn nur, was jemandem so und nicht anders erscheint, und das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Das sieht auf den ersten Blick aus wie ein Freiheitsgewinn für den einzelnen Menschen, weil er dadurch eine eigene Meinung haben darf.
Platon (428/427 – 348/347 v. u. Z.) hat die Lehre des Protagoras aber heftig bekämpft, weil durch sie die Suche nach der Wahrheit gegenstandslos zu werden droht. Das ist allerdings nur dann ein Argument, wenn man einen tragfähigen Wahrheitsbegriff für möglich hält, und genau diesen Punkt bestreitet Protagoras. Sextus empiricus (2. Jhd.) schreibt, Protagoras habe behauptet, „es seien sämtlicheVorstellungen und Meinungen wahr, und die Wahrheit gehöre zu den relativen Dingen, weil alles, was ein Mensch sich vorstellt oder meint, im Hinblick auf diesen ‚auch’ wirklich wahr sei“.
Der Wahrheitsrelativismus, der das Prädikat «…ist wahr» ausschliesslich im Sinn von «…..ist wahr für jemanden» versteht, hebt damit auch die Differenz zwischen Wahr und Falsch auf, denn – so erklärt Sextus Empiricus die Position des Protagoras – „alles, was dem Menschen so vorkommt, ist auch wirklich so, was aber keinem einzigen Menschen erscheint, das ist überhaupt nicht vorhanden“.
Somit entfällt die Möglichkeit, dass ein angeblich Wahres auch falsch sein könnte. Damit ist es müssig, über Wahrheitsansprüche entscheiden zu wollen. Der mit dem Wahrheitsbegriff in der Regel verbundene Anspruch, nämlich objektiv und damit für jedermann verbindlich zu sein, entfällt.
Das entlastet vom Aufwand, sich mit diesen Wahrheitsfragen auseinanderzusetzen, was wohl einen Teil der Attraktivität des Relativismus ausmacht.
Die Konsequenzen des aufgegebenen Wahrheitsanspruchs deuten sich schon im Titel einer Schrift des Protagoras an: „Wahrheit oder niederwerfende (Reden)“.
Herbert Schnäbelbach (3) schreibt dazu:
„In der menschlichen Rede kann es jetzt nicht mehr darum gehen, ob das Gesagte zutrifft, sondern nur noch um den Effekt, also das «Niederwerfen» des Anderen im Streit. Genau diese Wirkungen versprach Protagoras als Rhetoriklehrer, wenn man sich von ihm gegen Honorar belehren liess; da es ohnehin in jeder Angelegenheit verschiedene und meist konträre Ansichten gebe, komme es in der Öffentlichkeit und vor allem vor Gericht nur darauf an, welche sich in der Auseinandersetzung schliesslich durchsetzt, und durch Redekunst sei es somit möglich, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen…….
Wenn Protagoras recht hat mit seiner These, dass jeder über seine eigene Wahrheit verfügt, ist es im Konfliktfall sinnlos, argumentieren und das Gegenüber mit Gründen überzeugen zu wollen, und somit verbleiben nur Rhetorik und Eristik (Streitkunst, M.K.) als die Fähigkeiten, jemanden zu überreden oder ‚niederzuwerfen’. Was wir für das bessere Argument oder gar die Wahrheit halten mögen, wird hier zu einer blossen Frage von Stärke und Schwäche, und das gilt dann auch für alle anderen Geltungsansprüche, z. B. für das Gute und Gerechte, denn ob das, was wir dafür halten, auch wirklich gut oder gerecht sei, ist jetzt eine sinnlose Frage. So behauptete Trasymachos, ‚dass die Gerechtigkeit nichts anderes ist als der Nutzen des Stärkeren’….und was der für nützlich hält und als der Stärkere durchzusetzen vermag, ist dann eben gerecht.“
Die Mächtigen haben in einem relativistischen Umfeld, in dem Wahrheitsansprüche keine Rolle spielen, optimale Bedingungen, ihre Meinung durchzusetzen. So verspricht der Relativismus auf den ersten Blick zwar einen Freiheitsgewinn für das einzelne Individuum, weil jeder seine eigene Meinung haben kann (und sich dabei nicht um Begründungen kümmern muss). Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich als problematische Kehrseite: Wenn alles zur Meinungssache wird, ist es immer gleichzeitig eine Machtfrage.
Darum weigern sich Platon und die meisten Philosophen bis heute, das Wahrheitsthema auf sich beruhen zu lassen und fragen sich, was es für unser Leben bedeute, wenn in allen Dingen die Macht das letzen Wort behalte.
Herbert Schnäbelbach hat auf den Punkt gebracht, worauf es hinausläuft, wenn Macht das letzte Wort hat, weil auschliesslich Meinung herrscht.
Die Macht „entschiede dann nicht nur über Recht und Moral, sondern auch darüber, was der Fall ist und was nicht. In diesem Sinn versuchen alle totalitären Systeme, die Fakten in die Hand zu bekommen und durch ihre Medienmacht zu definieren, was in Geschichte und Gegenwart der Fall war und ist. Platons Empörung über die Sophisten, die im nicht immer fairen Debattenstil seiner Dialoge deutlich wird, ist nicht einfach aus einem sentimentalen Vorurteil für die Wahrheit zu erklären, sondern letztlich aus einem politischen Erschrecken, das wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sehr wohl nachfühlen können: Wie sähen Staat und Gesellschaft aus als blosse Machtstrukturen? Wollen wir wirklich in Verhältnissen leben, in denen Fakten und normative Ansprüche nicht zählen, weil alles danach entschieden wird, ob es für die Mächtigen opportun ist oder nicht? Wir können das nicht wollen, und selbst wenn wir meinen, zu den Mächtigen zu gehören, müssen wir den Fall fürchten, nicht mehr dazuzugehören. Darum ist auch die Etablierung von Gegenmacht kein Ausweg, denn die führt aus dem Dilemma nicht heraus; vielmehr käme es darauf an, prinzipielle Grenzen der Macht zu ermittteln, was darauf hinausliefe zu zeigen, dass nicht alles Meinungssache und damit eine Machtfrage ist.“ (3)
Es lohnt sich, diesen Abschnitt nochmals langsam zu lesen vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit 2015/2016: Die systematischen Lügen eines Donald Trumps und die umfassenden Desinformationskampagnen aus dem Kreml bilden genau diese Entwicklung ab. Sie sind das stärkste Argument dafür, Wahrheitsansprüche gegen die Herrschaft blosser Meinung zu verteidigen.
Einwände gegen den Relativismus
Schon die antiken Griechen haben zahlreiche Gegenargumente ins Spiel gebracht, um dem Relativismus Schranken zu setzen.
Platon versucht zum Beispiel in seinem Dialog Theätet, durch die Figur des Sokrates dem Relativisten Protagoras Widersprüche und Absurditäten nachzuweisen.
Ein beliebtes Argument der Philosophen gegen den Relativismus ist das der Selbstanwendung: Die Behauptung, dass es keine Wahrheit gibt, müsste dann auch für diese Behauptung gelten. Sie kann keine Wahrheit für sich beanspruchen und wird nichts sagend.
Allerdings bestreiten die Relativisten ja gerade, dass sie mit ihren Aussagen Wahrheitsansprüche erheben und so dreht sich die Diskussion im Kreis.
Viel gewichtiger als Argument gegen den Relativismus ist seine fehlende Funktionsfähigkeit im Alltag.
Herbert Schnäbelbach schreibt dazu:
„Vieles mag Ansichtssache sein, aber eben nicht alles. Die Grenzen der Beliebigkeit werden markiert durch die Ansprüche der Wahrheit und Richtigkeit, die wir erheben müssen, um uns erkennend und handelnd in der natürlichen und sozialen Welt orientieren zu können. Man kann zudem zeigen, dass nur unter der Voraussetzung, dass unsere gemeinsam geteilten Überzeugungen im Wesentlichen wahr sind, intersubjektive Verständigung überhaupt möglich ist; diese Wahrheitsunterstellung garantiert den Sinn unserer Rede (vergl. Davidson). Dass es nicht allein von uns abhängt, was richtig ist oder nicht, machen uns bereits die grammatikalischen Regeln unserer Sprache deutlich, denen wir folgen müssen, um uns in ihr verständlich zu machen; es gibt keine Privatsprache….Wenn wir meinen, im technischen oder lebenspraktischen Bereich nur dem folgen zu können, was wir ganz privat jeweils für richtig halten, werden wir die Folgen zu spüren bekommen, und deswegen glaubt dies auch niemand im Ernst. Wenn es um Wissen geht, hilft es nichts, hartnäckig zu beteuern, man sei sich einer Sache gewiss, denn die bloss subjektive Sicherheit einer Überzeugung reicht nicht aus, um das zu sichern, worum es im Wissen geht: die Objektivität und Wahrheit des Gewussten.“ (3)
Damit wird klar, dass kein Relativist sich im Alltag relativistisch verhalten wird. Er würde an allen Ecken und Enden damit scheitern. Das hält Anhänger dieser Idee aber nicht davon ab, sie beispielsweise in gesellschaftlichen und politischen Bereichen zu verbreiten. Sie fokussieren dann ihre Wahrheitsverneinung selektiv zum Beispiel auf historische Darstellungen, soziale Phänomene, Selbsterkenntnis und politische Vorgänge.
Dort können sie massive Schäden anrichten, weil sie wie schon erläutert den Mächtigen in die Hände spielen und weil sie den gemeinsamen Boden zerstören, den wir brauchen, um Lösungen für anstehende Probleme zu finden.
Auch der Philosoph und Historiker Isaiah Berlin (1909 – 1997) hat unterstrichen, dass interkulturelle Kommunikation und Verständigung nur möglich sind, wenn in bestimmtem Ausmass ein „gemeinsamer Boden“ besteht, welcher objektiv ist.
Wenn es keine Wahrheit gäbe, gäbe es auch keine Möglichkeit des Irrtums.
Herbert Schnäbelbach schreibt dazu:
„Die Möglichkeit des Irrtums ist aber gerade das Beste am Wissen, denn nur weil wir uns irren können, können wir unsere Überzeugungen korrigieren und vervollständigen. Dies wäre nicht der Fall, wenn alles wirklich bloss Ansichtssache wäre.“
Dezidiert und ausführlich kritisiert wurde der Relativismus durch den Philosophen Karl Popper (1902 – 1994). Er hat seine Einwände unter anderm am Beispiel des Geschworenengerichts erläutert:
„Wenn Sie als Zeuge vor Gericht gerufen werden, so werden Sie aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Und es wird, mit Recht, angenommen, dass Sie diese Aufforderung verstehen: Ihre Aussage soll mit den Tatsachen übereinstimmen; nicht von Ihren subjektiven Überzeugungen beeinflusst (oder von denen anderer Menschen). Wenn Ihre Aussage nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, dann haben Sie entweder gelogen oder einen Fehler gemacht. Aber nur ein Philosoph – ein sogenannter Relativist – wird Ihnen zustimmen, wenn Sie sagen: ‚Nein; meine Aussage ist wahr, denn ich meine eben mit Wahrheit etwas anderes als Übereinstimmung mit den Tatsachen. Ich meine, nach dem Vorschlag des grossen amerikanischen Philosophen William James, Nützlichkeit; oder ich sage, nach dem Vorschlag vieler deutscher oder amerikanischer Sozialphilosophen: Wahrheit ist, was die Gesellschaft, oder die Majorität, oder meine Interessengruppe, oder vielleicht das Fernsehen akzeptiert oder propagiert.’
Der philosophische Relativismus, der sich hinter der ‚alten und berühmten Frage «Was ist Wahrheit?»’ verbirgt, öffnet der lügnerischen Verhetzung der Menschen Tür und Tor……..Der Relativismus ist eines der vielen Verbrechen der Intellektuellen. Er ist ein Verrat an der Vernunft, und an der Menschheit.
Das ist alles von grosser Bedeutung für die Rechtslehre und die Rechtspraxis. Die Formel ‚im Zweifelsfall für den Angeklagten’ und die Idee des Geschworenengerichts zeigte das. Was die Geschworenen zu tun haben, das ist, zu beurteilen, ob der Fall, dem sie gegenüberstehen, noch ein Zweifelsfall ist oder nicht. Wer je ein Geschworener war, wird verstehen, dass die Wahrheit etwas Objektives ist, die Gewissheit etwas Subjektives. Das kommt in der Situation des Geschworenengerichts am allerdeutlichsten zum Ausdruck.
Wenn die Geschworenen zu einer Übereinstimmung kommen – zu einer ‚Konvention’ – so nennt man das den ‚Wahrspruch’. Die Konvention ist weit davon entfernt davon, willkürlich zu sein. Es ist die Pflicht jedes Geschworenen, zu versuchen, die objektive Wahrheit zu finden, nach bestem Wissen und Gewissen. Aber gleichzeitig soll er sich seiner Fehlbarkeit bewusst sein, seiner Ungewissheit. Und im Falle eines vernünftigen Zweifels an der Wahrheitsfindung soll er für den Angeklagten stimmen.
Die Aufgabe ist schwierig und verantwortungsvoll; und man sieht hier deutlich, dass der Übergang von der Wahrheitssuche zum sprachlich formulierten Wahrspruch Sache eines Beschlusses ist, einer Entscheidung. Und so ist es auch in der Wissenschaft.“ (6)
Das Beispiel des Geschworenengerichts zeigt, dass der Relativismus auch den Rechtsstaat fundamental in Frage stellt.
Karl Popper sieht den Relativismus darüber hinaus aber als grundsätzliche Gefahr:
„Diese Haltung führt zu der These, dass alle Thesen mehr oder weniger gleich vertretbar sind. Alles ist erlaubt. Daher führt die These des Relativismus offenbar zur Anarchie, zur Rechtlosigkeit; und so zur Herrschaft der Gewalt.“ (6)
Karl Poppers Alternative zum Relativismus
Karl Popper beschreibt aber auch eine Alternative zum Relativismus:
„Ich möchte hier dem Relativismus eine Position gegenüberstellen, die fast immer mit dem Relativismus verwechselt wird, die aber von diesem grundverschieden ist. Ich habe diese Position oft als Pluralismus bezeichnet; aber das hat eben zu jenen Missverständnissen geführt. Ich will sie deshalb hier als einen kritischen Pluralismus charakterisieren. Während der Relativismus, der aus einer laxen Toleranz entspringt, zur Herrschaft der Gewalt führt, kann der kritische Pluralismus zur Zähmung der Gewalt beitragen.
Für die Gegenüberstellung von Relativismus und kritischem Pluralismus ist die Idee der Wahrheit von entscheidender Bedeutung.
Der Relativismus ist die Position, dass man alles behaupten kann, oder fast alles, und daher nichts. Alles ist wahr, oder nichts. Die Wahrheit ist also bedeutungslos.
