In der Alltagssprache sagen wir manchmal: „Rede keinen Bullshit!“ – Gemeint ist dann: „Rede keinen Unsinn!“
So ist der Ausdruck „Bullshit“ hier nicht gemeint. Er beschreibt vielmehr ein Phänomen, das in der Öffentlichkeit grosse Bedeutung erlangt hat.
Es gibt Lügner und es gibt Bullshitter. Lügner kennen die Wahrheit, sagen aber die Unwahrheit.
Bullshittern ist die Wahrheit egal. Sie erzählen, was ihren Zielsetzungen dient. Wenn sie reden, produzieren sie nur warme Luft. Bullshit scheint gerade in vielen Bereichen überhand zu nehmen.
Und Bullshit ist eine Gefahr – für das Zusammenleben, für demokratische Gesellschaften.
Deshalb ist es wichtig, Bullshit zu erkennen und diesen Sumpf wo immer möglich trocken zu legen. Aber wie?
Dazu hier ein paar Anregungen und Gedanken.
„Bullshit“ als Erster beschrieben: Harry Frankfurt
Das Thema Bullshit als Erster auf den Punkt gebracht hat der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt in seinem kleinen Bändchen namens „On Bullshit“ (2005), deutsch: „Bullshit“ (2006).
Es gibt laut Frankfurt also nicht nur Lüge und Wahrheit, es gibt, quasi als Drittes, den Bullshit.
Das Wesen des Bullshits sieht Frankfurt in der fehlenden Verbindung zur Wahrheit, in der „Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind.“
Bullshit ist leeres Gerede und „heisse Luft“:
Frankfurt schreibt:
„Wenn wir Gerede als ‚heisse Luft’ charakterisieren, meinen wir damit, was aus dem Mund des Sprechers kommt, sei nichts weiter als das. Es ist nur Dampf. Seine Rede ist leer, ohne Substanz und ohne Inhalt. Sein Gebrauch der Sprache trägt dementsprechend auch nichts bei zu dem Zweck, dem sie angeblich dient. In Bezug auf den Informationsgehalt macht es keinen Unterschied, ob er etwas sagt oder einfach nur ausatmet. Es gibt übrigens gewisse Ähnlichkeiten zwischen heisser Luft und Exkrementen, die heisse Luft zu einem ausgesprochen brauchbaren Äquivalent für Bullshit machen. Während heisse Luft ein von jeglichem Informationsgehalt entleertes Reden darstellt, sind Exkremente Stoffe, denen jeglicher Nährstoffgehalt entzogen worden ist.“
„Der Lügner und der Wahrhaftige spielen dasselbe Spiel auf verschiedenen Seiten“, schreibt Harry Frankfurt. „Der Bullshitter spielt ein völlig anderes Spiel. Er ist weder für die Wahrheit noch gegen sie, er schert sich nicht um sie.“
An anderer Stelle führt er diese Unterschiede genauer aus:
„Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich. Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt. Ein aufrichtiger Mensch sagt nur, was er für wahr hält, und für den Lügner ist es unabdingbar, dass er seine Aussagen für falsch hält. Der Bullshitter ist aussen vor: Er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen, von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen.“
Um das Wesen, die Bedeutung und die Risiken von „Bullshit“ besser verständlich und fassbar zu machen, stelle ich in den folgenden Abschnitten Erläuterungen und Zitate aus verschiedenen Quellen vor:
Romy Jaster und David Lanius schreiben zum Thema Bullshit in ihrem Buch „Die Wahrheit schafft sich ab“:
„Absichtliche Täuschungen, so Frankfurt, erfordern eine Orientierung an der Wahrheit; schliesslich will man ja bewusst etwas behaupten, das von der Wahrheit abweicht. Bullshit hingegen erfordere nichts dergleichen. Der Bullshitter interessiert sich nämlich gar nicht dafür, ob er die Realität korrekt wiedergibt oder nicht. Er stellt Behauptungen auf, um seine Ziele zu erreichen, und zwar unabhängig davon, ob diese Behauptungen wahr oder falsch sind.
