Demagogen wollen heute nicht nur Macht über die Menschen bekommen, sondern auch über die Tatsachen. Das begann im grossen Stil bei den faschistischen und kommunistischen Parteien im 20. Jahrhundert. Ob es sich um Geschichtsdaten handelt, um wissenschaftliche Theorien oder um Wirtschaftsstatistiken – die totalitären Politiker behandelten alle Tatsachen als politisch – dementsprechend wurden Tatsachen in grossem Stil kontrolliert, retuschiert und eliminiert.
Weil die zwei dominierenden faschistischen und kommunistischen Systeme des 20. Jahrhunderts inzwischen zusammengebrochen sind, könnte man zum Schluss kommen, dass wir es hier nur noch mit Schnee von gestern zu tun haben. Das aber ist ein gefährlicher Irrtum. Vor allem das Internet und die zunehmende Digitalisierung aller Bereiche eröffnen modernen Demagogen neue und aus ihrer Sicht grossartige Möglichkeiten.
Der Journalist und Autor Constantin Seibt hat ein „Modell der Machtergreifung in vier Schritten“ beschrieben, wie es für moderne Demagogen charakteristisch ist.
Grundlagen der Demagogie: Das Modell der Machtergreifung in vier Schritten
Schritt 1: Tatsachen wie Meinungen behandeln
Constantin Seibt schreibt dazu:
„Der erste Schritt moderner Demagogen ist, Tatsachen wie Meinungen zu behandeln. Und sie damit als beliebig umstritten hinzustellen. Auch Donald Trump begann so. Typisch dafür ist etwa ein TV-Auftritt im Jahr 2012 bei CNN. Trump war damals noch kein Politiker – nur ein exzentrischer Milliardär. Er behauptete, Präsident Obama sei in Kenia, nicht in Hawaii geboren. Der Moderator konterte mit einem unwiderlegbaren Beweis – der Geburtsanzeige Obamas in einer zeitung von Hawaii. Worauf Trump erwiderte: «Sie haben ihre Meinung, das ist wunderschön, ich habe meine Meinung, das ist auch wunderschön.»
Im politischen Kampf arbeiten Demagogen systematisch daran, Tatsachen zu Meinungen zu verwässern. Das ist harte, teure Arbeit. In den USA investierten konservative Milliardäre dreissig Jahre lang in den Aufbau einer Industrie für alternative Fakten: linientreue Thinktanks, Universitäten, Medienimperien.
Das Resultat ist, dass in den USA Republikaner und Demokraten heute in Paralleluniversen leben. Politik und Medien lifern den Bürgern nicht zwei Interpretationen der Wirklichkeit, sondern zwei verschiedene Wirklichkeiten. Komplett mit eigenen Experten, Erzählungen, Tatsachen.“
Schritt 2: Fakten werden an Loyalität gekoppelt
Fakten sind nun nicht mehr nur wie in Stufe 1 eine Frage der persönlichen Meinung, sondern an Loyalität gekoppelt. In den USA sind Fakten schon längst Lagersache. Ob es beispielsweise um Evolution geht oder um Krankenversicherung – die Frage lautet nicht mehr, welche Analysen oder Massnahmen richtig oder falsch sind. Stattdessen dreht sich alles um die Frage: Bist du für uns oder gegen uns? Und das zeigt sich daran, welche lagerspezifischen „Fakten“ jemand teilt.
Schritt 3: Glaubwürdigkeit im Vorhinein für sich beanspruchen und beim Gegner unterminieren.
Trump empfiehlt seinen Anhängern, keine Zeitungen mehr zu lesen, sondern alle Nachrichten «direkt bei eurem Lieblingspräsidenten»zu beziehen. „Wahrheit ist in Trumps Universum quasi eine persönliche Eigenschaft des Parteiführers“, schreibt Seibt. Gleichzeitig diffamiert Trump die Medien wo immer er kann und bezeichnet sie gar als Feinde des Volkes.
Das führt zu grotesken Verhältnissen: „91 Prozent derjenigen, die sich als «Strong Trump Supporter»bezeichnen, vertrauen Donald Trump als Quelle für korrekte Informationen, aber nur 11 Prozent von ihnen klassischen Medien. Wie oft müsste er noch beim Lügen erwischt werden, um das Vertrauen in ihn zu zerstören?“, schreibt Rainer Erlinger in seinem sehr lesenswerten Buch „Warum die Wahrheit sagen?“.
Schritt 4: Abweichende Meinungen strafbar machen
Diese vierte Stufe greift ab dem Zeitpunkt, an dem die Justiz sich vereinnahmen lässt und mitmacht. Nun werden abweichende Meinungen strafbar.
Quellen:
„Fake. Das Magazin“, Herausgeber: Stapferhaus Lenzburg, Begleitheft zur Ausstellung „Fake. Die ganze Wahrheit“ (2018 – 2019), Leitartikel von Constantin Seibt mit dem Titel „Die Macht der Lüge“.
Warum die Wahrheit sagen? Von Rainer Erlinger, Duden Verlag 2019
Kommentar & Ergänzung:
Die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Entwicklung benötigt die Aufmerksamkeit von Bürgerinnen und Bürgern, denen Demokratie und Rechtsstaat wichtig sind. Es braucht eine bessere Vernetzung dieser Bürgerinnen und Bürger. Zudem ist es Zeit, Institutionen und Organisationen aufzubauen und zu unterstützen, die zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat beitragen (Beispiele hier).
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