Der kritische Pluralismus ist die Position, dass im Interesse der Wahrheitssuche jede Theorie – je mehr Theorien desto besser – zum Wettbewerb zwischen den Theorien zugelassen werden soll. Dieser Wettbewerb besteht in der rationalen Diskussion der Theorien und in ihrer kritischen Eliminierung. Die Diskussion ist rational; und das heisst, dass es um die Wahrheit der konkurrierenden Theorien geht: Die Theorie, die in der kritischen Diskussion der Wahrheit näher zu kommen scheint, ist die bessere; und die bessere Theorie verdrängt die schlechteren Theorien. Es geht also um die Wahrheit.“ (6)
Die Idee der objektiven Wahrheit und die Idee der Wahrheitssuche seien hier von entscheidender Bedeutung, schreibt Popper.
Er schlägt für diese kritischen, rationalen Diskussionen drei Prinzipien vor, die ihnen zugrunde liegen sollten:
„1. Das Prinzip der Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.
2. Das Prinzip der vernünftigen Diskussion: Wir wollen versuchen, möglichst unpersönlich unsere Gründe für und wider eine bestimmte, kritisierbare Theorie abzuwägen.
3. Das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit: Durch eine sachliche Diskussion kommen wir fast immer der Wahrheit näher; und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch dann, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen.“ (6)
Popper stellt die Wahrheitstheorie des Vorsokratikers Xenophanes vor, der als erster eine Wahrheitstheorie entwickelt habe, die die Idee der objektiven Wahrheit mit der Idee unserer grundsätzlichen menschlichen Fehlbarkeit verbindet.
Xenophanes wurde vermutlich 571 v. u. Z. im kleinasiatischen Jonien geboren.
Er formulierte seine kritische Theorie der Erkenntnis in vier schönen Verszeilen, die Popper (6) so zitiert:
„Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst die vollkommene Wahrheit verkünden,
Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
Popper schreibt dazu:
„Diese vier Zeilen enthalten mehr als eine Theorie der Unsicherheit des menschlichen Wissens. Sie enthalten eine Theorie der objektiven Wahrheit. Denn Xenophanes lehrt hier, dass etwas, das ich sage, wahr sein kann, ohne dass ich oder sonst jemand weiss,dass es wahr ist. Das heisst aber, dass die Wahrheit objektiv ist: Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den Tatsachen; ob ich es nun weiss oder nicht weiss, dass die Übereinstimmung besteht.
Darüber hinaus enthalten diese vier Zeilen noch eine weitere sehr wichtige Theorie. Sie enthalten einen Hinweis auf den Unterschied zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewissheit des Wissens. Die vier Zeilen sagen, dass ich, auch wenn ich die vollkommenste Wahrheit verkünde, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen kann. Denn es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit: Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“ (6)
Xenophanes sei kein erkenntnistheoretischer Pessimist gewesen, schreibt Popper, sondern ein Sucher, dem es gelang, im Verlaufe seines langen Lebens manche seiner Vermutungen kritisch zu verbessern, besonders auch seine naturwissenschaftlichen Theorien. Xenophanes drückt das in folgendem Satz aus:
„Nicht von Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles,
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.“
Xenophanes erkläre auch, was er mit ‚dem Besseren’ meine, schreibt Popper:
„Er meint die Annäherung an die objektive Wahrheit: die Wahrheitsnähe, die Wahrheitsähnlichkeit.“ (6)
Denn Xenophanes sagt von einer seiner Vermutungen:
„Diese Vermutung ist, so scheint es, der Wahrheit recht ähnlich.“
Popper fasst Xenophanes’ Theorie des menschlichen Wissens in 8 Punkten zusammen:
„1. Unser Wissen besteht aus Aussagen.
2. Aussagen sind wahr oder falsch.
3. Die Wahrheit ist objektiv. Sie ist die Übereinstimmung des Aussageinhalts mit den Tatsachen.
4. Selbst dann, wenn wir die vollkommende Wahrheit aussprechen, können wir das nicht wissen; das heisst, nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewissheit wissen.
5. Da ‚Wissen’ im vollen Sinn des Wortes ‚sicheres Wissen’ ist, so gibt es kein Wissen, sondern nur Vermutungswissen: ‚Es ist alles durchwebt von Vermutung.’
6. Aber in unserem Vermutungswissen gibt es einen Fortschritt zum Besseren.
7. Das bessere Wissen ist eine bessere Annäherung an die Wahrheit.
8. Aber es bleibt immer Vermutungswissen – von Vermutung durchwebt.“ (6)
Popper führt diese Liste in folgendem Abschnitt näher aus:
„Zum vollen Verständnis von Xenophanes’ Theorie der Wahrheit ist es besonders wichtig, zu betonen, dass Xenophanes die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterscheidet. Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit verwechselt werden oder mit dem sicheren Wissen. Wer etwas sicher weiss, der kennt die Wahrheit. Aber es kommt oft vor, dass jemand etwas vermutet, ohne es sicher zu wissen; und dass seine Vermutung tatsächlich wahr ist. Xenophanes deutet ganz richtig an, dass es viele Wahrheiten gibt – und wichtige Wahrheiten -, die niemand sicher weiss; ja, die niemand wissen kann, obwohl sie von manchen vermutet werden. Und er deutet weiter an, dass es Wahrheiten gibt, die niemand auch nur vermutet……
Auch heute noch gibt es viele Philosophen, die denken, dass die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, dass es Vermutungswissen gibt, ist von grosser Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können. Unser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum geben.“ (6)
Xenophanes’ Wissens- und Wahrheitstheorie ist sehr interessant, weil sie die Existenz einer Wahrheit anerkennt und das Steben nach Wahrheit unterstützt. Indem sie im gleichen Atemzug festhält, dass selbst jemand, der die Wahheit gefunden hat, nicht sicher sein kann, dass es die Wahrheit ist, schiebt sie absoluten, fanatischen und dogmatischen Wahrheitsverständnissen einen Riegel.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Eng verbunden mit dem Begriff der Wahrheit und ebenso bedeutsam ist der Begriff der Wahrhaftigkeit.
Eine erste kompakte Beschreibung liefert Wikipedia:
„Wahrhaftigkeit ist eine Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet. Wahrhaftigkeit ist keine Eigenschaft von Aussagen, sondern bringt das Verhältnis eines Menschen zur Wahrheit oder Falschheit von Aussagen zum Ausdruck. Die Wahrhaftigkeit kann falsche Aussagen nur durch einen Irrtum hervorbringen. Zur Wahrhaftigkeit gehört die Bereitschaft für wahr Gehaltenes zu überprüfen.“
Für Aristoteles ist wahrhaftig, wer die Wahrheit liebt und darum das Lügen ablehnt, das Übertreiben ebenso wie das Untertreiben, das Hinzudichten ebenso wie das Auslassen. Ein wahrhaftiger Mensch steht in der Mitte zwischen Prahlerei und Tiefstapelei, zwischen Grosssprecherei und Verschweigen, zwischen falschem Ruhm und falscher Bescheidenheit. (8)
Der Philosoph Bernard Williams hat als Wahrhaftigkeit zwei Grundtugenden der Wahrheitsfindung beschrieben: Aufrichtigkeit und Genauigkeit.
Aufrichtigkeit
Aufrichtigkeit bedeutet nach Williams, dass man sagt, was man glaubt. Sie beinhaltet „vor allem eine bestimmte Art von Spontanität, eine gewisse Neigung, mit den eigenen Überzeugungen herauszurücken; und das ist eine Neigung, die man fördern oder hemmen, hegen oder unterdrücken kann, ohne dass sie jedoch als solche in planvollen Überlegungen und Entscheidungen zum Ausdruck gebracht wird.“ (während bei der Genauigkeit der Wille involviert ist). Aufrichtigkeit ist also „eine Neigung, die dafür sorgt, dass die Behauptungen einer Person deren wirkliche Überzeugungen ausdrücken.“ (9)
Zum Thema „Aufrichtigkeit“ hat der französische Philosoph André Comte–Sponville ein Kapitel geschrieben in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemässen Leben“ (8).
Er schreibt:
„Nun taugt die Aufrichtigkeit…weder als Gewissheit noch als Wahrheit (sie schliesst die Lüge aus, nicht aber den Irrtum), ihr Wert liegt vielmehr darin, dass der aufrichtige Mensch sagt, was er glaubt, auch wenn er sich irrt, und glaubt, was er sagt……
Aufrichtig sein bedeutet nicht, immer die Wahrheit zu sagen, denn man kann sich ja irrren….
Man wird einwenden, dass die Aufrichtigkeit allein noch gar nichts besagt, und ich bin ganz dieser Meinung. Wie viele ehrliche Schurken, wie viele in aller Aufrichtigkeit begangene Abscheulichkeiten hat es nicht bereits gegeben?………Ein aufrichtiger Nazi bleibt ein Nazi – was nützt uns seine Ehrlichkeit? Ein echter Schurke ist und bleibt ein Schurke – was nützt uns seine Authentizität? Ebensowenig wie die Treue oder der Mut ist die Aufrichtigkeit eine hinreichende oder vollständige Tugend. Sie kann weder die Gerechtigkeit, noch die Grosszügigkeit oder die Liebe ersetzen. Aber was hätten wir von einer unaufrichtigen Gerechtigkeit? Was von einer unaufrichtigen Liebe oder Grosszügigkeit? Das wäre keine Gerechtigkeit, keine Liebe, keine Grosszügigkeit mehr – beziehungsweise, sie wären durchsetzt von Heuchelei, Verblendung und Lüge. Ohne die Tugend der Wahrheit ist keine Tugend wahr oder wahrhaft tugendhaft. Eine Tugend ohne Aufrichtigkeit ist Unaufrichtigkeit, und das ist keine Tugend.“
Dieses Phänomen zeigt sich gut bei Trump. Seine Anhänger finden ihn authentisch und „ehrlich“, weil er sage, was er denke. Sie ziehen den falschen Schluss, dass eine aufrichtige Aussage auch wahr ist.
Dass Wahrheit für diesen narzisstischen Schurken keine Rolle spielt, geht dabei unter.
Comte-Sponville geht auch auf Grenzen von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit ein und referiert dabei eine Position Spinozas (1632 – 1677):
„Natürlich ist die Aufrichtigkeit eine Tugend, was Lüge nicht sein kann, aber das heisst nicht, dass jede Lüge schuldhaft ist oder gar, dass man unter keinen Umständen Lügen darf. Keine Lüge ist frei, gewiss doch, aber wer ist schon immer frei? Wie könnte man es sein, wenn die Schlechten, die Dummköpfe, die Fanatiker die Stärkeren sind, wenn Ehrlichkeit ihnen gegenüber einen mitschuldig machte oder selbstmörderisch wäre?……Die Lüge ist nie eine Tugend, aber auch die Dummheit oder der Selbstmord nicht. Manchmal muss man sich einfach mit dem geringeren Übel abfinden, und das kann eine Lüge durchaus sein.“
Nachdem er Spinoza referiert hat, geht Comte-Sponville auf Imanuel Kant (1724 – 1804) ein, der sehr viel weiter geht und sehr viel deutlicher wird.
Für Kant ist die Lüge nicht nur niemals eine Tugend, sondern sogar immer eine Verfehlung, immer ein Verbrechen, immer eine Nichtswürdigkeit. Denn ihr Gegenteil, die Wahrhaftigkeit, ist für Kant eine „unbedingte Pflicht, die in allen Verhältnissen gilt“, und da sie „gänzlich unbedingt ist“, kann sie nicht die geringste Ausnahme zu einer Regel zulassen, „die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme fähig ist“.
Kant degradiert den Lügner zur absoluten Unperson, die sich selbst durch die Lüge ihres Menschseins beraubt: „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem Anderen (wenn es auch eine bloss idealisch wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloss Sache wäre.“
Schon Benjamin Constant (1767 – 1830) wandte gegen diese rigorose Haltung Kants ein, das laufe darauf hinaus, „dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde“.
Kant würde sich durch diesen Einwand nicht beeindrucken lassen, da es für ihn in der Tat ein Verbrechen wäre, weil es ihm hier, beim wahren Wort, um die Würde des Menschen und um die Menschheit geht. Für Kant ist die Wahrhaftigkeit „ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot“, auch dann, wenn es um die Erhaltung des eigenen Lebens oder desjenigen eines anderen geht. Für ihn gibt es keine fromme Lüge, weil jede Lüge – ganz gleich ob fromm oder grossmütig – verwerflich ist: „Es kann auch bloss Leichtsinn oder gar Gutmütigkeit die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden: so ist doch die Art ihm nachzugehen durch die blosse Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen Augen verächtlich machen muss.“
Comte-Sponville schreibt dazu:
„Selbst wenn es so wäre, hiesse das meines Erachtens der eigenen Person sehr viel Bedeutung beizumessen. Was ist das für eine Tugend, die so auf sich selbst, auf die eigene Unbescholtenheit, auf ihre eigene Würde bedacht ist, dass sie, um sich rein zu erhalten, bereit ist, einen Unschuldigen an Mörder auszuliefern? Was ist das für eine Pflicht, die ohne Klugheit, ohne Barmherzigkeit, ohne Nächstenliebe auskommt? Lügen ist ein Fehler? Zweifellos. Aber Kaltherzigkeit auch, und zwar ein schwerwiegenderer. Wahrhaftigkeit ist eine Pfliicht? Zugegeben. Aber Hilfeleistung in Gefahr ist auch eine, und zwar eine dringlichere. Wehe dem, dem sein Gewissen wichtiger ist als sein Nächster!“
Auch der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) hat die Polemik Kants gegen die Lüge für nicht stichhaltig gehalten und der Aufrichtigkeit Grenzen gesetzt. Er akzeptiert die Lüge als Mittel zur Abwehr von Zwang und Gewalt, aber auch zum Schutz der Privatsphäre. Von einer wirklichen Lüge kann nach Schopenhauer nur dann gesprochen werden, wenn der Belogene auch tatsächlich das Recht hatte, die Wahrheit zu erfahren.
Diese Einschränkungen der Aufrichtigkeit sollen nicht ihren Wert mindern, sondern nur festhalten, dass dieser Wert kein absoluter ist.
Genauigkeit
Unter Genauigkeit versteht Williams, dass wir alles dafür tun, um zu wahren Überzeugungen zu gelangen. Genauigkeit muss zur Aufrichtigkeit hinzukommen, weil es, um wahrhaftig zu sein, nicht genügt zu sagen, was man glaubt. Denn das könnte auch falsch sein.
Als Beispiel kann hier Donald Trump dienen. Es spricht viel dafür, dass er jedenfalls oft glaubt, was er sagt, auch wenn es sich weitgehend um Lügen oder Bullshit handelt.
Greta Lührs hat im Philosophie-Magazin „Hohe Luft“ (Nr. 4 / 2016) die Genauigkeit im Sinne von Williams näher ausgeführt:
„Was wir wissen oder zu wissen glauben, fliegt uns nicht einfach zu. Wir sind keine Roboter, die Informationen aufnehmen und abspeichern. Wir interpretieren, bewerten und verwerfen Informationen und basteln daraus unsere Überzeugungen, also das, was wir für wahr halten.
Wollen wir genau sein, müssen wir vor allem den Willen haben, wahre Überzeugungen zu kultivieren……..