Menschen bullshitten aus den unterschiedlichsten Gründen: um andere zu beeindrucken, um ihre Zuhörer zu unterhalten, um eine Gesprächspause zu vermeiden. Und auch auf der politischen Bühne ist Bullshit ein verbreitetes Phänomen – insbesondere in der Ära Trump. In Frankfurts Augen ist Donald Trump ein Paradebeispiel für einen Bullshitter. Trumps Behauptung, er habe das beste Gedächtnis der Welt, bezeichnet Frankfurt sogar als geradezu «possenhaft unverstellten Bullshit».
Warum bullshittet Trump? Darüber kann man nur mutmassen. Will er seine Anhängerschaft unterhalten und ihm wohlgesonnen stimmen? Will er sich als starker Mann präsentieren? Will er schauen, wie weit er mit seinen haltlosen Aussagen gehen kann? Will er durch Provokationen den Diskurs in eine für ihn günstige Richtung verschieben? Oder vielleicht alles zusammen?“
Die Stellungsnahmen von Harry Frankfurt zu Donald Trump stammen aus einem Interview im „Time“-Magazin aus dem Jahr 2016.
https://time.com/4321036/donald-trump-bs/
Ich entnehme hier aus diesem Interview weitere Zitate aus einem Beitrag von Tobias Hürter in einer Publikation der Bundeszentrale für Politische Bildung:
„Welche von Trumps Behauptungen nicht glaubwürdig sind, ist im Allgemeinen leicht zu erkennen“, schreibt Harry Frankfurt, „es ist jedoch um einiges schwerer festzustellen, ob seine eindeutig zweifelhaften Aussagen bewusste Lügen oder nur Bullshit sind“. Ob Trump gezielt die Wahrheit verfälscht, oder sich nicht um sie schert, ist nur manchmal klar zu unterscheiden. Als Beispiel für Trump’sche Lügen führt Harry Frankfurt die Leugnung seiner Verbindungen zum Ku-Klux-Klan und die verzerrte Darstellung der Gesundheitsreform seines Amtsvorgängers Barack Obama an. Als Beispiel für Trump’schen Bullshit den Tweet „Die besten Taco-Bowls werden im Trump Tower Grill gemacht. Ich liebe Hispanics!“. Die Äußerungen in diesem Tweet „kommen als wenig mehr als heiße Luft rüber“, stellt Frankfurt fest. Trump macht damit keine substanziellen Aussagen, sondern Stimmung, in diesem Fall konkret: Er schleimt sich damit bei den lateinamerikanischstämmigen Wählerinnen und Wählern ein.
Tobias Hürtner führt dazu weiter aus:
„Weniger klar ist die Kategorisierung beispielsweise bei Trumps Ankündigung, unter seiner Präsidentschaft würden Millionen illegaler Einwanderer ausgewiesen werden. Vermutlich war sie Bullshit. Möglicherweise hat er dieses Vorhaben niemals ernsthaft verfolgt, aber das war ihm zum Zeitpunkt dieser Ankündigung gleichgültig. Es ging ihm um Wirkung, nicht um Wahrheit. Das ist allerdings eine Vermutung – zwar eine plausible und begründete. Wir können aber nicht ganz ausschließen, dass Trump damals doch überzeugt war, die massenhafte Ausweisung umsetzen zu können, oder zumindest vorhatte, sie einzuleiten. Darin zeigt sich die besondere Tücke des Bullshit: Er lässt sich oft schwerer identifizieren als Lügen. Der Bullshitcheck ist noch mühsamer als der Faktencheck.“
Quelle:
https://www.bpb.de/apuz/245219/bullshit-weder-wahrheit-noch-luege?p=all
Bullshit und Demokratie vertragen sich nicht
Roland Kipke beschreibt in seinem Buch „Jeder zählt“, weshalb Bullshit gefährlich ist für die Demokratie:
„Die Lüge ist nicht der grösste Feind der Wahrheit. Denn sie setzt ja immer noch ein Verständnis von Wahrheit voraus. Sonst wäre sie keine Lüge, sonst müsste der Lügner nicht täuschen. Der grösste Feind ist die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, das grosstönende Herumlabern, das Bullshitten, das hohle Gerede, bei dem es egal ist, ob und wieviel man lügt, weil eh alles Wurst ist. Man gibt sich keine Mühe mehr, die Lüge zu verstecken, man beschuldigt einfach diejenigen der Lüge, die die Unwahrheit aufdecken. Ob das Gesagte mit den Tatsachen übereinstimmt, wird so unwichtig wie die Frage, ob man zuerst den linken oder den rechten Schnürsenkel zubindet. Alles ist irgendwie wahr, wenn es nur vehement behauptet wird., aber vielleicht ist auch alles nur Fake. Hauptsache, es nützt den eigenen Interessen.
