Das folgenden Zitat stammt vom französischen Philosophen Alain (1868 – 1951). Es spricht ein sehr interessantes und grundlegendes Phänomen in unserem Umgang mit Pflanzen an und hat damit auch Bedeutung für die Pflanzenheilkunde:

„Ein Mann, der die Samen seiner Kapuzinerkresse bekämpfte, um Platz zu schaffen für andere Blumen, sagte naiv: „Sie verstecken sich, sehen Sie. Seit ich ihnen den Kampf angesagt habe, haben sie sich alle unter einem Blätterdach versteckt. Sie lernen es, sich meinen Blicken zu entziehen, wie Tiere es tun würden.“ Von Natur sind wir alle Dichter, und wir beurteilen zunächst alle Dinge nach unseren politischen Ideen. In der Tat blieben nach einigen Tagen nur noch die Samenkörner, die durch ihre günstige Lage den wachsamen Gärtner getäuscht hatten. Ich erinnere mich, dass ich, als ich in einem Frühjahr von allen Seiten von einem stark wuchernden Unkraut angegriffen wurde, dessen Blätter denen der Veilchen ähnelten, fast gedacht hätten, es zöge sich in die Veilchenstauden zurück. Der erste Gedanke, der uns kommt, ist immer ein ungezügelter Gedanke; und ich wurde einen Augenblick lang von der törichten Idee ergriffen, es stecke eine pflanzliche List dahinter. Tatsächlich aber wuchs diese Pflanze fast überall; die Nachbarschaft der Veilchen bewahrte sie eine gewisse Zeit vor der Hacke.

Als Darwin auf den Gedanken kam, auf einer schottischen Weide ein kleines Stück einzufrieden, um es vor dem Vieh zu schützen, und bald Kiefern darauf wachsen sah, hätte man auch sagen können, dass die Samen der Kiefer, als sie die Einfriedung bemerkten, sich sogleich darein flüchteten. Aber Kiefern wuchsen auf der ganzen Weide; und Darwin hatte diese Sprosse wohl bemerkt, die durch die Hufe und Zähne des Rindviehs ständig knapp über dem Boden gehalten wurden. Auf den durch den Krieg unbestellten Feldern, die sich zwischen Artillerie und Infanterie erstrecken, habe ich mehr als eine Feststellung getroffen, und besonders habe ich in einem Luzernenfeld einen kleinen Wald von Hagebuchen gesehen, der dort wuchs; diese Wahrnehmung rief in meinem Geist die Feststellung Darwins wach, die so einfach ist, der es für mich aber an Anschauung fehlte. Grosse Gedanken haben etwas Kindliches, das bewirkt, dass die Schöngeister immer an ihnen vorbeigehen, ohne sie zu sehen.

Man kann also die Ökonomie eines Instinktes der Pflanzen aufstellen, die darin bestände, dass sie ein günstiges Gelände, Schutz und Licht suchen und finden. Nur metaphorisch wird man sagen, dass die Gänseblümchen einen besonnten Hang erstürmen; ihre kriechenden Stengel und ihre Samen wachsen besser auf dieser Seite. Die Winde ringelt sich in einer einzigen Nacht um einen vergessenen Spazierstock; aber sie stürzt sich nicht auf diese Stütze, um sich zum Licht zu erheben; nur da der Teil des Stengels, der auf einen festen Körper trifft, sich weniger schnell entwickelt als der freie Teil, wird der Stengel nach der Form des Stocks gebogen. Alle diese Wesen leben, so gut sie können, oder gehen ein, und ihre Formen drücken Bedingungen aus. Diese Idee führt weit; und beachten Sie, dass sie uns von der Inhärenz abwendet, wie der Schatten Platons sagte, als er die Verhältnisse des Lebens nicht so sehr durch die Eigenschaften der Pflanze als durch ihre Beziehung zur Nachbarschaft erklärte; zur Umwelt, dem Schatten, der Sonne, dem Wind, den anderen Pflanzen und Tieren, Insekten, Vögeln, Vieh, die mit der Pflanze ein einziges Wesen bilden. Ebenso bilden die Gezeiten mit der Sonne und dem Mond eine einzige Tatsache; und der Tag bildet mit der Nacht und der Mondfinsternis eine einzige Tatsache. Nach dieser Abfolge unserer Ideen in der Geschichte der Wissenschaften kann man eine neue Idee beurteilen, nicht allein nach der Erfahrung; denn die Erfahrung bestätigt oft eine törichte Idee, wie meine Beispiele zeigen. Deshalb folgte Descartes dem Königsweg, als er den Tieren jegliches Denken bestritt; denn man unterstellt den Tieren und sogar den Menschen immer zuviel Denken. Und man muss viele Abstriche machen an der List der Politiker wie an der List der Pflanzen; die Ursachen sind immer einfacher, als man annimmt, und überdies die letzten, an die man denkt; aber daraus entspringt auch eine Sicherheit des Tuns, sobald man die Ursachen erkennt. Um den Ungeduldigen zu beruhigen, bieten Sie ihm einen Sessel an.“