Es geht…..darum, seine eigenen Überzeugungen anzuschauen, zu hinterfragen, worauf sie gebaut sind, und offen zu sein für Korrekturen. Die Tugend der Genauigkeit verlangt darüber hinaus Sorgfalt in unseren Nachforschungen; möglichst viele Möglichkeiten zu berücksichtigen, sich nicht mit der erstbesten oder einfachsten Antwort zufriedenzugeben. Williams bemüht dafür immer wieder das Bild des Wissenschaftlers, an dem wir unsere ‚Erkenntnisarbeit’ ausrichten sollten.“ (10)
Dafür brauchen wir Kompetenzen, Quellen auszuwählen, müssen entscheiden, welche Argumente oder Gründe uns überzeugen und wo wir lieber noch weiterforschen. Dazu stehen uns heute mehr Möglichkeiten zur Verfügung als je zuvor. Wir Menschen neigen allerdings grundsätzlich und vor allem auch im Internet dazu, uns mit denen zu umgeben, die unsere Überzeugungen teilen, und uns dadurch selbst zu bestätigen.
Und wir picken aus dem unendlichen Informationsfluss bevorzugt diejenigen Häppchen heraus, die zu unserem Weltbild passen. Asoziale Medien wie Facebook und Twitter verstärken diese Selektion noch, indem ihre Algorithmen uns vor allem Beiträge vorsetzen, die unsere Überzeugungen bestätigen.
Greta Lührs zitert den Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) mit den Worten: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte“, und meint dazu: „Wenn wir ehrlich sind, fehlt uns ziemlich oft die Bereitschaft, uns von einer anderen Meinung überzeugen zu lassen. Zum freien Diskurs, bei dem der Ausgang völlig offen ist, kommt es darum nur selten.“
Aber nur eine überprüfte Überzeugung sei es wert, dass wir sie behalten und für sie einstehen:
„Wenn wir merken, für eine Überzeugung nicht mehr Gründe angeben zu können als ein Bauchgefühl, sollte unser Wahrhaftigkeits-Alarm losgehen. In grauer Vorzeit konnte ein wahrhaftiger Mensch die Überzeugung haben, die Erde sein eine Scheibe. Auch mit grösster Sorgfalt kann man sich irren. Doch wer dies heute vertritt, hat relevante Informationen vernachlässigt und somit nicht alles dafür getan, die Wahrheit zu erfahren.“
Greta Lührs schreibt, dass wir uns viel zu selten Fragen, warum wir bestimmte Dinge glauben oder welche Überzeugungen wir meinen zu haben, obwohl wir uns nie ihnen entsprechend verhalten:
„Wir täuschen uns zwar auch über andere – aber folgenschwerer über uns selbst. Denn wir sind verantwortlich für unsere Überzeugungen. Sie bestimmen, wie wir uns in der Welt bewegen, sie äussern sich in unseren Handlungen, und darum sind sie keine Nebensachen, sondern verdienen unsere Aufmerksamkeit. Unser Anspruch sollte sein, dass wir unsere Überzeugungen jederzeit vor uns selbst vertreten können – um sie dann auch vor anderen vertreten zu können.“
Lührs weist aber auch darauf hin, dass Genauigkeit uns schützen kann gegen Mitläufertum, Manipulation und Fremdbestimmung:
„Nehmen wir es nicht wichtig, was wir für wahr halten, und bemühen uns gar nicht herauszufinden, was stimmt, sind wir anfällig für Mitläufertum, für Manipulation und Fremdbesimmung. Würden wir, wie Williams befürchtet, den Wahrheitsbegriff aufgeben, würde uns ein wichtiges Kriterium fehlen, nach dem wir gute und schlechte Überzeugungen einteilen können. Wenn wir die Wahrheit nicht als Ideal anstreben, können wir niemandem klarmachen, dass es sich irrt. Man kann bestreiten, dass wahr Überzeugungen besser seien als falsche. Aber vertritt man diese Position stringent, bekommt man Probleme ganz lebenspraktischer Art. Beispielsweise wenn man nicht bereit ist zu glauben, dass Eisbären gefährlich sind.“
Ehrlichkeit bzw. Aufrichtigkeit ist gut und schön, doch ehrlich behaupten lässt sich vieles.
Ohne den Zusatz der Wahrhaftigkeit als Achtung vor der Wahrheit – bestehend aus Aufrichtigkeit und Genauigkeit – haben unsere Überzeugungen keinen Bezug zur Realität und werden beliebig.
Aufrichtigkeit und Genauigkeit als Tugenden der Wahrheit geben uns das Rüstzeug, eine eigene Haltung zu entwickeln, für die wir darum geradestehen, weil wir sie für wahr halten. Nur unter diesen Voraussetzungen haben wir einen Grund, uns mit dieser Haltung zu identifizieren.
Wahrhaftigkeit zeige sich nicht nur anderen gegenüber, sondern sie betreffe auch unmittelbar uns selbst, schreibt Lührs:
„Wenn wir uns selbst ernst nehmen wollen, müssen wir auch unsere Überzeugungen ernst nehmen. Und das heisst nichts anderes, als sie an der Wahrheit zu messen.“
Soweit die Ausführungen zur Williams’schen Genauigkeit bei Lührs.
Der Philosoph Martin Seel hat darauf hingewiesen, dass Genauigkeit viele Facetten hat, und dass genau nur verfährt, wer um diese Verschiedenheit weiss:
„Genauigkeit ist eine Hüterin der Aufmerksamkeit: Sie leitet diese dazu an, den Sinn und die Sinne nach den Erfordernissen der jeweiligen Sache zu richten….Denn je nachdem, worum es im Denken, Handeln und Herstellen geht, fallen die Normen der Präzision ganz unterschiedlich aus.“ (11)
Das scheint mir eine sinnvolle Anregung, denn je nach Situation und Thema braucht es ein unterschiedliches Mass an Genauigkeit. Es kann sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig geben.
Wahrhaftigkeit – bestehend aus Aufrichtigkeit und Genauigkeit – drückt als Haltung Wertschätzung bezogen auf die Wahrheit aus. Und wir brauchen diese Wertschätzung der Wahrheit vielleicht mehr denn je.
Wenn Fakten nicht mehr zählen
– wo führt das hin?
Wir leben in einer „postfaktischen Gesellschaft“ heisst es. Ob der Begriff Sinn macht ist umstritten, aber die Hinweise häufen sich, dass Fakten in Politik und Gesellschaft an Bedeutung verlieren. Und dass diese Entwicklung besorgniserregende Folgen haben kann, ist naheliegend.
Um die Bedeutung von Fakten zu verstehen ist es hilfreich zu wissen, wie dieser Begriff entstanden ist.
Lorraine Daston (12) hat in einem Interview erklärt, dass die Idee der Fakten und was sie sein sollen eine Errungenschaft der frühen Neuzeit ist. Damit meint sie nicht den Anspruch, dass eine Behauptung der direkten Erfahrung standhalten soll – das sei eine uralte Idee, die in allen Kulturkreisen verbreitet ist – sondern die Forderung, dass man gewissenhaft versuchen soll, ein Stück Erfahrung von seiner Interpretation zu lösen:
„In Zeiten, da keiner Quelle mehr vertraut werden konnte, kam die Idee auf, dass man gewisse Nuggets der Erfahrung möglichst ohne Interpretation darstellt, damit alle über dasselbe sprechen. Das sind Fakten. Sobald ein Nugget für eine politische Sache oder wissenschaftliche Theorie eingespannt wird, verliert es seinen neutralen Charakter. Das Ideal der Neutralität aber ist wichtig. Und es ist kein Zufall, dass es erstmals im 17. Jahrhundert artikuliert wurde, als die Propaganda blühte.“
Lenz Jacobsen (13) hat weiter ausgeführt, wie die Herrschaft der Fakten begann. Er referiert dabei einen Text der Harvard-Historikerin Jill Lepore und des politischen Ökonomen Will Davies und schreibt:
„Lepore erinnert daran, wie die Menschen diskutiert und gestritten haben, bevor Fakten entscheidend wurden: mit ihren Körpern und mit Waffen. Erst in sogenannten Gerichtskämpfen, später in Duellen, traten sie gegeneinander an, und wer gewann, der hatte recht. Das Ergebnis begründete nachträglich das Urteil. Die höhere Instanz war Gott, etwas Metaphysisches, das entschied, welcher Sterbliche gewinnen sollte.
Dann wollten die Menschen selbst entscheiden. Im Jahr 1215 schaffte die Kirche den Gerichtskampf ab und England führte durch die Magna Carta das ‚gesetzliche Urteil’ ein. Statt des mysteriösen göttlichen Urteils zählte nun durch Menschen beobachtbare Realität, Evidenz. Die Regel verkehrte sich: Nicht mehr wer gewann, hatte recht. Sondern wer recht hatte, gewann. Menschen wurden auf der Grundlage bewiesener Taten verurteilt und Debatten auf der Grundlage von Fakten geführt.
Ein Fakt ist alles, was beobachtet werden kann und eindeutig ist. Fakten müssen, damit sie als Grundlage für Debatten funktionieren, für alle gleich sein.
Dazu braucht es zwei Dinge. Erstens neutrale Institutionen, die nach einheitlichen Maßstäben arbeiten und die Fakten liefern, was lange die Statistikbehörden und die Universitäten waren. Und was noch wichtiger ist: Das Zeitalter der Fakten braucht zweitens Menschen, die sich ihrer Vernunft bedienen. Im Zweifel muss jeder in der Lage und willens sein, Aussagen auf ihre Plausibilität zu prüfen. Stehen sie im Widerspruch zu anderen plausiblen Aussagen oder zu dem, was ich mit meinen Sinnen als Realität wahrnehme?
Diese Herrschaft der Fakten war natürlich immer ein Ideal, ganz verwirklicht wurde sie nie. Politiker, wie alle anderen Menschen auch, verdrehten Fakten zu ihrem Vorteil, und manchmal logen sie sogar. Aber sie durften sich nicht erwischen lassen. Das Pentagon hat im Jahr 2003 großen Aufwand betrieben, um zu verschleiern, dass die vermeintlichen Fakten, die den Irak-Krieg begründeten, keine Fakten waren. US-Außenminister Colin Powell, der diese Lügen der UN vortrug, wurde überführt, seine politische Karriere war damit vorbei.“
Schaut man sich diese Geschichte an, wird die Würde der „Fakten“ sichtbar. Solange sie neutral und von allen nachvollziehbar sind, können sie dazu beitragen, gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Das ist einer der Gründe, warum die Entwertung der Fakten besorgniserregend ist.
Das krasseste Beispiel eines konsequenten Fakten-Negierers liefert seit einiger Zeit natürlich US-Präsident Donald Trump. Er behauptet schamlos, das an seiner Inauguration die Sonne schien, während es ganz offensichtlich regnete. Und er wirft seiner Kontrahentin Clinton vor, den Stimmenvorsprung von 3 Millionen durch Wahlbetrug erreicht zu haben, ohne dafür auch nur den Hauch eines Beleges zu liefern. Er scheint nicht nur kein Verständnis davon zu haben, was Fakten sind, sondern auch nicht zu wissen, wie sich feststellen lässt, was Fakt ist und was nicht.
Das passende Gegenstück zu dieser Absurdität ist das verstörende Phänomen, dass nicht nur ihm selbst, sondern auch seinen Anhängerinnen und Anhängern offenbar vollkommen egal ist, ob er die Wahrheit erzählt oder nicht.
Wie kommt die fast vollständige Ignoranz gegenüber Fakten zustande – beim Anführer wie auch bei seiner Gefolgschaft?
Einen grossen Anteil daran hat wohl ein Mechanismus unseres Gehirns, den Psychologen und Neurowissenschaftler „motivated reasoning“ nennen (auch „Motivierte Wahrnehmung“). Unser Gehirn ist laufend auf der Suche nach Belegen für die eigene Weltsicht, weil solche Belege im Belohnungszentrum angenehm wirkende Stoffe freisetzen. Das funktioniert wie eine Droge. Zu glauben, dass man selber Recht hat und die Fakten auf seiner Seite stehen, ist ein angenehmes Gefühl. Menschen lieben es, bestätigt zu werden.
Dieser Mechanismus stellt das Prinzip auf den Kopf, wonach unsere eigene Haltung auf der Basis von Fakten gebildet wird. Wer motiviert wahrnimmt, beginnt rückwärts mit einer festgezimmerten Haltung und akzeptiert nur Fakten, die unterstützen, woran wir schon glauben. Wenn uns Fakten präsentiert werden, die unsere Überzeugungen in Frage stellen, finden wir immer ein Hintertürchen, um sie zu leugnen oder auszublenden.
Ein ähnliches Phänomen wird unter der Bezeichnung „confirmation bias“ (Bestätigungsfehler) beschrieben, zum Beispiel auf Wikipedia.
Unterstützt wird dieser Selektionsmechanismus unseres Gehirns durch asoziale Medien und Plattformen wie Facebook, Twitter und Google, die uns ebenfalls bevorzugt Beiträge vorsetzen, die möglichst optimal zu unseren vorbestehenden Überzeugungen passen, und damit ebenfalls unser Belohnungszentrum aktivieren. So kommen Filterblasen zustande, die dem Individuum vorspiegeln, dass diese eigenen Überzeugungen dominierend und allfällige Gegenstimmen marginal sind.
Nun beschränkt sich diese Fakten-Feindlichkeit natürlich nicht auf Trump und ist auch nicht aus dem Nichts entstanden. Es gibt dafür philosophische, politische und psychologische Wegbereiter.
Relativismus und Konstruktivismus als Wegbereiter der Faktenfeindlichkeit
Philosophisch spielen als Wegbereiter vor allem der Konstruktivismus und der Relativismus eine Rolle. Den Relativismus haben wir schon kurz vorgestellt. Der Konstruktivismus ist eine seit Jahrzehnten einflussreiche Strömung, die davon ausgeht, dass ein erkannter Gegenstand durch den Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Relativismus und Konstruktivismus zersetzen beide die Vorstellung einer von uns unabhängigen Wahrheit.
Der US-Amerikaner Paul Boghossian(14) hat sich intensiv und kritisch mit Relativismus und Konstruktivismus auseinandergesetzt, unter anderem in seinem Buch „Angst vor der Wahrheit“. In einem Interview mit dem Philosophie-Magazin „Hohe Luft“ (Nr. 4/2017) sagt er zu den Gründen, weshalb diese Ideen so attraktiv sind:
„Es geht um mich und wie ich die Welt sehe. Es ist toll, statt ‚Es gibt Berge’, gesagt zu bekommen: ‚Du bist der Berg.’ Die Wahrheit kann sich anfühlen, als unterdrücke sie einen, sie ist einfach da, und ich muss versuchen, sie zu verstehen und mich ihr anpassen. Aber hier bist du dafür verantwortlich, was wahr ist, das ist selbstermächtigend.“
Das würde bedeuten, dass die Abwehrreaktion und die Ignoranz gegenüber Fakten damit zusammenhängt, dass sie von uns unabhängig sind und uns in der Welt Widerstand leisten.
