Der Politologe Yascha Mounk hat ein informatives, wichtiges und aktuelles Buch geschrieben mit dem Titel „Der Zerfall der Demokratie“. Darin beschreibt er differenziert, wie die demokratischen Gesellschaften nach einer langen Erfolgsgeschichte in eine Krise geraten sind, aus welchen Richtungen die Angriffe kommen und was zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat getan werden kann.
Mounk unterscheidet zwischen gewöhnlichen Zeiten – wie wir sie in Europa seit Jahrzehnten gewohnt sind – und aussergewöhnlichen Zeiten, in denen wir seit kürzerer Zeit leben und die unsere Aufmerksamkeit verlangen.
Zitat:
„Wir haben das ungeheure Glück, in der friedlichsten und wohlhabendsten Ära der Menschheitsgeschichte zu leben. Obwohl eine bessere Zukunft nicht mehr – wie noch vor 15 oder 30 Jahren – selbstverständlich erscheint, sind wir weiterhin in der Lage, für sie zu kämpfen. Deshalb ist es umso erschreckender, dass die Feinde der liberalen Demokratie – von Frau Weidel bis zu Herrn Trump – heutzutage oft entschlossener scheinen, unser politisches Schicksal zu bestimmen, als ihre Verteidiger. Wollen wir sowohl Frieden als auch Wohlstand, sowohl die Rechte des Einzelnen als auch die Herrschaft des Volkes bewahren, müssen wir deshalb endlich begreifen, dass wir nicht mehr in gewöhlichen Zeiten leben – und alles daran setzen, unsere akut bedrohten Werte zu verteidigen.“
Worin sich die gegenwärtigen aussergewöhnlichen Zeiten von den gewöhnlichen Zeiten unterscheiden beschreibt Mounk genauer im folgenden Zitat.:
„Es gibt gewöhnliche Zeiten, in denen die Politik zwar das Leben von Millionen Menschen beeinflusst, die Grundzüge der Gesellschaft aber nicht infrage stehen. Trotz ihrer tiefen Unterschiede akzeptieren politische Kontrahenten die Spielregeln der Demokratie. Sie tragen ihre Differenzen auf der Basis von freien und gleichen Wahlen aus, stehen zu den grundsätzlichen Normen des politischen Systems und akzeptieren, dass eine Wahlniederlage den politischen Gegner berechtigt, das Land für einige Jahre zu regieren.
In solch gewöhnlichen Zeiten wissen die Bürger, dass jeder Sieg nur einstweilig ist – und dass ein verlorenes Scharmützel keineswegs das Ende der politischen Schlacht zu bedeuten hat. Da sie es in ihrer Macht haben, einen heute verschobenen Fortschritt in eine morgen erkämpfte Errungenschaft zu verwandeln, sehen sie jeden Rückschlag als Grund, ihre friedliche Überzeugungsarbeit zu verdoppeln.
Doch es gibt auch aussergewöhnliche Zeiten – Zeiten also, in denen die Grundzüge von Politik und Gesellschaft neu ausgehandelt werden. In solchen Zeiten sind die Unterschiede zwischen den politischen Kontrahenten so tief und so bitter, dass die Streitigkeiten mit immer härteren Bandagen ausgetragen werden. Die gemeinsamen Spielregeln werden peu à peu aufgekündigt. Um einen kleinen Vorteil zu erlangen, sind Politiker auf einmal bereit, freie und faire Wahlen zu untergraben, die Grundwerte des politischen Systems zu missachten und ihre Gegner zu verteufeln.
In solch aussergewöhnlichen Zeiten nimmt die Politik existenzielle Bedeutung an. Stehen die Grundlagen des Systems erst einmal infrage, haben Bürger allen Grund zu fürchten, dass ein Sieg für den politischen Gegner die Sache für alle Ewigkeit entscheidet; dass eine verlorene Schlacht ausreicht, den gesamten Krieg zu beenden; und dass ein heute verschobener Fortschritt genügt, das Land zu andauernden Ungerechtigkeiten zu verdammen.
