Die Literaturkritikerin und Autorin Michiko Kakutani hat ein anregendes und informatives Buch geschrieben mit dem Titel «Der Tod der Wahrheit – Gedanken zur Kultur der Lüge».
Darin nehmen auch die Entwicklungen im Internet einen wichtigen Platz ein.
Zitat:
«Die schiere Menge der Daten im Netz erlaubt es den Menschen, sich nach Belieben Tatsachen, Pseudotatsachen oder Nicht-Tatsachen herauszusuchen, die ihre eigene Sichtweise stützen; Fachleute wie Amateure werden gleichermassen ermutigt, Material zur Unterstützung ihrer eigenen Theorien zu finden, statt empirische Belege zu überprüfen und damit zu rationalen Schlussfolgerungen zu gelangen. Oder, wie Nicholas Carr, der frühere stellvertretende Chefredakteur des Harvard Business Review, in seinem Buch The Shallows (dt. Surfen im Seichten) schrieb: ”Wenn wir das Netz durchforsten, sehen wir den Wald nicht. Wir sehen noch nicht einmal die Bäume. Wir sehen Zweige und Blätter.”
Im Netz, wo Klicks unser Ein und Alles sind und wo die Grenzen zwischen Unterhaltung und Nachrichten zunehmend verschwimmen, steigen sensationelle, bizarre oder empörende Informationen zur Spitze auf, ebenso wie Postings, die auf zynische Weise an die reptilienartigen Teile unseres Gehirns appellieren – an primitive Emotionen wie Angst, Hass und Wut.»
Zitat aus dem Buch:
«Der Tod der Wahrheit – Gedanken zur Kultur der Lüge», von Michiko Kakutani, Klett-Cotta 2018 (Seite 117)
Dieses ergiebige, anregende und informative Buch können Sie in meinem Buchshop anschauen und dort auch via Buchhaus.ch bestellen (hier).
Kommentar & Ergänzung:
Früher war es aufwendig und oft auch teuer, an Informationen und Wissen zu gelangen. Das hat sich fundamental geändert mit dem Internet. Wer einen Begriff in eine Suchmaschine eingibt, bekommt in Sekundenschnelle eine unübersehbare Menge an Information – und das gratis (bei den meisten Suchmaschinen zahlt man mit seinen Daten).
Michiko Kakutani spricht es im Zitat aber an: Geliefert wird eine Mischung von Tatsachen, Pseudotatsachen oder Nicht-Tatsachen. Und vor allem bei Themen, mit denen wir nicht oder wenig vertraut sind, ist es schwierig, zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen zu differenzieren. Auf diese fundamentale Herausforderung sind wohl die meisten von uns nur sehr ungenügend vorbereitet.
Doch zu unterscheiden zwischen Tatsachen, Pseudotatsachen und Nicht-Tatsachen ist entscheidend für Gesellschaft und Politik – beide sind ohne eine solche Unterscheidung nicht funktionsfähig oder sogar nicht überlebensfähig sind. Das Buch von Michiko Kakutani sensibilisiert für diese Unterschiede.
Unterscheiden zu können zwischen Tatsachen, Pseudotatsachen und Nicht-Tatsachen ist im Übrigen auch essentiell für Gesundheitsthemen und für Informationen und Wissen im Bereich Phytotherapie. Dieses Unterscheidungsvermögen zu fördern ist mir deshalb ein wichtiges Anliegen in meinen Lehrgängen, dem Heilpflanzen-Seminar und der Phytotherapie-Ausbildung.
Beim ersten Satz des Zitats geht es um den Bestätigungsfehler (Confirmation bias): Menschen neigen dazu, bevorzugt Informationen zu suchen, zu beachten und zu glauben, welche die eigene Weltsicht bestätigen. Weil man dazu im Internet immer und einfach Material findet, verhärten sich Ansichten und Positionen rasch. Der Confirmation bias ist auch ein Kernelement in allen Verschwörungstheorien.
Dietram Scheufele, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Wisconsin, schreibt dazu:
«Das ist das Paradox unserer neuen Informationswelt: Es war noch nie so leicht, alle Informationen zu finden, die man haben will. Es war aber auch noch niemals so leicht, all jenen Informationen auszuweichen, die man nicht haben will.»
Siehe dazu auch:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Zum letzten Satz im Zitat von Michiko Kakutani ist zu ergänzen, dass Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram diese Entwicklung stark begünstigen. Studien haben gezeigt, dass sehr viele Menschen auf sensationelle, bizarre oder empörende Meldungen viel stärker reagieren als auf sachlichere, differenziertere Posts. Sensationelle, bizarre oder empörende Meldungen werden stärker geteilt und häufiger gelikt. Das ist fatal, weil die Algorithmen der Social-Media-Plattformen Beiträge, die häufiger gelikt und geteilt werden, als wichtiger betrachten. Solche Beiträge werden deshalb besser sichtbarer gemacht und weiterverbreitet. Schrott schlägt damit Differenziertheit.
Zu diesem Thema hat Matthias Zehnder ein informatives Buch geschrieben:
“Die Aufmerksamkeitsfalle” von Matthias Zehnder
Hier gibt’s eine Zusammenfassung von mir zu diesem Buch:
Wie Medien via Aufmerksamkeitsfalle den Populismus fördern
Auch das Buch von Corinna Milborn und Markus Breitenecker ist sehr informativ:
„Change the Game – Wie wir uns das Netz von Facebook und Google zurückerobern,“ von Corinna Milborn, Markus Breitenecker
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.