Die Misteltherapie gehört zu den beliebtesten und verbreitetsten komplementären Methoden in der Onkologie. Sie soll bei Krebs die Heilung unterstützen und die Lebensqualität verbessern. Wissenschaftler um die Jenaer Professorin für Integrative Onkologie Dr. Jutta Hübner haben nun in einer Übersichtsarbeit die vorhandenen Belege zusammengetragen – und kommen zu einem vernichtenden Urteil.
Angesichts der bedrohlichen Diagnose Krebs und der oft sehr belastenden Therapie wünschen sich viele Krebspatienten, ergänzend selbst etwas zur Verbesserung ihrer Situation beitragen zu können. Eine Möglichkeit dazu sehen viele in der Misteltherapie, die auf Vorstellungen der Anthroposophischen Medizin basiert und von Rudolf Steiner anfangs des 20. Jahhunderts propagiert wurde. Steiner zog Parallelen zwischen der Mistel (Viscum album), die auf anderen Pflanzen schmarotzt, und Krebsgeschwüren im menschlichen Körper. Die Anwendung von Mistelextrakten bei Krebs entspricht somit dem aus der Homöopathie bekannten Simile-Prinzip.
Manche Autoren schreiben der Misteltherapie aber auch naturwissenschaftlich nachweisbare Effekte zu. So sollen zytotoxische Inhaltsstoffe der Mistel direkt Krebszellen abtöten oder Lectine indirekt über eine Aktivierung des Immunsystems das Tumorwachstum bremsen. Über eine Freisetzung von Endorphinen sollen die Mistel-Präparate zudem die Lebensqualität verbessern und Nebenwirkungen reduzieren. Wie die gesamte Misteltherapie sind diese Wirkungen aber umstritten.
Um angesichts widersprüchlicher Studienresultate in der Vergangenheit einen Überblick über die Evidenz zur Misteltherapie zu erhalten, führte die Gruppe um Hübner nun eine systematische Literaturrecherche durch. Die Wissenschaftler fanden 28 Studien mit total 2639 Patienten, die sie im »Journal of Cancer Research and Clinical Oncology« einmal hinsichtlich ihrer Effekte auf das Überleben von Krebspatienten und einmal mit Blick auf die Lebensqualität auswerteten. Dabei berücksichtigten die Forscher nur randomisierte, kontrollierte Studien mit Erwachsenen. Wegen der grossen Heterogenität der Studien, die sich unter anderem in einer sehr großen Bandbreite der Krebsarten der Teilnehmer äußerte, war eine Metaanalyse nicht möglich.
In beinahe allen untersuchten Studien wurde die Misteltherapie zusätzlich zu einer konventionellen Krebstherapie verabreicht.
Der Effekt auf das Überleben der Krebspatienten war marginal und in Studien mit hoher Qualität überhaupt nicht vorhanden.
Die Lebensqualität wurde nur in 17 der ausgewerteten Studien erfasst und von diesen wiederum nur in elf mit anerkannten Messinstrumenten, etwa validierten Fragebögen. In diesen methodisch höherwertigen Studien zeigte sich nur ein geringer oder gar kein Einfluss der Misteltherapie auf die Lebensqualität.
Das Forscherteam um Jutta Hübner bemängelt zudem die Datenqualität: Bei den meisten Studien sehen sie Interessenskonflikte der Autoren, da die Sponsoren entweder Herstellerfirmen oder Gesellschaften mit Bezug zur anthroposophischen Medizin waren. Ein Drittel der berücksichtigten Studien stamme zudem aus der Feder von nur zwei Autorenteams: Ronald Grossarth-Maticek und Renatus Ziegler sowie Wilfried Tröger et al. Alle Studien von Grossarth-Maticek/Ziegler seien mit Patienten aus einer großen, zwischen 1973 und 1988 rekrutierten deutschen Krebskohorte gemacht und alle Studien der Arbeitsgruppe Tröger in Belgrad durchgeführt worden. Diese Studien können deshalb nach Ansicht des Teams um Hübner nicht unabhängig voneinander betrachtet und ihre Resultate nicht ohne Weiteres verallgemeiner werden.
Das Fazit der Forscher fällt deshalb vernichtend aus. Für die Verordnung von Mistelpräparaten für Krebspatienten sehen sie auf der Basis ihrer gründlichen Literaturrecherche weder mit Blick auf das Überleben noch hinsichtlich Lebensqualität und Therapie-bedingten Nebenwirkungen irgendeinen Vorteil der Misteltherapie.