Dieser Ansicht ist auch der Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem kleinen Büchlein mit dem Titel „Über die Wahrheit“ (15). Dort fasst er diesen Punkt sehr eingängig zusammen:
„Dass wir eigenständige Wesen in der Welt sind, die sich von dem abheben, was etwas anderes ist als wir, lernen wir dadurch, dass wir es bei der Verwirklichung unserer Absichten mit Hindernissen zu tun bekommen – das heisst, dass wir auf Widerstand gegen die Durchsetzung unseres Willens stossen. Wenn sich gewisse Aspekte unserer Erfahrung unseren Wünschen nicht fügen, wenn sie im Gegenteil unseren Interessen unnachgiebig und sogar feindlich entgegenstehen, dann wird uns klar, dass sie nicht Teil unser selbst sind. Wir erkennen, dass sie nicht unter unserer direkten und unmittelbaren Kontrolle stehen; vielmehr wird deutlich, dass sie von uns unabhängig sind. Das ist der Ursprung unseres Begriffs der Realität, der im wesentlichen ein Begriff dessen ist, was uns Schranken setzt, was wir nicht durch blosse Anstrengung unseres Willens ändern oder kontrollieren können.
In dem Masse, wie wir genauer lernen, auf welche Weise wir begrenzt sind und welche Grenzen unsere Begrenzung hat, gelangen wir dahin, unsere Grenzen abzustecken und so unsere eigene Gestalt zu erkennen. Wir lernen, was wir tun können und was für Anstrengungen wir unternehmen müssen, um das zu erreichen, was uns tatsächlich möglich ist. Wir lernen unsere Kräfte und unsere Verwundbarkeiten kennen. Das verschafft uns nicht nur ein noch nachdrücklicheres Gefühl unserer Eigenständigkeit. Es definiert für uns die spezifische Art von Wesen, die wir sind.
Somit fusst unser Erkennen und Verstehen unserer Identität auf unserer Einschätzung einer Realität, die definitiv von uns unabhängig ist, und es ist zur Gänze von ihr abhängig. Mit anderen Worten, es fusst auf unserer Erkenntnis und ist von ihr abhängig, dass es Fakten und Wahrheiten gibt, über die wir eine direkte oder unmittelbare Kontrolle auszuüben hoffen können. Gäbe es nicht solche Fakten oder Wahrheiten, würde die Welt durchgängig und ohne Widerstand zu leisten immer zu dem werden, was wir gerne hätten oder uns vielleicht wünschen würden, dann wären wir nicht in der Lage, uns selbst von dem zu unterscheiden, was etwas anderes ist als wir, und wir hätten kein Gefühl dafür, was wir Besonderes sind. Nur dadurch, dass wir eine Welt von Realitäten, Tatsachen und Wahrheiten anerkennen, die hartnäckig unabhängig sind, gelangen wir dahin, sowohl uns als Wesen zu erkennen, die von anderen verschieden sind, als auch den spezifischen Charakter unserer Identität zu artikulieren.
Wie können wir also umhin, die Wichtigkeit der Faktizität und der Realität ernst zu nehmen? Wie können wir umhin, uns um die Wahrheit zu bemühen?
Wir können es nicht.“ (15)
Und an anderer Stelle:
„Die einschlägigen Fakten sind nun, wie sie sind, ganz gleich, was wir möglicherweise von ihnen annehmen, und ganz gleich, wie wir sie uns wünschen mögen. Dies ist in der Tat das Wesen und der definierende Charakter der Faktizität – des Realseins: Die Eigenschaften der Realität und demzufolge die Wahrheiten über ihre Eigenschaften sind, was sie sind, unabhängig von jeder direkten oder unmittelbaren Kontrolle durch unseren Willen. Wir können die Fakten nicht ändern, und ebensowenig können wir die Wahrheit über die Fakten lediglich durch einen Urteilspruch oder einer Willensregung beeinflussen.“ (15)
Nur schon die Existenz von Fakten scheint allso eine Art von narzisstischer Kränkung zu sein und die Annahme, dass es keine von mir unabhängigen Fakten gibt, ist eine ziemlich egozentrische Position gegenüber der Welt.
Menschen ziehen Lügen den Fakten aber auch besonders gern dann vor, wenn die Lügen ihre Erwartungen bestätigen. Wir lieben es eben, bestätigt zu werden.
Politische Gründe für Faktenfeindlichkeit
Für die Ausbreitung der faktenverneinenden und wahrheitsfeindlichen Strömungen des Relativismus und des Konstruktivismus in den letzten Jahrzehnten gibt es möglicherweise aber auch politische Gründe, die nach Paul Boghossian stark mit der akademischen Linken verbunden und daraus entstanden sind, weil diese Strömungen eine „starke antikolonialistische Kraft haben“ (14).
Boghossian äussert sich dazu im Interview folgendermassen:
„Der Kolonialismus hat die Unterdrückung damit gerechtfertigt, man bringe ein überlegenes westliches Wissen. Deshalb sieht man einen Schutz von Minderheiten darin zu sagen, es gibt nicht das eine richtige Wissen, jeder hat seins. Etwas abgeschwächt gilt das auch für den zweiten Weg, den ich eben beschrieben habe. Auch hier kann ich mich vor dem, was mir andere als Wahrheit erklären, schützen, wenn ich sage: Oh, das glaubst du nur aufgrund deines Wertesystems, welches ich nicht teile. Das ist politisch attraktiv. So begann die Politisierung des Wissens auf der Seite der Linken und ist dann von den Rechten übernommen worden. Aus einem Werkzeug der Befreiung wurde ein Werkzeug der «Alt-Right».“
Boghossian geht im selben Interview auch auf die problematische Kehrseite dieser Strategie ein und schildert die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen:
„Der Relativismus sagt ja, jede Überzeugung ist gleich richtig und wichtig. Aber man muss sich doch fragen, ob man erwiesenermassen falschen Überzeugungen wie dem Kreationismus wirklich Sendezeit geben will. Mich persönlich berührt das, wenn es um den Völkermord an den Armeniern geht, weil meine Familie ihn überlebt hat. Aber die Türkei bestreitet ihn. Und obwohl die Beweise erdrückend sind, heisst es im Fernsehen immer «einerseits, andererseits…». Es wäre wichtig, nicht nur Oppositions-Talk zu betreiben, sondern seinem Intellekt zu trauen. Ein Problem mit der relativistischen Haltung ist, dass sie in dieser Pattsituation endet. Ich habe meine Meinung, und Sie haben Ihre. Und Teil meiner Meinung ist, dass Sie unrecht haben, und Teil Ihrer Meinung ist, dass ich unrecht habe. Wenn wir jetzt leugnen, dass es eine Realität gibt, an der wir messen können, wer recht hat, sondern alle Überzeugungen als gleich richtig betrachten, verendet der Diskurs…..
Relativismus ist symetrisch. Wenn man ihn nutzen kann, um die Schwachen vor einer alleinigen Deutungshoheit der Starken zu beschützen, dann kann man ihn auch nutzen, um die Starken vor Kritik durch die Schwachen zu beschützen. Also Sie behaupten, ich unterdrücke Sie? Na ja, das ist Ihre Wahrheit. Meine Wahrheit ist ein «alternative fact». Das funktioniert in beide Richtungen……
Nur wenn es Fakten gibt, gibt es auch ein Richtig und Falsch, woran sich Politiker messenlassen müssen. Dann kann ich sagen: «Was du tust, ist falsch.» Das gilt auch in besonderer Weise für Moralfragen, das gibt dir eine Plattform, auf der du stehen kannst und sagen kannst: «Das ist ungerecht.» Wenn alles, was du sagen kannst, ist: «Ich bevorzuge dies.» Dann hat der andere die Freiheit zu sagen: «Ich bevorzuge aber das, und ich bin in einer mächtigeren Position, also muss ich leider darauf bestehen.» Nur wenn wir anerkennen, dass es Tatsachen gibt, sind auch die Mächtigen haftbar.“ (14)
Susan Neiman hat eine weitere politische Ideologie beschrieben, die zur Erosion von Wahrheitsansprüchen beiträgt. Sie spricht von der „Metaphysik des Misstrauens“ und meint damit die Überzeugung:
„Hinter jeder Behauptung steht ein verborgener Machtanspruch, hinter jedem vermeintlichen Ideal ein Interesse.“
Susan Neiman (16) kritisiert diese „Metaphysik des Misstrauens“ und schreibt dazu:
„Als Paradebeispiel gilt der Irakkrieg. Hinter inflationärer Rhetorik über Gut, Böse und Demokratie stand die Lust auf Regionalherrschaft und Öl – sowie eine willkommene Ablenkung von einer Präsidentschaft, die 2002 als die schlimmste der amerikanischen Geschichte galt. Für viele war dieser Krieg nun der letzte Beweis, dass jeder Versuch, Bösem entgegenzutreten, und jeder Versuch, Gerechtigkeit zu fördern, nichts anderes als Heuchelei sei, der zynische Versuch einer Gruppe, ihre Interessen mit moralischer Rhetorik zu verschleiern. Demnach liegt es in der Natur des Menschen: Jeder handelt, um seine Interessen durchzusetzen, seinen Freunden zu helfen, seinen Feinden zu schaden.“
Neiman (16) weist auf die unzulässige Verallgemeinerung hin, die hier vorliegt:
„Aus der Tatsache, dass einige Menschen blaue Augen haben, kann man nicht schliessen, dass es keine anderen Augenfarben gibt. Aus der Tatsache, dass einige Moralansprüche verborgene Machtansprüche sind, kann man nicht schliessen, dass jeder Anspruch, für das Gemeinwohl zu handeln, einen Machtanspruch verschleiert.“
Dann geht Neiman auf die negativen Folgen dieser verallgemeinerten Misstrauens-Kultur ein:
„Die Verbreitung solcher Ideologien, meist in vereinfachter Form, bemerken wir kaum, weil sie als Selbstverständlichkeiten geäussert werden. Da sie nur halbbewusst weitergetragen werden, verbreiten sie grösstmögliche Unsicherheit. Wer nur gelernt hat, jedem Wahrheitsanspruch mit Misstrauen zu begegnen, dem wird es schwerfallen, eine Lüge als solche zu erkennen.“
Und mit Bezug auf den Irakkrieg schreibt sie weiter:
„So grausam der anhaltende Terrorismus auch ist, es gibt noch tiefergreifendere Folgen des Irakkrieges. Lügen wird immer mehr zur Normalität, das Vertrauen immer weiter zerstört, und dieser Vertrauensverlust wird wiederumg für weitere Lügen ausgenutzt. Als die CIA berichtete, dass russische Hacker 2016 in die US-Wahlen eingriffen, um Trump zum Sieg zu verhelfen, konnte dieser den Bericht höhnisch abweisen: «Das sind dieselben Leute, die sagten, Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen.» Berechtigtes Misstrauen zu missbrauchen, um allgemeines Misstrauen so weit zu verbreiten, dass keinen seriösen Untersuchungen mehr geglaubt wird – dies ist eine Taktik, die jede Form der Gemeinschaft unterhöhlt. Denn jede Gemeinschaft setzt eine gemeinsame Wirklichkeit voraus, deren Existenz von Trumps Sprechern aber geleugnet wird. Inzwischen meinen mehrere Kritiker, die Strategie sei bewusst gewählt worden: Die permanente Verbreitung von offensichtlichen Lügen diene dazu, Gegner zu verwirren. Psychologen nennen diese Strategie Gaslighting. Sie zielt darauf ab, ihr Objekt in den Wahnsinn zu treiben.“ (16)
Keine Gesellschaft kann Fakten verschmähen
Harry G. Frankfurt schreibt, dass keine Gesellschaft es sich leisten kann, die Wahrheit zu verschmähen oder zu missachten. Für eine Gesellschaft reiche es jedoch nicht aus, lediglich anzuerkennen, dass Wahrheit und Falschheit letztlich legitime und bedeutsame Begriffe sind. Darüber hinaus dürfe die Gesellschaft nicht versäumen, Ermutigung und Unterstützung für fähige Individuen bereitzustellen, die sich dem Erwerb und der Nutzung bedeutsamer Wahrheiten widmen:
„Überdies können es sich Gesellschaften, ganz gleich welche Vorteile und Belohnungen sich manchmal durch das Produzieren von Bullshit, durch Verstellung oder durch schiere Lügenhaftigkeit erlangen lassen, nicht leisten, Menschen oder Dinge zu tolerieren, die eine schlampige Gleichgültigkeit gegenüber der Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch begünstigen….
Kulturen sind niemals gesund vorangekommen, und sie können nicht gesund vorankommen, wenn sie nicht über grosse Mengen zuverlässiger Informationen über Fakten verfügen. Sie können auch nicht gedeihen, wenn sie unter dem Einfluss störender Einflüsse durch irrige Überzeugungen stehen. Um eine höhere Kultur zu errichten und zu bewahren, müssen wir vermeiden, uns durch Irrtum oder Unwissenheit schwächen zu lassen.“
Ohne Fakten verliert eine Gesellschaft den gemeinsamen Boden, auf dem sie anstehende Probleme lösen kann.
Individuen brauchen Fakten
Nicht nur Gesellschaften, auch Individuen brauchen Fakten. Diese eigentlich offensichtliche Tatsache (!) scheint auch nicht mehr so ganz klar zu sein.
Harry G. Frankfurt:
„Individuen brauchen Wahrheiten, um sich effektiver ihren Weg durch das Dickicht von Risiken und Chancen zu bahnen, mit dem es alle Menschen unweigerlich zu tun haben, wenn sie ihr Leben bewältigen. Sie müssen die Wahrheit darüber kennen, was sie essen sollen und was sie nicht essen sollen, darüber, wie sie sich anziehen sollen (angesichts der Tatsachen, die die klimatischen Gegebenheiten betreffen), wo sie leben sollen (im Hinblick auf Informationen über solche Dinge wie tektonische Verwerfungslinien, das Auftreten von Lawinen und die Nähe von Läden, Arbeitsplätzen und Schulen), und ebenso auch darüber, wie sie Dinge tun sollen, für die sie bezahlt werden, wie sie ihre Kinder aufziehen sollen, was sie von Menschen halten sollen, denen sie begegnen, was sie zu erreichen in der Lage sind, was sie gerne erreichen würden und eine unendliche Vielzahl anderer profaner und doch entscheidender Dinge.
In allen Dingen, die wir unternehmen, und daher im Leben überhaupt, hängt der Erfolg oder der Misserfolg davon ab, ob wir uns von der Wahrheit leiten lassen oder ob wir in Unwissenheit oder auf der Grundlage von Unwahrheit vorgehen. Er hängt natürlich auch ganz entscheidend davon ab, was wir mit der Wahrheit anfangen. Ohne Wahrheit jedoch sind wir vom Glück verlassen, bevor wir überhaupt begonnen haben…….
Wenn wir ein aktives Leben führen oder wenn wir versuchen, unsere verschiedenen praktischen Angelegenheiten zu planen und zu verwalten, dann gehen wir daran, uns mit der Realität auseinanderzusetzen (wobei ein Teil dieser Realität von uns selbst geschafffen ist, der grösste Teil aber nicht). Die Ergebnisse unserer Bemühungen werden – ebenso wie der Wert, den diese Ergebnisse für uns haben – zumindestens zum Teil von den Eigenschaften der realen Objekte und Ereignisse abhängen, mit denen wir es zu tun haben. Sie werden davon abhängen, wie diese realen Objekte und Ereignisse geartet sind, wie sie zu unseren Interessen passen und wie sie unter der Voraussetzung ihrer kausal relevanten Merkmale auf das reagieren, was wir tun.
