Hier ein Zitat von Anne Morrow Lindbergh zum Thema „Älterwerden“:
„Denn könnte man die Mitte des Lebens nicht als eine Zeit zweiter Blüte, zweiten Wachstums betrachten, ja sogar als eine Art zweiter Jugend? Zugegeben, die Gesellschaft trägt im allgemeinen nicht dazu bei, die zweite Lebenshälfte unter diesem Aspekt zu sehen. Und deshalb ist diese Phase der Entwicklung oft tragischen Missverständnissen ausgesetzt. Vielen Menschen gelingt es nie, über die Hochebene der vierziger Jahre hinauszugelangen. Die Wachstumsschmerzen, die meiner Ansicht nach jenen der früheren Jugend so ähnlich sind – Unzufriedenheit, Ruhelosigkeit, Zweifel, Verzweiflung, Sehnsucht – werden fälschlich als Zeichen des Verfalls gedeutet. In der Jugend missdeutet man diese Anzeichen nicht so häufig; man nimmt sie ganz richtig als Wachstumsschmerzen in Kauf. Man nimmt sie ernst, beobachtet sie und richtet sich nach ihnen. Man hat Angst. Natürlich. Wer fürchtet sich nicht vor dem absoluten Raum – dieser atemberaubenden Leere hinter einer offenen Tür? Aber trotz aller Furcht geht man in das anstossende Zimmer.
Aber im beginnenden Alter deutet man aus der falschen Annahme, dass nun ein Verfall einsetzen muss, diese Lebenszeichen paradoxerweise als Anzeichen des nahenden Todes. Statt sich ihnen zu stellen, flieht man sie und flüchtet sich in Depressionen, Nervenzusammenbrüche, Trunk, Liebeleien oder sinn- und gedankenlose Überarbeitung. Nur nicht sich ihnen stellen und von ihnen lernen! Man versucht, die Wachstumsschmerzen zu heilen, sie auszutreiben, als seien sie Teufel, wo sie eigentlich Engel der Verkündigung sein könnten.
Engel der Verkündigung? Welcher Verkündigung? Eines neuen Lebensabschnittes, der uns nun, da wir die physischen Kämpfe, den weltlichen Ehrgeiz, die materiellen Belastungen des aktiven Lebens hinter uns gebracht haben, Zeit lässt, uns der bislang vernachlässigten Hälfte des Ich zu widmen. Man könnte frei sein, Gemüt, Herz und Talente zu entwickeln; endlich frei für ein geistiges Wachstum, befreit von der Umklammerung der Sonnenaufgangs-Muschel. So schön sie war, sie war doch eine geschlossene Welt, der man entwachsen musste. Und vielleicht kommt auch die Zeit, in der man – so bequem und anpassungsfähig sie auch sein mag – sogar der Auster entwächst.“
Anne Morrow Lindbergh, Schriftstellerin; Ehefrau, Co-Pilotin und Navigatorin von Charles A. Lindbergh, 1906 – 2001.
Das Zitat von Anne Morrow Lindbergh stammt aus ihrem Buch: Muscheln in meiner Hand, dtv-Verlag 1983.
Kommentar: Wie Menschen älter werden und wie sie mit den Beschwerden des Älterwerdens umgehen, hängt stark davon ab, welche Haltung sie zum Älterwerden einnehmen. Eine kontextsensible Naturheilkunde bzw. Pflanzenheilkunde weiss um die Wichtigkeit solcher Aspekte und sucht das Heil nicht nur in der isolierten Empfehlung von Knoblauch, Ginkgo etc.
Anne Morrow Lindbergh schildert in diesem Text ihren Zugang zum Älterwerden (das Buch erschien 1955). Zu diesem Thema wird jedoch jeder Mensch seine eigene Haltung entwickeln müssen.