Warum das so gefährlich ist? Weil es die Demokratie zerstört. Denn die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit zerstört die gemeinsame Wirklichkeit. Wo es aber keine gemeinsame Wirklichkeit mehr gibt, lässt sie sich auch nicht mehr gemeinsam gestalten. Wo Wahrheit nichts zählt, ist aller demokratische Streit blosses Gebrabbel, alle Berufung auf Fakten aussichtslos, jeder Versuch, einem Sachverhalt gerecht zu werden, vergebens. Wo Tatsachen keine Rolle mehr spielen, lässt sich nicht sinnvoll sagen, ob ein Gesetz richtig ist und eine gewählte Regierung gut regiert.
Oft heisst es, dass wir im postfaktischen Zeitalter leben. Das sagt sich so leicht, als würde man feststellen, dass gerade Winter ist. Tatsächlich aber kann sich kein Demokrat mit der Einordnung in diesen Winter der Wahrheit abfinden. Denn postfaktisch heisst postdemokratisch. Mit dem Zeitalter der Wahrheit wäre auch das Zeitalter von Freiheit und Gleichheit zu Ende. Früher war der Spruch gängig: egal, illegal, scheissegal. Die geheime Devise des Bullshitters lautet: egal, scheissegal, illiberal.
Ein Bullshitter allein macht noch kein postfaktisches Zeitalter, selbst wenn er im Regierungssessel sitzt. Ein solches Zeitalter beginnt erst, wenn ein grosser Teil von uns auf Wahrheit keinen Wert mehr legt. Ob und wie es mit der Demokratie weitergeht, hängt daher auch in diesem Punkt von jedem Einzelnen ab, von uns. Davon, ob wir leichtfertig fingierte Geschichten glauben oder ob wir sie hinterfragen. Davon, ob wir Tatsachen Tatsachen sein lassen, auch wenn sie uns nicht gefallen. Davon, ob wir verstehen, dass es keine «alternativen Fakten»gibt, sondern nur alternative Sichtweisen auf Fakten. Davon, ob wir uns bei Gerüchteschleudern «informieren»oder bei professionellen Anbietern von Informationen. Kurzum, die Zukunft der Demokratie hängt auch davon ab, was wir ernster nehmen: Schwätzerei oder Wahrheit.“
Wie beeinflusst Bullshit politische Debatten?
Lügen sind in der Politik kein neuartiges Phänomen. Bis vor einigen Jahren war Politikerinnen und Politikern jedoch überwiegend klar: Wer durch widersprechende Fakten einer Lüge überführt wird, hat ein Problem. Nicht selten folgte ein Rücktritt.
Ein Beispiel aus Deutschland war Uwe Barschel, der öffentlich sein „Ehrenwort“ gab, dass er keine Schmierkampagne gegen seinen Rivalen plante. Nur eine Woche später trat er zurück, nachdem sein Medienberater die Vorwürfe und Barschels Verwicklung zugab.
Solche Lügner wussten, dass ihre Lügen enttarnt wären, sobald bestimmte Fakten öffentlich würden. Sie akzeptieren eine bestimmte Definition von Wahrheit und Fakten als Grundlage des demokratischen Diskurses. Man kann mehr oder weniger alles behaupten, wenn jedoch Beweise dagegen präsentiert werden, verliert man an Überzeugungskraft.
Ein gemeinsames Verständnis davon, was Fakten sind und was nicht, bildet die Grundlage für Debatten trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen. In jüngster Zeit beobachten wir jedoch immer öfters, dass Fakten ihre Bedeutung als Diskussionsgrundlage verloren haben. Stattdessen sind Fakten zu einem Werkzeug geworden, das sich flexibel einsetzen lässt, um Weltanschauungen zu begründen.
