Gestern wurde ich gefragt, was ich von Ceres Hypericum Urtinktur gegen Depressionen halte. Es handelt sich hier um einen alkoholischen Auszug aus Johanniskraut (Hypericum perforatum). Johanniskraut ist die wichtigste Heilpflanze der Phytotherapie gegen leichte und mittlere Depressionen. Eine ganze Reihe von Johanniskraut-Präparaten wurde bisher in Studien mit Patientinnen und Patienten untersucht. Alle Präparate mit positiven Studienergebnissen enthalten Trockenextrakte oder Dickextrakte aus Johanniskraut. Für Tinkturen liegen keine entsprechenden Studien vor.
Die meisten Ceres Tinkturen sind bezüglich Wirkstoffgehalt unterdosiert, wenn man die Anforderungen der Phytotherapie-Fachgremien zum Massstab nimmt. So auch bei der Ceres Hypericum Urtinktur gegen Depressionen. Die werbefreie und damit unabhängige Zeitschrift „Gesundheitstipp“ hat mehrere Johanniskraut-Präparate im Labor untersuchen lassen (Ausgabe November 2015). Verglichen mit den ebenfalls untersuchten Johanniskrautpräparaten Rebalance 500, Jarsin 450, Hypericum 650 und Hyperiforce enthielt die Ceres Hypericum Urtinktur die phytotherapeutisch massgebenden Wirkstoffe Hypericin, Hyperforin und Flavonoide in massiv tieferen Konzentrationen und bekam die Note „ungenügend“ verpasst.
Ceres Hypericum Urtinktur ohne Zulassung für Depression
Die Ceres Hypericum Tinktur hat für die Indikation „Depression“ keine Zulassung der Arzneimittelbehörden. Der Hersteller umgeht diese Einschränkung, indem er den Begriff „Depression“ zwar nicht auf die Etikette druckt, sie stattdessen aber in separaten Publikationen aufführt.
Der Person, die mich gefragt hat, wurde die Ceres Hypericum Urtinktur in der Drogerie gegen Depressionen empfohlen. Das ist unverantwortlich. Ein Patient oder eine Patientin mit einer Depression hat Anspruch auf ein wirksames Arzneimittel. Das gibt natürlich auch für Phytopharmaka (pflanzliche Arzneimittel). Und selbstverständlich ist bei einer Depression auch eine ärztliche Diagnostik und Behandlung angesagt.
Die Drogistin hat die Ceres Hypericum Urtinktur im Übrigen mit dem Hinweis empfohlen, sie enthalte „das Wesen der Pflanze“. Auf die Nachfrage, was das Wesen der Pflanze sei, konnte sie aber nur wiederholen. „das Wesen der Pflanze“.
Das Wesen der Pflanzen, das in den Ceres Tinkturen enthalten sein soll, wird vom Hersteller als Verkaufsargument genutzt. Wir haben es hier aber mit einer Leerformel zu tun. Mit dem Begriff des „Wesens“ lassen sich zwar offensichtlich Menschen beeindrucken. Er sagt aber in diesem Zusammenhang nichts aus. Eine Drogerie oder Apotheke, die solche ausgesprochen fragwürdige Leerformeln in der Beratung verwendet, würde ich meiden. Und genauso eine Drogerie oder Apotheke, die bei Depressionen die dafür völlig ungeeignete Ceres Hypericum Tinktur empfiehlt.
Der österreichische Philosoph und Soziologe Ernst Topitsch (1919 – 2003) hat sich in seinen Schriften immer wieder dezidiert gegen Leerformeln ausgesprochen, die sich seiner ansicht nach bestens für Manipalationen aller Art eignen.
Zitat:
„Unklare und unüberprüfbare, aber pathetisch und ‚tiefsinnig’ klingende Formulierungen treten hier mit dem Anspruch auf, höhere Wahrheiten zu sein als die kontrollierbaren Aussagen der Wissenschaft, die gern in den Orkus des ‚platten Verstandesdenkens’ verwiesen werden. Ja schon das blosse Verlangen nach genauerer Charakterisierung jener hehren Prinzipien wird nicht selten als Anmassung des banalen Hausverstandes verächtlich gemacht.“
Topitsch spricht von den „gegen alle rationale Durchleuchtung abgeschirmten Ballungen wabernder Wortnebel“.
Quelle: Ernst Topitsch, Mythos – Philosophie – Politik, Rombach Verlag 1969
Es ist nicht unproblematisch, wenn Menschen sich von solchen wohl tönenden Leerformeln unhinterfragt beeindrucken lassen. Man gewöhnt sich mit der Zeit an sie und akzeptiert sie in immer weiteren Bereichen. Und auf der politischen Ebene sind solche Leerformeln noch verheerender.
Siehe auch:
Die fragwürdige Rede vom “Wesen der Pflanzen”
“Wesenhafte Urtinkturen” – genau nachfragen, statt blind glauben!
Wesen und Signatur der Heilpflanzen – Gänseblümchen….
Zum “Wesen der Heilpflanzen”: Storchenschnabel gegen Schock?
Pflanzenheilkunde: Nebulöse Aussagen vom “Wesen der Pflanzen”
Vom „Gesundheitstipp“ konfrontiert mit dem sehr geringen Wirkstoffgehalt antwortet die Firma Ceres, man könne ihre homöopathische Urtinktur nicht mit dem Massstäben der Pflanzenmedizin beurteilen. Das ist eine ausgesprochen eigenartige Antwort, denn das Produkt wird nach Indikationen der Pflanzenmedizin angepriesen und muss sich daher selbstverständlich mit diesen Massstäben messen lassen. Die Ceres Tinkturen werden zwar nach den Regeln des Homöopathischen Arzneibuchs (HAB) hergestellt, werden aber nicht in der für Homöopathika typischen Art verdünnt und verschüttelt („potenziert“) und auch nicht nach Kriterien der klassischen Homöopathie angwendet (Arzneimittelbild). Eine homöopathische Anwendung ist das also nicht. womit also, wenn nicht nach Massstäben der der Pflanzenmedizin, lässt sich die Tinktur beurteilen?
Wer sich für Wirkstoffe und Heilpflanzen-Anwendungen interessiert, kann dazu fundiertes Wissen erwerben in meinen Lehrgängen, dem Heilpflanzen-Seminar und der Phytotherapie-Ausbildung.
Die Teilnehmenden erwerben sich damit eine Grundlage, um besser unterscheiden zu können zwischen fragwürdigen und gut begründeten Aussagen.