Insofern Wahrheiten instrumentellen Wert besitzen, tun sie dies, weil sie das Wesen dieser Realitäten erfassen und vermitteln. Wahrheiten besitzen praktische Nützlichkeit, weil sie aus zutreffenden Darstellungen der Eigenschaften (darunter insbesondere der kausalen Kräfte und Potentialitäten) der realen Objekte und Ereignisse bestehen, mit denen wir uns befassen müssen, wenn wir handeln, und weil sie uns deshalb solche Darstellungen zur Verfügung stellen können.
Zuversichtlich, in berechtigter Erwartung eines Erfolges, können wir nur dann handeln, wenn wir über genügend einschlägige Informationen verfügen. Wir müssen über das, was wir gerade tun, und über die Probleme und Chancen, die im Zuge unseres Handelns wahrscheinlich auftreten werden, genügend wissen. Genügend zu wissen bedeutet hier, genug über die Fakten – d. h. über die Realitäten zu wissen, die von entscheidender Bedeutung für unsere aktuellen Vorhaben und Interessen sind.“ (15)
Demokratie braucht Fakten
Wenn Fakten ihre Bedeutung verlieren, bricht das beste demokratische System zusammen. Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard schreiben in ihrem Buch „Postfaktisch“ (17) dazu:
„Wenn Fakten nach Belieben entsprechend ihrem politischen Nutzen ausgewählt, durch ‚Alternativen’ ersetzt oder einfach geleugnet werden, haben sie jede Autorität als Basis von Debatte und Meinungsbildung verloren. Dann sind Fakten zu Mitteln eines politischen Machtkampfs reduziert, bei dem sie je nach taktischen oder strategischen Bedürfnissen genutzt, ignoriert oder geleugnet werden.
Die Aussage «Manchmal können wir mit den Fakten uneins sein», von Pressesprecher Sean Spicer im Weissen Haus bei der Debatte um die Menschenmenge und den Sonnenschein während der Amtseinsetzung…..getätigt, illustriert treffend ein derart selektives Verhältnis zu Fakten. Es degradiert Sachverhalte zu politischen Instrumenten der Debatte, statt sie als deren Grundlage zu akzeptieren. Wenn selbst mittels zuverlässiger Methoden verifizierte Fakten politisiert und zu Plädoyers reduziert werden, verliert die politische Debatte ihren Fixpunkt in der faktischen Wirklichkeit.“ (17)
Als Präsidentenberaterin Kellyanne Conway auf die Widersprüche zwischen Sean Spicers Aussagen und den Fakten angesprochen wurde, setzte sie dem Bullshit die Krone auf mit der inzwischen berühmt gewordenen Formulierung:
„Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat dazu alternative Fakten dargestellt.“
Nun kann es zwar verschiedene Meinungen geben und allenfalls auch verschiedene Meinungen über Fakten, aber nicht alternative Fakten zu einer bestimmten Frage.
Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber niemand hat ein Recht auf eigene Fakten. Hätte jeder Mensch seine eigenen Fakten, würde jeder gemeinsame Boden für ein Zusammenleben von Menschen sich auflösen.
Deshalb ist die Vorstellung von „alternativen Fakten“ und die Berufung auf „alternative Fakten“ zerstörerisch.
Wo eine Demokratie hinkommen könnte, wenn Fakten ihre Bedeutung im politischen Geschehen verlieren, beschreiben Hendricks & Vestergaard kurz & knapp so:
„Eine Demokratie befindet sich in einem postfaktischen Zustand, wenn politisch opportune, aber faktisch irreführende Narrative statt Fakten als Grundlage für die politische Debatte, Meinungsbildung und Gesetzgebung dienen.“ (17)
Der Übergang in Richtung postfaktischer Demokratie wird von Rechtspopulisten wie Trump und Orban aktiv gefördert durch konsequentes Ignorieren und Diffamieren von Fakten und das Erzeugen und Verbreiten von Lügen als „alternativen Fakten“.
Darüber hinaus werden von solchen Figuren systematisch Institutionen diffamiert, die ihre Lügen durch Faktenchecking entlarven (unabhängige Medien, unabhängige Stiftungen und „Thinktanks“) oder ihrer Macht Grenzen setzen (Gerichte).
Ist das Misstrauen diesen Institutionen gegenüber genügend hoch gestiegen, führt das zu einem umfassenden Skeptizismus, der die Bewertung der Machthaber auf einer faktischen Grundlage untergräbt. Dadurch wird auch die Fähigkeit beschädigt, sie anschliessend zur Verantwortung zu ziehen.
Hendricks & Vestergaard bringen das so auf den Punkt:
„Wenn sowieso alles Lüge ist, ist der eine Lügner nicht schlimmer als der andere – besser also mein Lügner als deiner….Misstrauen von diesem Kaliber untergräbt die Demokratie.“ (17)
Wohin das führen kann, darüber hat Hannah Arendt (1906 – 1975) wichtige Werke veröffentlicht. Hendricks & Vestergaard dazu:
„ Arendt zufolge funktioniert totalitäre Propaganda, indem sie simple und zusammenhängende identitätsstiftende Wir-gegen-die-anderen-Narrative liefert. Solche Narrative platzieren den ansonsten überflüssig gemachten und entfremdeten Anhänger der totalitären Bewegung in eine existenziell Sinn erzeugende, aber fiktive, ‚alternative’ Pseudowirklichkeit. Totalitäre Propaganda nutzt Misstrauen, Polarisierung und konspiratives Denken als Waffen im Kampf um die Macht.“ (17)
Hendricks & Vestergaard bringen in ihrem Buch dazu ein Zitat Hannah Arendts aus ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (18):
„[Die Propaganda der totalitären Bewegung] versucht immer, einen geheimen Sinn in alle öffentlichen Ereignisse einzubringen und hegt den Verdacht, dass eine versteckte Absicht hinter allen öffentlichen politischen Handlungen steckt. Wenn die Bewegung die Macht erobert hat, macht sie weiter mit der Veränderung der Wirklichkeit in Übereinstimmung mit ihren ideologischen Behauptungen. Der Begriff Feindlichkeit wird mit dem Begriff Konspiration ausgewechselt……“ (18, Seite 471)
Hendricks & Vestergaard weiter:
„Narrative Zusammenhänge, ein Gefühl von Sinn und Zweck des Daseins, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und eine Rolle beim Kampf zwischen Gut und Böse können uns in krassen Fällen auch zur Leugnung selbst dessen bringen, was unsere Sinne uns erzählen.“ (17)
Faktenfeindschaft als Wegbereiter des Totalitarismus
Propaganda dient nach Hannah Arendt (18, S. 471) genau diesem Zweck, sie will „den Gedanken frei machen von der Erfahrung und der Wirklichkeit“.
Die Befreiung des Gedankens von der Wirklichkeit sieht sie als essenziellen Bestandteil totalitärer Bewegungen:
„Der ideale Untertan für eine totalitäre Führung ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern es sind Leute, für die Distinktion zwischen Fakten und Fiktion (mit anderen Worten die Realität der Erfahrung) und die Distinktion zwischen wahr und falsch (mit anderen Worten die Standards des Denkens) nicht länger existieren.“ (18, Seite 477)
Hendricks & Vestergaard verweisen zum Schluss auf das Werk „1984“ von George Orwell, in dem der Totalitarismus gesiegt hat:
„Hier haben die Fakten jede Autorität verloren, und es gibt nur eine Autorität zur Definition von Wirklichkeit: Die Partei.“ (17)
Hendricks & Vestergaard zitieren dazu aus Orwell „1984“:
„Die Partei trug dir auf, das Zeugnis deiner Augen und Ohren abzuweisen. Das war ihre letzte und wichtigste Anwesung.“ (19)
Hendricks & Vestergaard kommentieren dieses Zitat mit einer ernsten Warnung:
„Dieser Anweisung darf nicht gefolgt werden. Egal von wem sie kommt. Sonst verlieren wir. Sonst verliert die Demokratie. Sonst verliert die Wirklichkeit.“ (17)
Der Physiker und promovierte Philosoph Eduard Kaeser schreibt dazu in der NZZ:
„Der Appell an die Wahrheit – so altväterisch er klingen mag – ist überlebenswichtig für demokratische Gesellschaften. Sie benötigen das Tribunal der Fakten, das heisst Institutionen, die stark und neutral genug sind, dem Bürger eine tragfähige Basis für seine Entscheidungen zu garantieren. Traditionell sind dies Universitäten, Statistikbehörden, Medien. Das Vertrauen in sie schwindet heute stetig. Die Verdrossenheit gegenüber den Modellen, Analysen, Prognosen der Experten tendiert dazu, dass sich nun jeder zum Experten erklärt. Das Zeitalter des Postfaktischen ist auch eines des Postexpertentums. Wenn aber jeder recht hat, hat niemand recht. Wo die Leitplanken des Faktischen demontiert werden, beginnt die Wildbahn der Stimmungsmache. Es schlägt die Stunde der Dogmatiker, Demagogen und Dummschwätzer.“ (20)
Kaeser verweist auf den britischen politischen Ökonomen Will Davis, der mit Blick auf den Brexit schrieb, dass wir nicht mehr stabile, ‹faktische› Darstellungsweisen der Welt haben, sondern noch nie da gewesene Sensoren und Monitoren dafür, was wo hochkocht, wer was fühlt und was die allgemeine Stimmung ist. Marktprognosen – so Davis – seien kaum mehr als eine Sammeldarstellung der Gefühle und Stimmungen, die man auch über Twitter entdecken kann. Ihr Hauptanliegen sei nicht das Mitteilen von Wahrheit, sondern das Aufzeichnen von Launen.
Bewirtschaftung von Launen ersetzt Streben nach Wissen
Kaeser schreibt dazu, die Bewirtschaftung von Launen sei die politische Verlockung des postfaktischen Zeitalters. Ihr komme die Internetgesellschaft als «Nichtwissenwollengesellschaft» entgegen:
„Wir fragen nicht, wie man objektives Wissen gewinnt und wie es begründet ist. Wir googeln. Wir haben die Suchmaschine bereits dermassen internalisiert, dass wir Wissen und Googeln gleichsetzen.“ (20)
Das führe zum gefährlichen Zustand erkenntnistheoretischer Verantwortungslosigkeit:
„Google-Wissen ist Wissensersatz. Es treibt uns das «Sapere aude» Kants aus: Wagnis und Mut, nach Gründen zu fragen, eine Aussage zu prüfen, bis wir herausgefunden haben, ob sie stimmt oder nicht. Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für dieses Fragen und Prüfen gibt. In ihm beugt sich die Macht dem Argument, nicht das Argument sich der Macht. Allein schon indem man dies ausspricht, muss man zugeben, dass von einem gefährdeten Ideal die Rede ist. Die Zersetzung der Demokratie beginnt mit der Zersetzung ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen. Das heisst, sie ist bereits im Gange. Zeit, dass wir uns bewusstmachen, was auf dem Spiel steht.“ (20)
Bezogen auf Trump hat der Yale-Philosoph Jason Stanley, der kürzlich ein bemerkenswertes Buch über politische Propaganda veröffentlicht hat, darauf hingewiesen, dass die Trump’sche Kommunikationsstrategie weniger «postfaktisch» als «protototalitär» sei. Daniel Binsanger hat Stanleys Position in einem Beitrag für „Das Magazin“ (Nr. 45 / 2016) so zusammengefasst:
„Die Verführungsmacht der Faktenverachtung liegt nicht darin, dass Trump sich die Freiheit nimmt, sich um die Wirklichkeit nicht zu kümmern. Er zeigt der Wirklichkeit vielmehr den Stinkefinger. Er definiert sich seine eigene Realität. Statt Trump sofort zu disqualifizieren, verstärkt sein völlig transparenter Versuch, sich eine Parallelwelt zusammenzufabulieren, noch sein Charisma. Die offensichtliche Lüge wird zum Tatbeweis, dass eine Führerfigur die Macht hat, die Welt genau so herbeizudefinieren, wie immer sie selbst und ihre Gefolgschaft es wollen. Hannah Arendt hat in dieser Ermächtigungsgeste das zentrale Wesensmerkmal totalitärer Propaganda gesehen. Trumps Kommunikationsstrategie benutzt die klassische Klaviatur des faschistischen Charismas.“ (21)
Der Historiker Timothy Snyder (22) hat seinem kleinen Buch mit dem Titel „Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ als Motto ein Zitat des polnischen Philosophen Leszek Kołakowski vorangestellt:
„Getäuscht worden zu sein ist in der Politik keine Ausrede.“
Das könnte meines Erachtens noch ergänzt werden mit: Nicht zur Kenntnis nehmen infolge Wegschauens ist ebenfalls keine Ausrede.
Fakten gegen Meinung und Propaganda verteidigen – aber wie?
Der Versuch, die besorgniserregende gegenwärtige gesellschaftliche und politische Situation rund um die Themen Meinung, Fakten und Wissen zu verstehen, ist zwar eine wichtige Basis, reicht aber nicht aus.
Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire (1921- 1997) hat in seinen Schriften und in seiner Arbeit Wert darauf gelegt, dass menschliche Aktivität aus der Verbindung von Reflexion und Aktion bestehen sollte, wenn es dabei um die Veränderung von Person und Umwelt geht.
Reflexion allein kommt oft nicht wirkend zur Welt. Es bleibt bei abstraktem Verbalismus. Aktion allein lässt oft die Orientierung vermissen über ihren Sinn, Ziel und Zweck. Sie verkommt zu einem Aktionismus, welcher in der Welt wirkungslos verpufft.
Und jetzt ist es Zeit für Reflexion und Aktion.
Aber das mit der Aktion ist gar nicht so einfach, weil es in einer komplexen Situation meist keine eindeutigen Lösungen gibt.
Daher hier fragmentarisch ein paar Anregungen:
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Selber immer wieder üben, zwischen Fakten und Fakes zu unterscheiden.
Sich dafür die Zeit nehmen, die es zur Reflexion oft braucht. Zwei Minuten aufs Smartphone zu schauen wird kaum genügen. Oder wie es der Netzphilosoph Peter Glaser formuliert: „Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit.“ (23)
Eine gute Unterstützung ist das informative Buch von Ingrid Brodig:
„Lügen im Netz, Brandstätter Verlag 2017
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Zuerst prüfen – dann posten oder teilen
Das Teilen von Inhalten auf Facebook, Twitter, YouTube & Co geht oft so schnell, dass keine Zeit bleibt, um die Seriosität der Quelle und des Inhalts zu prüfen. So kann man rasch zum Handlanger von Hassbotschaften, Falschmeldungen und Propaganda werden.
Hier nützliche Links dazu:
Fake News erkennen Tutorial des Fakenfinder der Tagesschau
Wie erkennt man Hasspropaganda? Checkliste der Aktion Stopp Hasspropaganda.