Ganz praktisch lässt sich das täglich beobachten bei Figuren wie Donald Trump und Boris Johnson. Beide lügen chronisch und werden am laufenden Band der Lüge überführt. Das macht ihnen aber nichts aus und lässt auch ihre Anhängerinnen und Anhänger kalt. Lügen sind offenbar in weiten Kreisen akzeptiert, wenn sie politisch nützlich sind. Bullshit erweitert dieses Problem noch. Bullshit ist viel weniger fassbar und daher auch schwerer widerlegbar als eine konkrete Lüge. Bullshit überschwemmt die Welt quasi mit einer faktenfreien oder jedenfalls faktenbeliebigen Sauce, die den klaren Blick auf die Problemlagen vernebelt.
Was es für die politische Kultur bedeutet, wenn Fakten, Zahlen und Daten keine Basis mehr zur Begründung von Maßnahmen darstellen, hat Andrea Römmele im „Tagesspiegel“ beschrieben.
Die Professorin für Communication in Politics and Civil Society an der Hertie School of Governance in Berlin verdeutlicht das Problem mit folgenden Sätzen:
„Ein Beispiel ist ein Foto, das die AfD für einen Flyer zum Thema innere Sicherheit in Deutschland verwendete. Das Bild entstand während Ausschreitungen in Athen und zeigt einen Demonstranten, der mit einem Stock zum Schlag auf einen am Boden liegenden Polizisten ausholt. Das Bild wurde bearbeitet, und der Demonstrant bekam ein großes Antifa-Logo auf den Rücken. Auf die Fälschung angesprochen, behauptete ein Sprecher der AfD, dass die Bearbeitung des Fotos nichts daran ändern würde, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland verschlechtere und dass offensichtlich sei, wer den Anstieg der Gewalt verantworte. Der Informations- und Wahrheitsgehalt des Bildes war für die AfD irrelevant. Es diente einem politischen Zweck und nicht als Diskussionsgrundlage.“
Die Lüge lässt sich mit Fakten widerlegen, wodurch der Lügner gezwungen wird, seine falschen Aussagen anzupassen oder zurückzuziehen. Der Bullshit dagegen blendet unwillkommene Fakten einfach aus: Was die eigene Botschaft unterstützt, ist wahr, was ihr widerspricht, ist falsch. Der Wahrheitsgehalt wird bedeutungslos, politische Debatten verlieren ihre empirische Grundlage. Stattdessen basieren sie nur noch auf Weltanschauungen, Gefühlen und Werten. Darüber lässt sich dann allerdings kaum streiten, weil sie grundsätzlich weder wahr noch falsch sind. Fakten werden dagegen nur noch als Meinungen aufgefasst.
Diese Problemlage verschärft sich durch die massiven Veränderungen der Öffentlichkeit und der Medienwelt in den letzten Jahren.
Andrea Römmele schreibt:
„In modernen, repräsentativen Demokratien finden Diskurse und Debatten öffentlich statt. Aber die Öffentlichkeit selbst hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immens verändert. Neue Technologien lassen jeden zum Prosumer (Produzent und Konsument von Nachrichten) werden, und soziale Medien bieten unzählige Echokammern, in die man sich zurückziehen kann. Es fehlen die Gatekeeper und Meinungsführer, die Debatten strukturieren.“
Diese zunehmend fehlenden Gatekeeper und Meinungsführer hatten und haben die wichtige Funktion, Politiker immer wieder im öffentlichen Raum mit Fakten zu konfrontieren, um sie auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen und Widersprüche und Schwächen in ihren Darbietungen aufzudecken.
Andrea Römmele verdeutlicht diese Aufgabe an einem Beispiel:
„Im deutschen Nachrichtenfernsehen werden Politiker immer wieder mit Fakten konfrontiert, die deren Aussagen konterkarieren. 2010 gab beispielsweise der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Stefan Mappus, der ZDF-Moderatorin Marietta Slomka ein Interview, in dem er die Polizeieinsätze im Zuge der Proteste gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 rechtfertigte. Slomka konterte, dass es auch verletzte Kinder und Senioren gab, während umgekehrt das Innenministerium zugeben musste, dass die Wurfgeschosse der Demonstranten Kastanien gewesen seien. Sie holte Mappus damit auf den Boden der Tatsachen zurück, den er zuvor verlassen hatte, um seine politische Agenda voranzutreiben.“
Stefan Mappus gehört übrigens der CDU an, einer Partei, die dazu steht, dass es Diskursordner braucht, um Politiker mit Fakten zu konfrontieren. Die Rechtspopulisten und Rechtsextremen der AfD, der FPÖ, und teilweise auch der SVP wollen dagegen von ihnen unabhängige Diskursordner eliminieren und greifen dazu die Öffentlichen Medien an. Sie wollen ihre Agenda verwirklichen, ohne mit lästigen Fakten konfrontiert zu werden.