  1. Mai 1922

 

Alain (eigentlich Emile Auguste Chartier), Philosoph, 1868 – 1951,

Zitat aus: Sich beobachten heisst sich verändern, Insel Taschenbuch 1994

 

Kommentar & Ergänzung zum Thema Signaturenlehre

Alain beschreibt in diesem Text ein interessantes Phänomen: Wir Menschen neigen dazu, die Natur zu vermenschlichen. Wir unterstellen beispielsweise den Pflanzen menschliche Verhaltensweisen, zum Beispiel eine List, oder Gefühle wie Sympathie und Fröhlichkeit. Dadurch reduzieren wir Fremdheit diesen Lebewesen gegenüber. Denn in menschliche Regungen können wir uns besser einfühlen. Allerdings bleibt der ganze Vorgang eine Unterstellung. Und so sind wir dann in der Begegnung mit diesen Pflanzen nur mit eigenen Teilen (Projektionen) in Kontakt, die wir den Pflanzen vorgängig unterschoben haben. Wer Pflanzen wirklich begegnen will, darf sie meines Erachtens nicht durch solche Unterstellungen vermenschlichen. Das setzt aber voraus, dass wir auch die Fremdheit und Andersartigkeit der Pflanzen akzeptieren und ihr auf diesem Hintergrund gegenüber treten.

Solche Vermenschlichungen von Pflanzen durch Unterstellungen passieren heutzutage rasch im Umfeld von Büchern, die Kommunikation und soziales Verhalten bei Pflanzen beschreiben, wie sie zum Beispiel Florianne Köchlin und Peter Wohlleben verfasst haben. Darin werden durchaus interessante Phänomene beschrieben. Aber die Formulierungen legen es oft nahe, den Pflanzen bewusste Ziele, soziales Verhalten oder List zu unterstellen. Da stellt sich dann die Frage, ob solche Beschreibungen noch pflanzengerecht sind.

Alain’s kleine Pflanzengeschichte drückt zudem aus, dass die Form der Pflanzen und der Ort, an dem sie jeweils wachsen, von ihren Lebensbedingungen bestimmt werden. Dieser gut dokumentierte Zusammenhang scheint bei manchen Vertreterinnen und Vertretern der Pflanzenheilkunde unbekannt zu sein. So hört man zum Beispiel immer wieder ernsthaft die Behauptung, dass diejenigen Heilpflanzen, die in meinen Garten kommen, auch diejenigen sind, welche ich brauche um gesund zu werden. Diese Überzeugung hat einen grossen „Vorteil“: Sie verleiht absolute Sicherheit darüber, welche Heilpflanze ich gerade brauche – und zwar ohne dass ich nachdenken oder etwas über Heilpflanzen lernen muss….und es ist ja auch schön, dass da jemand kommt, und sich um mich kümmert, und das ganz ohne Ansprüche zu stellen.

Im Ernst: Wir sollten bescheiden genug sein, um zu erkennen, dass wir nicht so bedeutend sind für die Pflanzen, dass sie sich um uns kümmern und zu uns kommen, wenn wir sie brauchen. Pflanzen wachsen genau dort, wo sie für sich günstige Bedingungen finden.

Und Pflanzen wachsen mit ihren Formen und Farben auch nicht so, dass sie uns dadurch mitteilen, welche Heilkräfte sie für uns bereithalten. Diese heute wieder manchmal zu hörende oberflächliche Neuauflage einer Signaturenlehre aus der Renaissance übersieht, dass die Formen und Farben der Pflanze sich genau so entwickeln, wie die Pflanze es für sich braucht – nicht für uns.

Doch auch mit diesen Erkenntnissen können wir uns an Pflanzen freuen, sie als Heilpflanzen mit Respekt nutzen und über ihre Schönheit und ihre faszinierende Lebensweise staunen.