EuvsDisinfo– News und Analysen zu Desinformations-Meldungen der Kreml-Propaganda.
Mimikama– eine internationale Anlaufstelle und Verein zur Aufklärung über Internetbetrug, Falschmeldungen sowie Computersicherheit und zur Förderung von Medienkompetenz.
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In Diskussionen Fakten verteidigen
Das ist oft nicht gerade einfach. Verschwörungstheoretiker, Propagandisten und „Glaubenskrieger“ zum Beispiel wollen oft gar keine Argumente austauschen. Sie sehen sich auf einem missionarischen Weg. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir es unversucht lassen sollten. Und sei es auch nur deshalb, weil im Internet in Foren oder asozialen Medien in der Regel viele stille Mitleser anwesend sind, für die es wichtig ist, dass Widerspruch im Raum erkennbar bleibt.
Hier ein paar Tipps für solche Diskussionen:
– Wenn möglich freundlich und sachlich bleiben, auch wegen der still Mitlesenden. Keine Diffamierungen und persönlichen Angriffe.
– Wenn Sie eine falsche Aussage richtigstellen, sollten Sie sie nicht nur verneinen. Das schwächt Ihren Einwand und ruft nur die ursprüngliche Falschinformation oder das schlechte Argument in Erinnerung. Konzentrieren Sie sich voll und ganz auf die Fakten, die dagegen sprechen. Füllen Sie anschliessend die mentale Lücke, die entsteht, wenn die Falschinformation ausgeräumt ist, mit einer neuen Erklärung der Wirklichkeit oder einer Gegenerzählung. Falls möglich, liefern Sie dabei eine Begründung. Menschen sind über weite Strecken auf der Suche nach Ursachen. Zufall und Glück empfinden sie als kalt und zu abstrakt. Sie lechzen quasi nach Ursachen, nach Auslösern, und verknüpfen daher automatisch Informationen zu ursächlichen Erklärungen. Wenn Geschichten Ursachen für Vorgänge liefern, werden sie deshalb als überzeugender aufgenommen. (24, 25)
– Fragen stellen. Nachhaken, Widersprüche aufgreifen, auf präzisen Erläuterungen bestehen. Fragen so formulieren, dass für die Antworten Informationen abgerufen werden müssen, die Ihre Meinung, Ihr Ziel unterstützen. Zum Beispiel: Was spricht für eine menschengemachte Klimaerwärmung? (24, 25)
–Falschaussagen nicht wiederholen, und wenn, dann nur mit der ausdrücklichen Warnung dass das, was jetz kommt, falsch ist. Betonen Sie gleich am Anfang des Gesprächs die Fakten, nicht aber die Falschinformation. Mit jeder Wiederholung werden sonst die Falschinformationen Ihrem Gegenüber vertrauter. Und was sich vertraut anfühlt, wird eher geglaubt.
– Fordern Sie Quellenbelege und genaue Erklärungen. Fragen Sie nach dem Weg, auf dem die Aussagen zustande gekommen sind. Wer hat das gesagt? Aufgrund welcher Art von Erkenntnissen?
– Wiederholen Sie die korrekte Information immer wieder in einfachen Sätzen. Das schafft Vertrautheit mit der Botschaft und „Vertrautheit schafft Freunde“, wie Sebastian Herrmann (25) es formuliert: „Vertrautheit und positive Gefühle erhöhen die kognitive Leichtigkeit, mit der Menschen Reize verarbeiten. Und das fördert…die Illusion von Wahrheit. Das Gefühl von Vertrautheit wirkt wie gute Laune: In diesem Zustand denken wir eher oberflächlich und intuitiv.“ (25)
Am wirksamsten ist es, wenn die korrekte Information wiederholt von verschiedenen glaubwürdigen Quellen angeboten wird.
– Schwerpunkt auf wenige Kernargumente legen, Überkomplexität meiden. Weniger Argumente entfalten manchmal stärkere Wirkung als eine längere Liste von Aussagen. Insbesondere in Vorträgen und mündlichen Debatten verwirren zu viele Informationen. Drei Gegenargumente können Falschinformationen besser bekämpfen als zwölf. Die grössere Zahl der Argumente verstärkt oft am Ende sogar die Falschinformation. Dieses Phänomen wird Overkill backfire effect genannt. Wenn es anstrengend wird, sich mit so vielen Argumenten herumzuschlagen, kommen Menschen schnell zum Schluss, dass da etwas faul ist, während Leichtigkeit und Übersichtlichkeit als Indiz für Wahrheit genommen wird. Sebastian Herrmann schreibt: „Viele Argumente zu bedenken strengt an. Sich selbst viele Punkte für eine Diskussion zu überlegen, auch. Weil Menschen aber die geistige Leichtigkeit, mit der uns etwa von der Hand geht, als Wahrheitsindiz werten, ist weniger oft mehr.“ (25)
– Reizworte meiden. Einen Verschwörungstheoretiker als Verschwörungstheoretiker zu titulieren mag zwar einem selber gut tun, ist aber bestimmt alles andere als ein Türöffner. Solche Begriffe bedienen Reflexe, bei denen es sich leider um Abwehrreaktionen handelt. Es geht also darum, die Information mit Begriffen zu verpacken, die solche Abwehrreaktionen vermeiden und im Gegenteil wenn möglich den Kontrahenten vielleicht sogar eher öffnen. Das kann zum Beispiel mit Begriffen geschehen, die ihm vertraut sind und die in sein Weltbild oder Wertesystem passen. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von Framing. Ein sehr empfehlenswertes Buch dazu: Elisabeth Wehling, Politisches Framing.
– Die Macht des ersten Moments nutzen.Die eröffnenden Aussagen legen den Tenor fest für die folgenden – wie eine Überschrift über einen Artikel. Präsentieren Sie wichtige Informationen daher ganz am Anfang Ihrer Ausführungen. Sie wirken wie eine Färbung und beeinflussen, im welchem Lichte Ihre weiteren Aussagen bewertet werden.
Ungünstig wirken sich deshalb Anmoderationen aus wie: „Ich will Sie ja nicht stören, aber….“ oder „Ich will ja nicht arrogent klingen, aber…“.
Solche Satzanfänge bewirken genau das Gegenteil dessen, was mit ihnen eigentlich beabsichtigt ist: Zuhörende interpretieren die darauf folgenden Aussagen nun im Lichte dessen, was eigentlich abgemildert werden soll. Die Anmoderation färbt den Rest der Aussage. (25)
– Falls nötig klar machen, was Meinungsfreiheit wirklich bedeutet. Propagandisten von Falschinformationen und Verschwörungstheorien reagieren auf kritische Einwände oft mit Sätzen wie: „Man darf doch noch seine Meinung sagen“ oder „Hey, wir haben Meinungsfreiheit“. Sie gehen in eine Opferhaltung und beklagen, dass ihre Meinungsfreiheit beschnitten wird. Dazu ist festzuhalten:
„Das Recht auf Meinungsfreiheit schützt vor staatlicher Verfolgung und einem Eingriff der Behörden, wenn man Informationen oder Ideen weitergeben möchte. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass jeder seine Meinung in der Tagesschau oder in der FAZ veröffentlichen kann. Oder dass Online-Kommentare nicht gelöscht werden dürfen. Denn niemand ist verpflichtet, sich jemandes Meinung anzuhören. Und Meinungsfreiheit erlaubt auch die Widerrede…..
Rein subjektive Vorlieben wie ‚Bourbon ist besser als Scotch’ können mit Fug und Recht als Meinung gelten. Irrtümer und Fehlannahmen, wie zum Beispiel die Behauptung, dass es keinen Klimawandel gebe, Impfungen Autismus auslösen oder die Erde flach ist, sind keine ‚Meinungen’. Nur die Tatsache, dass Menschen etwas ‚meinen’ oder ‚glauben’, begründet noch lange keinen Respekt davor, denn ‚Meinungen’ können sich jederzeit als falsch oder uninformiert herausstellen. Die Realität schert sich nicht um persönliche Befindlichkeiten.“ (24)
– Sich nicht auf die Gleichwertigkeit aller Positionen festnageln lassen, wenn es um Wahrheit oder Lüge geht. Fakenverleugner erheben oft gegenüber Medien oder Debattengegnern den Anspruch, dass alle Positionen „fair“ behandelt werden müssen, zum Beispiel durch gleiche Redezeiten. Manche Medienleute glauben ebenfalls, diese Gleichbehandlung sei ein Teil ihres Auftrages. Das ist aber nicht adäquat. Evelyn Roll schreibt dazu:
„Man kann in diesen Zeiten einen Text durchaus auch mal beginnen mit den drei Wörtern: Das ist falsch. Wenn einer den Klimawandel oder die Evolution leugnet, lügt oder gegen Minderheiten hetzt, darf man darüber nicht nur berichten, sondern muss dazu senden oder schreiben: Das ist eine Erfindung.
Es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, zu allem ausgewogen zwei Seiten zu präsentieren. Die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte. Lüge und Wahrheit, Fälschung und Original, Bullshit und Information, Sachaussagen und Beleidigungen dürfen nicht gleich behandelt werden.
Wenn jemand behauptet, die Erde ist eine Scheibe, darf die Schlagzeile eben nicht sein: ‚Streit über die Form der Erde’. Anne Will muss darüber auch keine Pro-und-Kontra-Sendung machen, egal, was das Netz sagt. Über die ‚Er-sagt-Sie-sagt’-Formate aus dem Fernsehen des letzten Jahrhunderts und ihr Zersetzungspotenzial sollte überhaupt noch einmal ganz neu nachgedacht werden.“ (26)
– Dort, wo es möglich ist, Verständnis für die Anliegen zeigen, die hinter der Position des Gegenübers erkennbar sind. Verschwörungstheoretiker zum Beispiel glauben oft, dass sie sich gegen Machtmissbrauch und für Gerechtigkeit einsetzen. Solche Anliegen kann man durchaus würdigen, und trotzdem die konkreten konspirativen Positionen des Betreffenden in Frage stellen.
– Story schlägt Statistik. Storys (Anekdoten) haben wissenschaftlich gesehen keine Beweiskraft. Sie überzeugen jedoch oft sehr viel stärker als fundierte, aber abstrakte Statistiken. Leider stützen sich die meisten Irrtümer auf die besseren und spannenderen Geschichten als die korrekten Fakten. Insbesondere wissenschftliche Artikel sind von sich aus eher trocken und leidenschaftlos und erzählen keine Geschichte. Vermeiden Sie es, ausschliesslich mit Zahlen und Studien zu argumentieren. Erzählen Sie wenn möglich gute Geschichten, die zu den Fakten passen. (25)
– Sorgfältig mit Humor, Spott und Ironie umgehen. Ironie funktioniert im Internet oft nicht und wird zu häufig einfach nicht als solche verstanden. Verzichten Sie daher lieber auf Texte, die anders gemeint sind, als sie geschrieben werden. Spott kann eine wirksame Waffe sein, wenn sie am richtigen Ort zur Anwendung kommt. Lorraine Daston (12) antwortet im Interview auf die Frage, wie sie als Bürgerin der USA einer Regierung begegnet, die ‚alternative Fakten’ ersinnt:
„Mit Gelächter. Es ist Zeit, die Waffen der Aufklärung zu fassen, und das waren keine Waffen der Empörung. Philosophen wie Voltaire haben verstanden, dass Empörung ermüdet. Wir brauchen Gelächter, Satire, Spott. Deshalb hasst Donald Trump die Comedysendung «Saturday Night Live» so sehr….
Der beste Weg, die Legitimität eines Herrschers zu untergraben, ist, ihn lächerlich aussehen zu lassen. Es gab nie ein besseres Ziel als Donald Trump. Natürlich braucht es auch eine neue Vision für das Land.“
Allerdings mag Spott ein passendes Mittel sein gegenüber einem Herrscher und erst recht, wenn eine Figur derart viele Absurditäten von sich gibt wie Trump. In der direkten Interaktion mit einem Gegenüber, das man überzeugen möchte, kommt Spott jedoch selten gut an, weil diese Leute oft sowieso schon permanent das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden.
Humor kann aber im Internet auch eine Chance sein, die Stimmung ein bisschen zu lockern. Er darf dann den anderen aber nicht herabsetzen und muss gut „getimet“ und dosiert werden. Das ist nicht einfach, weil im Internet das nonverbale Feedback fehlt.
– Den positiven Halo-Effekt nutzen. Der Begriff „Halo-Effekt“ leitet sich vom englischen Wort für Heiligenschein ab und er besagt, dass eine Eigenschaft eines Menschen oder einer Sache sämtliche anderen, weniger offensichtlichen Eigenschaften überstrahlt. Ein positiver Halo-Effekt liegt zum Beispiel vor, wenn eine Fair-Trade-Schokolade als gesünder, eine atttraktive Person als intelligenter und ein Mensch mit Doktor-Titel auf allen Gebieten als glaubwürdiger eingeschätzt wird. Wenn Sie also mit einer positiven Eigenschaft wie zum Beispiel gute Präsentation, freundliches Auftreten etc. Eindruck machen, wird das auch die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente erhöhen. (25)
– Den negativen Halo-Effekt vermeiden. Tritt irgendeine negative Eigenschaft in Ihrem Auftreten in den Voprdergrund, zum Beispiel unordentliche Kleidung, dann kann das auf die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente abfärben. Wenn etwas schlecht ist, sagt der negative Halo-Effekt, dann ist alles schlecht. Kaum relevante negative Details können so das Ganze in ein ungünstiges Licht tauchen. Es spricht viel dafür, dass dieser Effekt auch bei Diskussionen zur Wirkung kommen kann. So können drei starke Argumente höchstwahrscheinlich mehr Überzeugungskraft entfalten als drei starke plus zwei schwache, angreifbare Argumente. Das ist im übrigen oft ein Nachteil für die Wissenschaft, gegenüber Pseudowissenschaft und dogmatischen Gedankengebäuden. Sie verwendet nur selten absolute Aussagen, sondern weist auch auf eigene Lücken hin. Dem setzen zum Beispiel Dogmatiker und Verschwörungstheoretiker scheinbar letztgültige Wahrheiten entgegen und nutzen diese Lücken, um die Wissenschaft zu desavouiren.
Klar ist deshalb, dass möglichst auch kleine Fehler vermieden werden sollten. Verzichten Sie zudem auf schwache Argumente und konzentrieren Sie sich auf die starken. Wenn Schwächen und Lücken unvermeidbar sind, sollten Sie diese offensiv ansprechen, bevor es ihr Gegner tut. (25)
– Klare Darstellung erhöht Glaubwürdigkeit. Falls Sie schriftliche Überzeugungsarbeit leisten, unternehmen Sie alles, um Ihren Text formal so lesbar zu machen, wie es geht (gute Kontraste, klares Schriftbild, Druckqualität etc.). Setzen Sie die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Textverarbeitungsprogramme nur dosiert ein (Fettsetzen, Kursivsetzen, verschiedene Schriftgrössen etc.). Je mehr unser Geist sich anstrengen muss bei der Verarbeitung des Textes, desto eher schaltet sich der analytische Verstand ein, wodurch der Text kritischer geprüft wird und der Inhalt dementsprechend weniger ankommt.