Was geschieht, wenn die Diskursordner sich auflösen, erklärt wiederum Andrea Römmele:
„Solche Diskursordner verlieren an Einfluss. Ihre Autorität entspringt dem Vertrauen, das das Publikum ihnen schenkt. Wenn aber die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge immer mehr verschwimmen, wird auch dieses Vertrauen immer geringer. Im Internet lassen sich innerhalb von Sekunden vermeintliche Beweise gegen jede Nachrichtenmeldung und jedes politische Statement finden. Die schiere Masse an Informationen macht es immer schwieriger zu entscheiden, was wahr und was falsch ist. Diese Entscheidung wird mittlerweile weniger von Fakten bestimmt und umso mehr von der eigenen Einstellung.“
Als wahr wird dann empfunden, was der eigenen Weltsicht entspricht. Mit der gemeinsamen Faktenbasis lösen sich auch die gemeinsamen Diskussionsgrundlagen auf.
Andrea Römmele:
„Sobald wir aber keinen gemeinsamen Standard mehr dafür haben, welche Fakten wir als wahr akzeptieren und welche nicht, verlieren wir die Grundlage für einen offenen Dialog mit unseren politischen Gegnern. Wenn unsere Sichtweisen und Werte sich unterscheiden, brauchen wir ein gemeinsames Verständnis davon, was wir als gegeben akzeptieren. Wenn dieses Verständnis fehlt, gibt es nichts zu diskutieren, sondern nur unterschiedliche politische Ansprüche.“
Am Schluss ihres Beitrags geht Andrea Römmele noch kurz auf die Frage ein, was gegen den Bullshit getan werden sollte. Dabei richtet sie sich sowohl an Fachleute also auch an alle Bürgerinnen und Bürger:
„Der Bullshit wird nicht verschwinden, weil er an tief verwurzelte Werte und Meinungen anknüpft. Deshalb müssen Fachleute, Experten und Journalisten mehr Ressourcen darauf verwenden, den Bullshit und seine Beliebigkeit zu entlarven und dabei möglichst faktenbasiert argumentieren.“
Dieser Appell an die Fachleute ist nachvollziehbar, hat aber zwei „Knackpunkte“.
– Dem Qualitätsjournalismus kommt in dramatischem Ausmass mehr und mehr die finanzielle Basis abhanden, weil Werbebeiträge immer massiver zu Facebook und Google fliessen. Ob es unter diesen Umständen möglich ist, mehr Ressoursen in die Entlarvmg von Bullshit zu stecken, bleibt daher fraglich.
– „Faktenbasiert argumentieren“ ist ein guter Vorsatz, doch ist ein Teil der Bevölkerung kaum mehr über Fakten zu erreichen. Wie mit diesem besorgniserregenden Phänomen umgegangen werden kann, bleibt offen.
Für die einzelnen Individuen empfiehlt Andrea Römmele:
„Auf lange Sicht müssen wir die Fähigkeit entwickeln, die verfügbaren Informationen zu bewerten und Bullshit zu erkennen. Wir müssen ihm mit Fakten-Checks, Debatten und auch Streit begegnen. Je weniger Widerstand ihm entgegenschlägt, umso mächtiger wird er.“
Auch dem ist zweifellos zuzustimmen. Dazu braucht es die verstärkte Investition in Medienkompetenz und politische Bildung. Aber was bleibt zu tun, wenn ein grösserer Teil der Bürgerinnen und Bürger an diesen Themen kaum interessiert ist?