Quelle:
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/kein-effekt-auf-heilung-oder-lebensqualitaet/
DOI: 10.1007/s00432-018-02838-3; 10.1007/s00432-018-02837-4
https://link.springer.com/article/10.1007/s00432-018-02838-3
Kommentar & Ergänzung:
Es ist verständlich, dass krebskranke Menschen nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten suchen, doch werden sie dabei oft von fragwürdigen bis betrügerischen Angeboten in die Irre geführt.
Die Misteltherapie ist vergleichsweise gut in die Medizin integriert und wird auch von der Grundversicherung bezahlt, nicht zuletzt deshalb, weil die Anthroposophische Medizin vom Wirksamkeitsnachweis befreit ist.
Die Misteltherapie wird aber auch seit Jahrzehnten intensiv mit überzogenen Erwartungen und Versprechungen propagiert.
Im Gegensatz dazu kommen die Ergebnisse der Forschungsgruppe um Jutta Hübner nicht ganz unerwartet. Unabhängige Beurteilungen haben die Wirksamkeit schon mehrfach in Frage gestellt.
Auch das wissenschaftliche Team der Plattform Medizin-transparent kam 2017 zum Schluss:
„Die Qualität der vorhandenen Studien ist zu gering, um die Wirksamkeit der Misteltherapie zu belegen.
Zudem besteht der vorsichtige Verdacht, dass manche Mistelpräparate das Tumorwachstum sogar anregen könnten.“
Quelle:
https://www.medizin-transparent.at/misteln-in-der-krebstherapie
Sehr deutliche Stellungnahmen zur Misteltherapie gibt es auch vom Onkologen Prof. Josef Beuth, dier an der Universität Köln das Institut zur wissenschaftlichen Evaluation Naturheilkundlicher Verfahren (ENV) leitet:
«Krebs mit Mistelextrakt zu bekämpfen war eine Idee Rudolf Steiners: Aus vagen Analogien zwischen Misteln im Baum und Tumoren im Körper leitete der Begründer der Anthroposophie 1920 die Forderung ab, die Mistelmedizin müsse das „Chirurgenmesser“ ersetzen. Die Firma Weleda, die mit anthroposophischen Arzneimitteln knapp 100 Millionen Euro Umsatz macht, behauptet heute ähnlich wie die Gesellschaft anthroposophischer Ärzte, die Therapie könne die Metastasenbildung behindern.
Aus wissenschaftlicher Sicht sei das „völliger Unfug“, sagt Josef Beuth von der Universität Köln. Der Professor leitet das Institut für Naturheilkunde und erforscht seit mehr als 20 Jahren die Wirksamkeit von Komplementärmedizin. Die Eiweißstoffe der Mistel stimulieren das Immunsystem. „Aber das ist nicht immer wünschenswert“, sagt Beuth. Bei den Krebsarten des Blut- und Lymphsystems könne eine Misteltherapie bösartige Zellen des Immunsystems zum Wachstum anregen. Bei anderen Krebsarten, wie Brustkrebs, könnten Mistelpräparate jedoch nützlich sein, wenn das Immunsystem nach einer Chemo- oder Strahlentherapie geschwächt ist. „Das betrifft allerdings nur fünf bis zehn Prozent der Patientinnen“, sagt Beuth. Dass die Misteltherapie viel beliebter ist, führt er auf Lobbyarbeit zurück, „die ist gigantisch“.»
Quelle:
https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/komplementaermedizin-krebs-forschung/komplettansicht
Prof. Jutta Hübner engagiert sich im Übrigen seit langem für eine verantwortungsvolle und fundierte integrative und komplementäre Onkologie, unter anderem bei PRIO, der Arbeitsgemeinschaft für Prävention und Integrative Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG). Anhänger_innen von Alternativmedizin und Komplementärmedizin neigen oft dazu, Kritiker_Innen als böse „Schulmediziner“ zu diffamieren, die im Solde der Pharmaindustrie stehen und nur die sanfte Naturmedizin kaputt machen wollen. Das wird ihnen bei Jutta Hübner nicht so leicht fallen.
Meinem Eindruck nach wird in den Bereichen Alternativmedizin / Komplementärmedizin / Naturheilkunde viel zu oft fraglos geglaubt, was erzählt und angepriesen wird. Nötig wäre dagegen mehr kritische Auseinandersetzung:
Naturheilkunde braucht kritische Auseinandersetzung
Naturheilkunde: Selber denken, statt blind glauben
Mehr Kontroverse in Komplementärmedizin / Naturheilkunde / Pflanzenheilkunde
Zur Misteltherapie siehe auch:
Mistel-Therapie gegen Krebs – wirksam?