– Fotos erhöhen die Glaubwürdigkeit. Sie verbessern die Leichtigkeit, mit der wir Informationen verarbeiten, und erzeugen dadurch eine Illusion von Vertrautheit. Ebenso wie andere positive Gefühle wird dadurch die kognitive Leichtigkeit erhöht, mit der wir im Geiste nach Erinnerungen oder Anhaltspunkten suchen. Das hilft dabei, die Aussage in einen Kontext einzubetten und dadurch erreicht sie den Adressaten besser. Auch einfache Balken-, Torten- oder andere Grafiken erhöhen die Glaubwürdigkeit von Aussagen.
– Sich des Backfire-Effekts bewusst sein. Werden Menschen mit Informationen konfrontiert, die ihrer Weltsicht, ihren Grundwerten oder ihrer Ideologie widersprechen, wird ihr Fehlglaube dadurch oft erst recht zementiert. Statt sich mit den Gegenargumenten auseinanderzusetzen, durchsuchen sie ihr Gedächtnis und ihre Umgebung intensiv nach Gründen, die ihren Standpunkt stützen. Korrekturversuche können dann zur Folge haben, dass Falschmeldungen und Verschwörungstheorien noch stärker geglaubt werden, vor allem wenn diese identitätsstiftend sind. Der Versuch einer faktischen Richtigstellung wird dann als Frontalangriff auf Weltsicht, Lebensstil oder Charakterfundament empfunden. Der Backfire-Effekt wurde von den Politikwissenschaftlern Brendan Nyhan and Jason Reifler im Jahr 2010 beschrieben. Er tritt insbesondere auf bei emotionalen Themen, die mit unserer Identität verbunden sind, und wenn es um innerste Überzeugungen geht. In solchen Fällen dürfte es kontraproduktiv sein, das Gegenüber mit einem Schwall von Fakten an die Wand zu spülen. Gefragt ist vielmehr Respekt für die Geschichte, die dieser Mensch mit diesem Thema haben mag. Oder wie Harald Lesch es in der Sendung Terra X einmal gesagt hat: Unsere Überzeugungen haben einen Migrationshintergrund, den es zu verstehen gilt.
Konfrontation mit Fakten braucht den Boden einer menschlichen Beziehung und den Versuch, Brücken zu bauen. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei Glaubwürdigkeit.
– Klare Botschaften in kurzen Sätzen. Komplizierter Jargon schafft Distanz. Komplizierte Formulierungen vermitteln Zuhörenden den Eindruck, dass das gesagte nichts mit ihnen zu tun hat. (25)
– Resolutes, aber nicht arrogantes Auftreten. Zum Beispiel durch: Eigenes Profil und eigene Weltsicht zeigen, Interessenehrlichkeit, Wahrheitskriterien benennen. (24)
– Angebliche oder reale Popularität kontern. Die Popularität einer Ansicht, die Verbreitung eines Produkts, eines Verfahrens oder einer Therapie ist kein Garant für Qualität oder Wahrheit. Popularität verschafft oft die Illusion von Wahrheit. Deshalb ist Skepsis angebracht, wenn Popularität als einziger Beleg aufgeführt wird. Hier kann mit Gegenbeispielen gezeigt werden, wer alles nicht auf diese Ansicht, dieses Produkt, dieses Verfahren „steht“.
– Sprachlich die Erwartungen des Gegenübers erfüllen, zum Beispiel bei der Auswahl von Begriffen. Das tönt vertraut und Vertrautheit fühlt sich wahr an. Es gibt Begriffe, die passen vom Kontext her zusammen, zum Beispiel „Boot“ und „See“. Solche passenden Kombinationen lassen sich kognitiv einfacher verarbeiten und das fördert Vertrautheit und damit die Glaubwürdigkeit. (bspw. im Satz: Der stürmische See liess das Boot schaukeln).
Bei den Begriffen „Boot“ und „Geld“ zum Beispiel ist eine solche sprachliche Nähe nicht schon vorhanden (bspw. im Satz: Er sparte Geld und kaufte ein Boot). Hier braucht es mehr geistigen Aufwand, um den Satz zu verarbeiten. Auch Reime und kurze Slogans werden leichter angenommen. (25)
Ein sehr empfehlenswertes Buch dazu: Elisabeth Wehling, Politisches Framing.
– Bei unbelehrbaren Diskussionsgegnern eine Grenze setzen. Nicht endlos weiterdiskutieren, wenn klar geworden ist, dass das Gegenüber an Argumenten kein Interesse zeigt.
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Unabhängige Medien unterstützen.
Klassische Medien sind in der Krise. Das hat verschiedene Ursachen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass Werbegelder in sehr grossem Stil zu Plattformen wie Google und Facebook abwandern, die selber keine journalistischen Leistungen erbringen. Auch hat sich im Internet eine Gratisklutur etabliert, die es schwer macht, mit fundierter Information Geld zu verdienen. Aber gute, unabhängige Information kann nicht gratis sein. Wenn es Ihnen also möglich ist:
– Bezahlen Sie für fundierte Information von Qualitätsmedien, zum Beispiel mit einem Abo.
– Unterstützen Sie öffentlich-rechtliche Medien politisch, sie sind unverzichtbar für eine funktionierende Demokratie.
– Unterstützen und nutzen Sie Medien, die sowohl politisch als auch wirtschaftlich unabhängig sind, zum Beispiel:
– Interessieren Sie sich für Organisationen, die an einer Zukunft für unabhängige Medien arbeiten, zum Beispiel: Verein Mediaforti
Unterstützen Sie solche Organisationen finanziell oder durch Mitarbeit.
– Verteidigen Sie Medien gegen pauschale Diffamierungen mit Kampfbegriffen wie „Lügenpresse“, ein Begriff, der nicht zufällig von den Nationalsozialisten verwendet wurde, um ihre Gegner zu diffamieren. Medien sollen dort kritisiert werden, wo sie Fehler machen. Dazu muss genau gesagt werden, was, wann, wie und durch wen etwas falsch gelaufen ist – und es müssen dazu Argumente und wenn möglich Belege geliefert werden. Die pauschale Diffamierung von „Mainstreammedien“ dient dagegen nur dazu, Misstrauen in Medien mit journalistschem Anspruch zu schüren, damit die Leute stattdessen obskuren „alternativen Medien“ der Rechtspopulisten und Rechtsextremen glauben, die hauptsächlich politisch motivierte Falschmeldungen, Propagandaschrott und Verschwörungstheorien verbreiten. Das prominenteste Beispiel gegenwärtig ist da wieder Donald Trump, der jedes Medium, das seine Lügengeschichten hinterfragt, durch fortlaufende Diffamierung zu demontieren versucht. Eine brandgefährliche, antidemokratische Strategie, weil Medien eine wichtige Kontrollfunktion in der Demokratie haben. Trump bezeichnet jede Kritik an seiner Politik als „Fake News“, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt.
Weitere Informationen zur Medienkrise liefern die folgenden Bücher:
☛ Die Aufmerksamkeitsfalle, von Matthias Zehnder
Über Ursachen und Folgen der Medienkrise.
☛ Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde
Warum Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet, von Stephan Russ-Mohl
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Factchecking-Organisationen konsultieren und unterstützen
Als Reaktion auf die Flut von Falschmeldungen wurde eine Reihe von Factchecking-Organisationen gegründet. Sie sollen Aussagen anhand von nachprüfbaren, rationalen und objektiven Fakten überprüfen. Damit erfüllen sie wichtige Aufgaben (23):
– Sie informieren JournalistInnen, BürgerInnen und PolitikerInnen über laufende Desinformationskampagnen.
– Sie leisten einen Beitrag zur Medienkompetenzbildung in der Öffentlichkeit: Factchecking zeigt anschaulich, wie versucht wird, die Schwächen der digitalen Öffentlichkeit auszunutzen, um zu täuschen oder zu manipulieren. Die Factchecker erklären mit ihrer Arbeit aber auch, mit welchen Methoden und Strategien sich Nachrichten im digitalen Raum überprüfen lassen. Diese Überprüfung durch die KonsumentInnen von Nachrichtenangeboten selbst ist notwendig geworden, weil im digitalen Raum potentiell jede Person sowohl Informationen als auch Desinformationen verbreiten kann. Journalistinnen und Journalisten können daher ihrer ursprünglichen Funktion als “Gatekeeper”, also als Filter für Relevanz und Güte von Informationen in der digitalen Welt, nicht mehr genügend nachkommen. Deshalb brauchen die LeserInnen Kompetenzen, die sie unter anderem durch Factchecking Techniken erlernen können. Factchecker können mit ihrer Arbeit wichtige Grundlagen der Medienkompetenz an die LeserInnen vermitteln, damit sie lernen, wie sich Nachrichten im Netz auf ihre Faktizität überprüfen lassen.
Factchecking ist ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen Desinformation, aber kein alleiniges Heilmittel. So ist es wichtig, die Grenzen seiner Wirksamkeit zu kennen (23):
– Factchecking ist naturgemäss Symptombekämpfung. Es kann weder die Produktion noch die Nachfrage an Desinformation im Wesentlichen unterbinden.
– Falschmeldungen verbreiten sich im Internet laut Studien etwa sechs Mal schneller als korrekte Informationen. Weil sie meist emotionalisierender sind, werden sie viel stärker gelikt und geteilt und dadurch zusätzlich von den Algorithmen der Social-Media-Plattformen bevorzugt. Lügen ins Netz zu stellen ist einer Frage von Minuten und kostet kaum etwas. Die Lügen zu widerlegen braucht dagegen oft erheblichen Aufwand an Zeit & Fachwissen.
Falschmeldungen können sich in der Zeit zwischen ihrer Veröffentlichung und der Antwort der Fact-Checker bereits schnell weiter verbreiten.
Factchecking wird daher sehr oft den Falschmeldungen hinterherlaufen und kann sie nur schwer wieder einfangen. „Die Lüge fliegt und die Wahrheit humpelt ihr hinterher“, hat schon Jonathan Swift (1667 – 1745) festgestellt – schon sehr lange vor dem Social-Media-Zeitalter…..
– Wenn Factchecking ankommt, dann ist es oft fraglich, ob es auch dort ankommt, wo es am dringendsten nötig wäre. Leute, die Factchecking-Seiten konsultieren, sind mit grosser Wahrscheinlichkeit schon kritisch gegenüber Falschmeldungen und besitzen eine gewisse Medienkompetenz. Leute, die anfällig sind für Falschmeldungen und Verschwörungstheorien, werden solche Seiten aber überwiegend nicht zur Kenntnis nehmen. Factchecking-Informationen könnten bei diesen Personen sogar einen Backfire-Effekt auslösen und die Falschinformationen verstärken, da die Torpedierung des eigenen Weltbildes zu einer Art „Jetzt-erst-Recht“-Mentalität führt.
Alexander Sängerlaub schreibt dazu:
„Demnach ist die Crux des Fact-Checkings, dass es dort wo es ankommt, nicht gebraucht wird und dort wo es gebraucht wird, nicht ankommt. Kommt es doch an, ist seine Wirkung wiederum begrenzt. An der Produktion und Konsumption von Desinformation kann das Fact-Checking nichts ändern.“ (23)
Was ist zu tun? Factchecking ist notwendig, reicht aber allein nicht aus. Es muss eingebettet sein in ein Bündel von Massnahmen, das auch an den Ursachen des Symptoms zunehmender Desinformation ansetzen sollte (23):
– Medienkompetenz fördern. Dabei sind nicht nur Schulen und weiterführende Bildungswege zu berücksichtigen, sondern auch und gerade die Erwachsenenbildung, sowie Behörden und Polizei.
Wenn durch die „Demokratisierung der Öffentlichkeit“ jede Person heute einfach Teil öffentlicher Kommunikation sein kann – müssen die Menschen dazu auch sinnvoll befähiget werden. Heutzutage braucht es mehr denn je zusätzliche Kompetenzen für alle Bürgerinnen und Bürger, etwa um zu verstehen, welche Rolle Algorithmen bei der Aufbereitung des persönlichen Newsfeeds spielen oder wie die Güte einer Quelle im Internet beurteilt werden kann. Verschiedene Studien wie die des Kommunikationswissenschaftlers Lutz Hagen haben gezeigt, dass der Umgang mit und das Verständnis von Nachrichten bisher „mangelhaft“ ist. (23)
Dieser Vorschlag läuft auf die „Redaktionelle Gesellschaft“ hinaus, die der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch „Die gereizte Gesellschaft“ zur Diskussion stellt.
– Internet-Plattformen wie Facebook, Twitter und Google zu mehr Transparenz zwingen und stärker in die Verantwortung nehmen. Dabei stellt sich bezüglich Verantwortung zum Beispiel die Frage, ob solche Plattformen nicht stärker dem Presserecht unterstellt werden müssen. Transparenz ist von diesen Plattformen zu fordern bezüglich der Bereitstellung von Daten für unabhängige Forschung. Nur mit mehr Datenmaterial lässt sich der Einfluss von Desinformation und Propaganda sinnvoll erforschen.
– Die Brandstifter bekämpfen. Falschmeldungen muss dazu zum einen der gesellschaftliche Nährboden entzogen werden. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage: „Wer sind die BrandstifterInnen?“
Alexander Sängerlaub schreibt dazu:
«Die Bekämpfung der eigentlichen Ursachen für Desinformationskampagnen sollte mehr ins Zentrum rücken, als zu versuchen, die Symptome zu verringern. Die Vergiftung des öffentlichen Diskurses durch – hierzulande vorrangig Rechtspopulist:innen – ist der größere Schaden an der Gesellschaft, der durch ‚Fact-Checking’ allein nicht behoben werden kann…..
„Eine Kultur, die sich vor allem auf die Entlarvung des Falschen konzentriert, bringt deshalb nicht schon etwas Richtiges hervor“, schreibt der Zeit-Journalist Tobias Haferkorn (27) und fasst damit die nüchterne Erkenntnis der großen amerikanischen Zeitungen New York Times und Washington Post zusammen, dass das bloße Auflisten aller Falschbehauptungen von US-Präsident Trump sich als Prinzip schnell abgenutzt hat.»
Dass die fortlaufenden Lügen dem US-Präsidenten Donald Trump bei seinen Anhängerinnen und Anhängern offenbar kaum schaden, ist eine ernüchternde Erkenntnis der letzten Jahre.
Alexander Sängerlaub schliesst seine Studie mit den Worten:
„Wer…. ‚Desinformations-Feuer’ in der Öffentlichkeit wirklich effizient verhindern will, muss vor allem eines bekämpfen: die Brandstifter.“
Beispiele für Factchecking-Organisationen:
Correktiv – Recherchen für die Gesellschaft
EU Mythbusters (deckt Kreml-Desinformation auf)
StopFake (deckt Kreml-Desinformation zum Krieg in der Ukraine auf)
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Brücken bauen, nicht spalten!