Quelle:
https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-ueber-fake-news-wahr-falsch-bullshit/22721310.html
Bullshit führt zu Beliebigkeit und untergräbt zivilisierte Kommunikation
Tobias Hürter schreibt dazu in einer Publikation der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB):
„Bullshit wird nicht in der Absicht geäußert, etwas zu erklären. Er soll seine Adressaten nicht informieren, sondern Eindrücke in ihnen wecken. Bullshit ist ein Affront gegen die Adressaten, die ja meist zuhören, um etwas zu erfahren, und nicht, um bequatscht zu werden. Doch der angerichtete Schaden ist noch viel größer: Der Bullshitter untergräbt die Grundlagen der zivilisierten Kommunikation. Denn Verständigung zwischen Menschen funktioniert nur, wenn diese sich – zumindest meistens – um die Wahrheit über die Welt bemühen, in der wir leben. Würden wir dauernd Bullshit reden, würde die Bedeutung der Worte und Sätze, die wir sprechen, erodieren.“
Er verdeutlicht das am Adjektiv „grün“:
„Würden wir uns zum Beispiel nicht mehr darum kümmern, ob das, was wir als „grün“ bezeichnen, wirklich grün ist, würde das Adjektiv „grün“ nichts mehr aussagen. Es könnte grüne Dinge benennen und rote und farblose – alle Dinge. Ein einzelner Mensch, der noch Wert auf die richtige Verwendung des Attributs „grün“ legte, wäre verloren in der allgemeinen Beliebigkeit. Bullshit ist also ansteckend, er ist nicht nur selbst nichtssagend, sondern raubt auch Äußerungen, die eigentlich sinnvoll wären, ihre Aussagekraft.“
Es gibt aber auch „Ein-Wort-Bullshit“ – das sind Wörter, die wohlklingend sind, aber nichts aussagen. In der Pseudomedizin sind Schlagwörter wie „Energie“ oder „Schwingungen“ gute Beispiele. Tobias Hürter nennt als Beispiel «“Biosprit“ als Bezeichnung für herkömmliches Benzin, dem ein geringer Anteil pflanzlichen Brennstoffs aus meist nichtbiologischem Anbau beigemischt wurde.»
Bullshit = Defizit an Wahrhaftigkeit
Bis vor ein paar Jahren stand der Wert der Wahrheit nicht in Frage. Wer sie kannte, hatte Wissen – und Wissen ist bekanntlich Macht (nach Francis Bacon, 1561 – 1626). Diese Zusammenhäng lösen sich offenbar auf. Heute hat eher Macht, wer Meinung und Stimmung produziert.
Bullshitter plustern sich selbst gern als Überbringer von Wahrheiten auf, obwohl gerade das nicht ihre Absicht ist. Ihrem Wesen nach sind sie eher Blender, die mit ihrer Rede die Einstellungen derer beeinflussen wollen, zu denen sie reden.
Bullshit entsteht zwar aus einem Mangel an Wahrhaftigkeit, doch ist eine sachlich falsche Aussage nicht gleich Bullshit. Sie kann je nach Wissensstand und Absicht des Sprechers Irrtum, Lüge oder Bullshit sein. Tobias Hürter:
„Wer….glaubt, die Wahrheit zu sagen, jedoch falsch liegt, irrt. Wer seinem Gegenüber gezielt und bewusst Falsches erzählt, lügt. Wem es gleich ist, ob das, was er sagt, stimmt oder nicht, und einfach nur Eindruck schinden und Stimmung machen will, redet Bullshit. Eine laxe Haltung zur Übereinstimmung zwischen der Welt und dem Gesagten, wo Sorgfalt angebracht wäre, bringt Bullshit hervor.“
Keine falsche Toleranz für Bullshit
Bullshit wird in der Regel sozial schwächer sanktioniert als Lügen. Wir lassen und eher belabern als belügen. Wer herausfindet, dass man ihn belügt, wird wütend und fühlt sich hintergangen. Unter Lügenverdacht zu geraten ist für Politiker immer noch heikel. Bullshit reden dürfen Politikerinnen und Politiker dagegen oft ungestraft. Es wird sogar manchmal von ihnen erwartet, dass sie Phrasen dreschen und Fragen ausweichen. Bullshit ist Teil des Repertoires politischer Kommunikation.
Aus philosophischer und politischer Sicht allerdings ist die Milde gegenüber Bullshit ausgesprochen fragwürdig.