Die meisten von uns haben fast nur gewöhnliche Zeiten erlebt…..
Im Gegensatz dazu wird es heute Tag für Tag offensichtlicher, dass wir in aussergewöhnlichen Zeiten leben – in Zeiten also, in denen die Entscheidungen, die wir in den kommenden Jahren fällen werden, darüber bestimmen, ob sich unheilvolles Chaos Bahn bricht; ob unsägliche Grausamkeit losgetreten wird; und ob die liberale Demokratie, ein System, das mehr zur Verbreitung von Frieden und Wohlstand geleistet hat als jedes andere in der Geschichte der Menschheit, überleben wird.
Die dramatische Lage, in der wir uns gerade befinden, ist so neu und beängstigend, dass sich noch niemand einen echten Reim darauf hat machen können. Kleine Stückchen des grossen Rätsels werden jeden Tag unter dem Mikroskop seziert, in den Zeitungen, im Fernsehen, manchmal sogar an der Universität. Aber je mehr wir uns mit diesen Schnipseln befassen, desto weniger bekommen wir das Gesamtbild in den Blick.“
Dieses Manko versucht Yascha Mounk mit seinem Buch zu beheben. „Der Zerfall der Demokratie“ bietet darum eine sehr gute Einführung zum Verständnis der gegenwärtigen Problemlagen. In meinem Buchshop stelle ich das Buch detaillierter vor. Dort kann es auch via Buchhaus bestellt werden (hier).
Auf dem Hintergrund einer langen, stabilen, „gewöhnlichen“ Phase, in der Demokratie und Rechtsstaat als selbstverständliches „Inventar“ empfunden wurden, klingt Mounks Beschreibung der aussergewöhnlichen Zeit vielleicht etwas alarmistisch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sie jedoch präzis die laufenden Entwicklungen auf:
– Die USA und Grossbritannien entsprechen mit ihrer hochgradigen politischen Polarisierung genau dem von Mounk beschriebenen Zustand aussergewöhnlicher Zeiten. Trump und der Brexit sind nur Symptome dieser Situation.
– In Ungarn und Polen haben regierende Rechtspopulisten den Rechtsstaat und die Medien bereits angegriffen und teilweise unter ihre Kontrolle gebracht.
– In Ländern wie Österreich, Deutschland und Frankreich ist die Lage nicht derart entgleist, aber Symptome der beschreibenen aussergewöhnlichen Zeiten sind deutlich erkennbar.
Und in der Schweiz?
Die Schweiz steht auf den ersten Blick noch verhältnismässig stabil da. Das könnte jedoch täuschen. Auch bei uns gibt es Polarisierungen und blockierende Lagerbildungen, zum Beispiel bei der Frage nach dem Verhältnis zu Europa und beim Thema Migration.
Darüber hinaus zeigt die SVP als wählerstärkste Partei deutlich rechtspopulistische Züge. Zwar gibt es vor allem auf dem Land viele SVP-Exekutivpolitiker/-innen mit einem konstruktiven, bodenständigen, konsensfähigen Politikstil. Auf nationaler Ebene dominieren aber Figuren mit klar rechtspopulistischer Agenda:
– Konsequente Diffamierung und Verhöhnung von politischen Gegnern, womit diesen die politische Legitimität abgesprochen wird.
– Konsequente Diffamierung und Verächtlichmachung von Justiz, Parlament und SVP-unabhängigen Medien.
– Überzogener Anspruch, alleinige Vertreterin des „Volkswillens“ zu sein.
Genauer beschrieben habe ich solche Merkmale des Populismus hier:
„Was ist Populismus? Und was nicht?“
Wir haben also auch in der Schweiz allen Grund, die politischen Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und alles zu unternehmen, um konstruktive Institutionen, Organisationen und Personen zu stärken.
Eine Auswahl solcher Organisationen, auch für Deutschland und Österreich, finden Sie in der Linkliste unter Empfehlenswerte Organisationen.
Einen Überblick meiner gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen finden Sie hier.