Falschmeldungen haben vor allem grosse Chancen in polarisierten, gespaltenen Gesellschaften. Um den Nährboden für Falschmeldungen auszutrocknen, muss daher der Polarisierung entgegengewirkt werden. Dazu vier wichtige Grundregeln:
☛ In Wort und Tat möglichst nicht spalten und keine Feindbilder bewirtschaften, sondern wo möglich Brücken bauen.
☛ Keine Politikerinnen und Politiker wählen, die sich spaltend und polarisierend verhalten oder politische Gegner diffamieren und verteufeln. Ein Vorbild für demokratisches Verhalten ist der verstorbene US-Senator McCain, der im Wahlkampf seinen Konkurrenten Obama gegen diffamierende, verschwörungstheoretische Anwürfe in Schutz nahm. Er hat dadurch die Demokratie über seinen eigenen aktuellen Nutzen gestellt (Video dazu hier)
☛ Organisationen finanziell und durch Mitarbeit unterstützen, die sich für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen Spaltung einsetzen. Beispiel: Neue Helvetische Gesellschaft (NHG)
☛ Politische Parteien unterstützen, die ein nicht-spalterisches, kompromissfähiges Verhalten an den Tag legen. Kompromisse zwischen verschiedenen Positionen sind ein Wesenselement der Demokratie. Politische Parteien meiden, die behaupten, dass nur sie den „Volkswillen“ vertreten und die so tun, als seien alle anderen Positionen und Parteien illegitim. Diese antipluralistische Haltung ist Gift für die Demokratie. Politische Parteien meiden, die demokratische Institutionen wie Parlamente, Institutionen des Rechtsstaates (Gerichte) und unabhängige Medien diffamierend und pauschal angreifen (präzise, auf Argumente gestützte Kritik ist in Ordnung, diffamierendes pauschales Herabsetzen nicht).
Faktenfixierte Technokratie
– keine erstrebenswerte Alternative
Wenn Fakten ihre Bedeutung verlieren, ist die Demokratie in Gefahr. Mit diesem Thema haben wir uns in den vorherigen Abschnitten ausführlich befasst. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass eine Dominanz von Fakten in der Politik genauso antidemokratisch wirken kann. Weder eine postfaktische noch eine rein faktische Demokratie ist erstrebenswert. Hendricks/ Vestergaard dazu:
„Beide Extreme untergraben letzten Endes die Demokratie. Eine gesunde Demokratie hingegen gründet sich auf einer Arbeitsteilung zwischen der Aufdeckung von Fakten – als Aufgabe für Journalisten, juristische Instanzen und Wissenschaftler – und der demokratischen Erörterung, die Werte und Visionen für das gute Leben sowie die gute Gesellschaft beinhalten und zwischen Bürgern und Politikern geführt wird. Sowohl in der rein faktischen wie in der postfaktischen Demokratie ist genau diese Arbeitsteilung aufgelöst.“ (17)
Gegenüber Fakten – zum Beispiel die Einkommensverteilung – kann man politisch verschiedene Haltungen einnehmen. Man kann darüber diskussieren, ob sie geändert werden sollen und wenn ja in welche Richtung und wie. Aber die Fakten selbst sind nicht politisch, sie müssen ausserhalb der politischen Diskussion stehen, sie müssen wissenschaftlich, juristisch oder journalistisch geklärt werden. Wenn faktische Fragen zu politischen gemacht werden, bricht diese Arbeitsteilung zusammen. Wie Fakten politisiert und aus politischen Gründen zurecht gebogen werden, zeigt sich beispielsweise in den kontrafaktischen Behauptungen Trumps, dass bei seiner Inaugurationsrede die Sonne schien und die Menge der Teilnehmer grösser war als bei allen anderen Inaugurationen ever.
Die Aufrechterhaltung der Arbeitsteilung setzt ein gewisses Mass an Respekt für die Institutionen und Methoden voraus, die zuverlässig faktisches Wissen liefern. Dazu zählt auch, dass Wissenschaftler und ihre Forschungsergebnisse nicht in Misskredit gebracht werden, wenn sie politischen Interessen oder Tagesordnungen zuwiderlaufen. Solche Diffamierungsstrategien lassen sich beispielsweise beobachten gegenüber Klimatologen und ihren Forschungsergebnissen bezüglich Klimaerwärmung.
Das Ideal der Arbeitsteilung verlangt allerdings zugleich auch, dass Wissenschaftler, Experten und Politiker nicht umgekehrt politische Fragen zu ausschliesslich wissenschaftlichen oder technischen – faktischen – Fragen machen:
„Werden politische Fragen zu faktischen Fragen verkleinert, geht die Bewegung hin zum anderen Ende der Skala, an dem die Arbeitsteilung auch wieder aufgehoben ist. In der völlig faktischen Demokratie gibt es keine politischen Fragen und keinen Platz für verschiedene – aber nach wie vor legitime – Haltungen. Alle Fragen werden als solche von Fakten gesehen, auf die wissenschaftliche Experten die Antwort geben können und sollen. Mit anderen Worten: Die faktische Demokratie ist nicht sonderlich demokratisch. Sie ist eine Technokratie……
In einer Technokratie sind alle Fragen faktischer Natur. Wenn selbst normative Wertfragen dazu, wie die Gesellschaft eingerichtet werden sollte, als faktische Fragen behandelt werden, über deren Wahrheitswert Wissenschaftler und Experten entscheiden können und sollen, gibt es nichts mehr demokratisch zu erörtern oder mittels politischer Haltung zu klären. Es bleibt nur, sich nach den Vorschriften der Experten zu richten. Ansonsten wäre man nicht einfach uneins, sondern würde irren.“ (17)
Die Technokratie neigt dazu, politische Lösungen als alternativlos darzustellen und sie dadurch politischen Erörterungen zu entziehen. Dadurch untergräbt sie die Demokratie.
Kommen durch technokratische Lösungen einzelne Bevölkerungsgruppen unter Druck, schafft das Nährboden für die Abweisung und Politisierung von Expertenwissen.
In der Realität gibt es nicht die faktenfreie „postfaktische“ Demokratie und die rein faktische Technokratie, sondern Mischformen, mit mehr oder weniger starker Tendenz in eine Richtung.
Jan-Werner Müller weist in seinem Buch „Was ist Populismus?“ auf eine Gemeinsamkeit des faktenfeindlichen Populismus und der faktenfixierten Technokratie hin. Der Gegensatz zwischen Technokratie und Populismus sei viel weniger scharf, als man auf den ersten Blick meinen könnte:
„Schliesslich suggerieren die Technokraten, es gäbe nur eine rationale policy, während ein Populist behauptet, es gäbe nur einen wahren Willen des Volkes. Anders ausgedrückt: Sowohl Technokratie als auch Populismus sind ihrer inneren Logik nach antipluralistisch. Beide brauchen keine Debatten und keine Parlamente, in denen über unterschiedliche Optionen diskutiert und in denen möglicherweise überraschende Entscheidungen getroffen werden – denn die richtige Antwort steht ja ohnehin bereits fest. Hier treffen sich also wirklich einmal zwei Extreme – nämlich in einer gemeinsamen antipolitischen Haltung.“ (28)
Weder die faktenfreie, „postfaktische“ Demokratie noch die rein faktische Technokratie ist also ein praktikables, erstrebenswertes Gesellschaftsmodell. Beide höhlen Demokratie in ihrem Kern aus.
Wahrheit ist nicht Wahrheit…….?
„Truth isn’t truth“ sagt Donald Trumps Anwalt Rudolph Giuliani im Gespräch mit dem NBC-Moderator Chuck Todd:
„Wahrheit ist nicht Wahrheit.“
In George Orwells zukunftspessimistischem Romanklassiker „1984“ ist ein Ministerium für Wahrheit dafür zuständig, die Vergangenheit laufend an die jeweils aktuelle Linie der Partei anzupassen – bis man sogar daran glaubt, dass 2+2 5 ergibt. (29)
„Wahrheit ist nicht Wahrheit“ – das könnte aus Orwells „1984“ stammen. Das erweckt den Eindruck, dass wir dieser Horrorvision möglicherweise näher sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es ist höchste Zeit, die bedrohten Wahrheitsansprüche zu verteidigen und damit den Boden zu sichern, auf dem Demokratie und Rechtsstaat stehen.
Ex-FBI-Chef Comey hat in Reaktion auf den Satz Giulianis auf den Punkt gebracht, was eine solche Haltung für den Rechtsstaat bedeutet:
„Wahrheit existiert und Wahrheit zählt. Wahrheit war schon immer der Prüfstein des Justizsystems und des politischen Leben unseres Landes. Menschen, die lügen, werden zur Rechenschaft gezogen. Wenn wir losgebunden von Wahrheit sind, kann unser Justizsystem nicht funktionieren und eine auf Rechtsstaatlichkeit beruhende Gesellschaft löst sich auf.“ (30)
In Anlehnung an den Schlusssatz des Kommunistischen Manifests – „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ – ist es heute wohl notwendig zu sagen: Demokratinnen und Demokraten aller Länder, organisiert euch!
Quellen:
(1) Mathias Pluess, „Wir Selbstverblöder“, Das Magazin Nr. 27, 7. Juli 2018
(2) Björn Milbradt, Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen’ Zeiten, Verlag Barbara Budrich 2018
(3) Herbert Schnäbelbach, „Ist alles bloss Ansichtssache? Meinen, Glauben und Wissen“, in: Schnäbelbach / Hastedt / Keil, Was können wir wissen, was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten. Rowohlt 2009
(4) Gustav Seibt, Soziale Medien: Jeder schnitzt sich sein Weltbild zurecht
https://www.sueddeutsche.de/kultur/meinung-im-netz-soziale-medien-jeder-schnitzt-sich-sein-weltbild-zurecht-1.3118885
(5) Karl Popper, Lesebuch, UTB 2000
(6) Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, Piper 1987
(7) Günther Ropohl, Was kann ich wissen? In: Sinnbausteine für ein gelingendes Leben, Reclam Verlag 2003
(8) André Comte – Sponville, Ermutigung zum unzeitgemässen Leben, Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Rororo 2001
(9) Bernhard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Suhrkamp 2003
(10) „Wahrhaftigkeit in Zeiten von Facebook“, Greta Lührs in Philosophie-Magazin „Hohe Luft“, Nr. 4 / 2016
(11) Martin Seel, 111 Tugenden und 111 Laster, S. Fischer 2011
(12) Lorraine Daston, «Bauchgefühl ist nicht Wahrheit»
https://www.tagesanzeiger.ch/wissen/geschichte/bauchgefuehl-ist-nicht-wahrheit/story/26027334
Lorraine Daston, die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte
(13) Lenz Jacobsen, Das Zeitalter der Fakten ist vorbei,
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-06/populismus-brexit-donald-trump-afd-fakten
(14) Paul Boghossian, Interview im Philosophie-Magazin „Hohe Luft“ (Nr.4/2017)
(15) Harry G. Frankfurt, Über die Wahrheit, Hanser 2006
(16) Susan Neiman, Widerstand der Vernunft, Ecowin Verlag 2017
(17) Vincent F. Hendricks / Mads Vestergaard, Postfaktisch, Blessing Verlag 2018
(18) Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism. New York 1951, dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M., 1955; 10. Auflage. Piper, München 2003
(19) George Orwell, 1984, erschienen 1949
(20) Eduard Kaeser, Das postfaktische Zeitalter, NZZ 22. 8. 2016
https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/googeln-statt-wissen-das-postfaktische-zeitalter-ld.111900
(21) Daniel Binswanger, Je vulgärer desto glaubwürdiger, „Das Magazin“ Nr. 45 / 2016
https://www.dasmagazin.ch/2016/11/11/je-vulgaerer-desto-glaubwuerdiger/?reduced=true
(22) Timothy Snyder, Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand, C. H. Beck Verlag 2017
(23) Alexander Sängerlaub, Feuerwehr ohne Wasser? Möglichkeiten und Grenzen des Fact-Checkings als Mittel gegen Desinformation, Stiftung Neue Verantwortung e. V.:
https://www.stiftung-nv.de/sites/default/files/grenzen_und_moeglichkeiten_fact_checking.pdf
(24) Bernd Harder, Verschwörungstheorien, Ursachen – Gefahren – Strategien, Alibri Verlag 2018
(25) Sebastian Herrmann, Starrköpfe überzeugen, Psychotricks für den Umgang mit Verschwörungstheoretikern, Fundamentalisten, Partnern und Ihrem Chef, rororo TB 2013
(26) Evelyn Roll, Die Erde ist eine Scheibe. In: Was tun – Demokratie versteht sich nicht von selbst, Antje Kunstmann Verlag 2017
(27) Tobias Haferkorn,, Fake News sind immer die anderen, Die Zeit 16. 1. 2018
https://www.zeit.de/kultur/2018-01/alternative-fakten-unwort-des-jahres-donald-trump
(28) Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Suhrkamp 2016
Eine Zusammenfassung dieses Buches von Jan-Werner Müller finden Sie hier:
Was ist Populismus und was nicht?
(29) „Wahrheit ist nicht Wahrheit“, sagt Rudolph Giuliani, Spiegel online, 19. 8. 2018
https://www.spiegel.de/politik/ausland/rudy-giuliani-wahrheit-ist-nicht-wahrheit-sagt-donald-trumps-anwalt-a-1223912.html
(30) „Wahrheit ist nicht Wahrheit“, ZEIT online
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/russland-affaere-donald-trump-rudy-giuliani-john-brennan
Autor: Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde am Seminar für Integrative Phytotherapie in Winterthur (Schweiz) und Leiter von Kräuterwanderungen und Kräuterkursen.
Weitere Texte von mir zu gesellschaftspolitischen Themen:
– Was ist Populismus? Und was nicht?
Zusammenfassung des Populismus-Konzepts von Jan-Werner Müller.
– Notwendig: Den Sumpf der Hasspropaganda im Internet trockenlegen
Hauptsächlich eine Zusammenfassung von „Hass im Netz“ von Ingrid Brodnig.
– Demokratie braucht diskursive Gesprächskultur
Zum Mittelweg zwischen Relativismus und Dogmatismus.
– Wie Medien via Aufmerksamkeitsfalle den Populismus fördern.
Eine Zusammenfassung des Buches „Die Aufmerksamkeitsfalle“ von Mattthias Zehnder.
– Offene Gesellschaft oder Geschlossene Gesellschaft – wohin geht die Reise?
Liberale Demokratien sind weltweit unter Druck. Das Konzept der offenen Gesellschaft von Karl Popper ist deshalb wieder sehr aktuell und bietet wertvolle Hinweise zur Verteidigung der liberalen, offenen Demokratie.
– Ralf Dahrendorf zu den Gefährdungen liberaler Demokratien
Schleichender Autoritarismus, Staatsversagen, Einschränkung demokratischer Entscheidungsmöglichkeiten im Nationalstaat infolge Globalisierung, neuer Regionalismus.
– Lob der Kritik.
Vom Wert der Kritikfähigkeit in Zeiten von Fake News.
– Hannah Arendt: Standnehmen in der Welt statt Weltentfremdung
Die Sorge um intakte Weltbezüge in der modernen Gesellschaft.