Tobias Hürter schreibt:
„Einem Lügner liegt an der Wahrheit. Er nimmt sie wichtig, deshalb will er sie verbergen. Zum Lügen gehört es, die Wahrheit genau zu kennen. Oft muss ein Lügner die Wahrheit sogar besser kennen als jemand, der sie ausspricht, denn ein Lügner muss seine Lüge in die Wahrheit einpassen und dafür sorgen, dass sie dem Weltbild seines Gegenübers so weit entspricht, dass dieser die Lüge als Wahrheit akzeptieren kann. Ein Bullshitter hingegen schert sich nicht um die Wahrheit und erstickt sie einfach mit seinem Gerede. Die Welt und sein Bild von ihr sind ihm egal. Er will seine Agenda durchsetzen.“
Auch der Mediziner und Jurist Rainer Erlinger hat sich mit der Frage befasst, weshalb wir Bullshit eher tolerieren als die Lüge. In seinem lesenswerten Buch „Warum die Wahrheit sagen“ schreibt er:
„Man ist spontan geneigt, das Bullshitten als harmloser anzusehen als die bewusste Lüge, weil die Lüge die direkte Täuschungsabsicht beinhaltet, das volle Wissen, dass es in Wirklichkeit anders ist. Zudem richtet sich die Lüge direkt gegen den Belogenen, der von etwas Falschem überzeugt werden soll. Das, was die Lüge hier verwerflicher erscheinen lässt, ist die Absicht, die bei ihr im Mittelpunkt steht. Etwas «absichtlich»gemacht zu haben, gilt allgemein als die stärkste Variante einer rechtlichen oder moralischen Vorwerfbarkeit.
Der Bullshitter hingegen sagt nicht absichtlich die Unwahrheit. Es ist ihm gleichgültig, ob das, was er sagt, wahr oder falsch ist. Oft weiss er es selbst gar nicht. Er will beim Zuhörer zwar auch etwas bewirken, das Moment der Manipulation bleibt somit bestehen. Die Täuschung betrifft aber nicht direkt die Tatsachen. Der Bullshitter will über sich selbst täuschen, dass er oder sie mehr weiss, als es der Fall ist. Oder er will Zustimmung bekommen zu seiner Person und zu dem, was er oder sie tun will.“
An diesem Punkt wird deutlich, weshalb Bullshit in so grosser Dichte bei narzisstischen Politikern wie Donald Trump oder Boris Johnson anzutreffen ist. Bullshit eignet sich perfekt zur Selbstinszenierung und Selbstvermarktung.
Weil Bullshit unspezfischer und weniger klar überprüfbar ist, empfindet man ihn als weniger verwerflich als die Lüge, die konkrete, absichtliche punktuelle Täuschung über eine Tatsache.
Harry Frankfurt schreibt zur Toleranz gegenüber dem Bullshit:
„Tatsächlich neigen die Menschen gegenüber dem Bullshit zu grösserer Toleranz als gegenüber der Lüge, vielleicht, weil wir Bullshit nicht so stark als persönlichen Affront erleben. Wir mögen uns vom Bullshit distanzieren, aber wir wenden uns eher mit einem ungeduldigen oder irritierten Schulterzucken davon ab als mit jenem Gefühl der Verletzung und Empörung, die Lügen in uns auslösen.“
Frankfurt hält Bullshit für eine noch größere Bedrohung unserer Zivilisation als das Lügen. „Es ist wichtig für uns, die Wahrheit zu respektieren. Der Lügner untergräbt nicht unseren Respekt für die Wahrheit, sondern unsere Kenntnis von ihr. Das ist schlecht, aber es unterscheidet ihn vom Bullshitter, der unseren Respekt für die Wahrheit untergräbt.“
Deshalb zersetzt Bullshit den Wert der Wahrhaftigkeit noch tiefgreifender als Lügen.
Auch Erlinger schreibt, „dass Bullshit keineswegs harmloser ist als die Lüge, sondern im Gegenteil destruktiver und deshalb auch verwerflicher.“ Den Hauptgrund dafür sieht er darin, dass der Lügner, wenn er versucht, über eine Tatsache zu täuschen, weiss, dass es eigentlich anders ist, und damit anerkennt, dass es einen Unterschied zwischen der Realität und der Lüge, zwischen wahr und nicht mehr wahr gibt.
„Er erkennt an, dass Tatsachen Bedeutung haben, und damit erkennt er auch die Wahrheit als solche an. Der Bullshitter hingegen stellt das gesamte Konzept von wahr und nicht wahr, den Unterschied zwischen Tatsachen und Erfundenem infrage. Er leugnet die Bedeutung von Fakten, ja sogar ihre Existenz insgesamt. Deshalb kann man ihn auch nicht durch die Widerlegung seiner Behauptungen erschüttern.“
Bullshit ist faktenresistent
Der Lügner anerkennt die Existenz der Spielregel, dass man zwischen wahr und falsch unterscheiden muss, aber er hält sich nicht daran.
Der Bullshitter dagegen leugnet bereits die Existenz dieser Spielregel, schreibt Erlinger:
„Damit zerstört er das Spiel des Informationsaustauschs, der Kommunikation und, wie man gesehen hat, der darauf aufbauenden Demokratie. Nur dass es sich in diesem Fall nicht um ein Spiel handelt, sondern um die gesellschaftliche und politische Realität. Eine Lüge lässt sich mit Faktenbeweisen widerlegen, und man kann dann auf der Grundlage der Korrektur weiter diskutieren. Mit dem Bullshitter oder auf der Grundlage des Bullshits kann man gar nicht mehr diskutieren. Die «Spielregeln» der Kommunikation und hier, in der Politik, die der politischen Auseinandersetzung und Willensbildung werden ausgehebelt – und damit die Demokratie insgesamt.“
Wir sollten Bullshit deshalb nachdrücklich in Frage stellen, wenn wir ihm begegnen, und selber so gut wie möglich lernen, keinen Bullshit zu verzapfen.
Phillip Hübl schreibt dazu in seinem Buch „Bullshit-Resistenz“:
„Die Verantwortung für die Wahrheit liegt bei jedem Einzelnen. Um die Demokratie und uns selbst vor Bullshit zu schützen, müssen wir selbst resistenter, also widerstandsfähiger werden. Die dafür benötigte Bullshit-Resistenz bedeutet nicht nur, dass wir uns vor Fake News und anderem Unfug schützen, sondern auch, dass wir uns selbst davor bewahren, zum Lügner, Bullshitter oder Trottel zu werden. Insofern steht Bullshit-Resistenz in der Tradition der Aufklärung.“
Eine Quelle der Bullshit-Produktion ist die weitverbreitete Annahme, jeder Mensch müsse zu jeder Angelegenheit eine Meinung haben. Natürlich ist es unrealistisch, sich zu allem eine fundierte Meinung zu bilden, weil es uns dazu an Zeit und Wissen mangelt.
Deshalb bilden wir einen beträchtlichen Teil unserer Meinungen voreilig und unwissend, aus einem dumpfen Gefühl heraus. Und die Suchmachinen im Internet unterstützen uns gerne dabei, unseren Kopf in Sekundenschnelle mit einer Flut von Fast-Food-Meinungen abzufüllen.
Tobias Hürter formuliert es so:
„Im Niemandsland zwischen allem, wozu wir uns eine begründete Meinung bilden können, und dem, wozu wir eine Meinung haben wollen, gedeiht der Blödsinn.“
Keine Meinung zu haben und keine Meinung zu äussern, wo uns das Wissen fehlt, kann also eine Bullshit-prophylaktische Wirkung haben.
Wenn aber Politiker bullshitten, dann auch deshalb, weil sie damit durchkommen, schreibt Tobias Hürter, und fügt an:
„Es liegt an Wählern, Journalistinnen, Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen, diese Strategie zu entlarven. Es gilt, genau hinzuhören und hartnäckig nachzufragen. Was hat er oder sie gemeint? Was bedeutet das genau? Was folgt daraus? Zugleich ist es unabdingbar, sich unabhängig zu informieren.“
Quelle:
https://www.bpb.de/apuz/245219/bullshit-weder-wahrheit-noch-luege?p=all
(Quelle zum Artikel von Tobias Hürter)
https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-ueber-fake-news-wahr-falsch-bullshit/22721310.html
(Quelle zum Artikel von Andrea Römmele)
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