Verschwörungstheorien zersetzen das Vertrauen in demokratische Prozesse und Institutionen. Und die Algorithmen von digitalen Plattformen wie YouTube und Facebook verbreiten Verschwörungstheorien bevorzugt zulasten von seriöser Information. Mit dieser Verzerrung steht demokratischen Gesellschaften ein ernsthaftes Problem ins Haus.
Mit Anhängerinnen und Anhängern von Verschwörungstheorien im Detail zu diskutieren ist in der Regel unergiebig – zu stark sind sie gefangen in ihren Gedankengebäuden. Viel wichtiger ist es zu verstehen, wie Verschwörungstheorien aufgebaut sind und welchen Sinn und Zweck sie für Anhängerinnen und Anhänger erfüllen. Dann zeigen sich nämlich auch die Schwachpunkte dieser Konstrukte deutlicher. Einer dieser Schwachpunkte ist die Vorstellung, dass politische und geschichtliche Prozesse genau steuerbar sind. Diesen Aspekt hat Michael Butter auf den Punkt gebracht – in seinem informativen und lesenswerten Buch «Nichts ist, wie es scheint»:
«Das vielleicht stärkste Argument gegen Verschwörungstheorien ist aber, dass diesen ein in den modernen Sozialwissenschaften mittlerweile radikal infrage gestelltes Menschen- und Geschichtsbild zugrunde liegt. Verschwörungstheorien basieren auf der Annahme, dass Menschen den Verlauf der Geschichte ihren Intentionen entsprechend lenken können, dass Geschichte also planbar ist. Sie schreiben den Verschwörern die Fähigkeit zu, über Jahre, manchmal sogar über Jahrzehnte hinweg die Geschicke eines Landes oder gar der Welt zu bestimmen.
Oft verstehen sie sogar die Geschichte an sich als eine Abfolge von Komplotten einer oder verschiedener Gruppen. Somit sehen sie die Welt radikal anders als die Psychologie, die Soziologie oder die Politikwissenschaft. Der Psychologie zufolge ist der Mensch nicht Herr seiner selbst, wie Sigmund Freund es prägnant formuliert hat; er weiss oft gar nicht genau, was er will und was nicht, und hat entsprechend Schwierigkeiten, seine Absichten in die Tat umzusetzen. Doch selbst wenn er es immer wüsste, könnte er es nicht, da soziale Systeme, wie Soziologie und Politikwissenschaft gezeigt haben, ein Eigenleben führen und Effekte generieren, die niemand intendiert hat.»
(Buch von Michael Butter S. 40/41)
Siehe auch: Geschichtskompetenz (historical literacy) zur Vorbeugung gegen Verschwörungstheorien
Und weiter auf Seite 59/60 im Buch von Michael Butter:
Cui bono? Das Motto der Verschwörungstheorie
«Verschwörungstheoretiker erzählen Geschichte immer vom Ende her. Sie fragen, wem ein Ereignis oder eine Entwicklung nützt, und identifizieren so diejenigen, die dafür verantwortlich sein müssen. Sie glauben an ein mechanistisches Weltbild, in dem kein Platz für Zufall, ungewollte Konsequenzen oder systemische Effekte ist. Beobachtbare Ereignisse sind für sie die Auswirkungen intentionaler Handlungen und ermöglichen es, auf die Motive der Akteure zu schliessen. ‘Cui bono?’ (Wem zum Vorteil?) ist daher…das implizite Motto….
Diese Strategie, die Schuldigen zu identifizieren, hat sich seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert…….
Wenn sie mit ihrer Untersuchung beginnen, wissen Verschwörungstheoretiker immer bereits, wer die Schuldigen sind. Entsprechend ist ihre gesamte Beweisführung darauf ausgerichtet, ihren Verdacht zu bestätigen…..
Treffender als Mark Fenster kann man das konspirationistische Vorgehen daher kaum beschreiben: ‘Es mag immer noch etwas geben, was man herausfinden kann – neue Details, neue Entwicklungen [….] -, aber es gibt niemals etwa wirklich Neues zu wissen.’
Da Verschwörungstheorien ‘wichtige Ereignisse nur auf eine einzige entscheidende Ursache zurück[führen]’, nämlich die Verschwörung, die sie meinen, entdeckt zu haben, reduzieren sie die Komplexität der sozialen Realität enorm. Der Konspirationismus löst eine vielschichtige und widersprüchliche Wirklichkeit in den manichäischen Gegensatz von gut und Böse auf. Der meist in kleinen Gruppen von Verschwörern, die letztendlich für alles, was geschieht, verantwortlich ist, steht die grosse Gruppe der Opfer gegenüber, die bis auf wenige Erleuchtete gar nicht begreift, was passiert.»
Zitate aus dem Buch:
«Nichts ist, wie es scheint – über Verschwörungstheorien»,
von Michael Butter.
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Kommentar & Ergänzung:
Es ist eine fundamentale Kritik an Verschwörungstheorien, dass sie die komplexe Realität politischer und wirtschaftlicher Prozesse auf ein eindimensionales Freund -Feind-Schema reduziert. Butter spricht einen «manichäischen Gegensatz» an. Dahinter steckt der Begriff «Manichäismus». Damit wird ursprünglich eine Offenbarungsreligion aus der Spätantike und dem frühen Mittelalter bezeichnet, die auf den Perser Mani zurückgeht. Manis Lehre ist charakterisiert durch eine scharfe Unterscheidung zwischen einem Prinzip des Lichts und einem Prinzip der Finsternis.
Den Verschwörungstheorien fehlen die Zwischentöne
«In der Gegenwart wird der Begriff verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren. Dem liegt zumeist ein eschatologischer Zug zugrunde. Als manichäisch in diesem Sinne werden in den Sozialwissenschaften etwa christlicher Millenarismus, Antisemitismus, der Nationalsozialismus und verschiedene Verschwörungstheorien beschrieben.» (Quelle: Wikipedia)
Um es noch einmal zu sagen:
Zu den wichtigen Kritikpunkten und Erkennungsmerkmalen von Verschwörungstheorien gehört, dass sie die Welt scharf und vereinfachend in Gut und Böse einteilen. Und das auch noch entlang von ziemlich willkürlich gewählten Feindbildern. Sie unterstellen konsequent böse Absichten, wo vielleicht nur Dummheit, Fehlverhalten oder Irrtum vorliegt.
Hier stellt sich eine wichtige Frage:
Wie kann man Menschen befähigen, mit einer zunehmend komplexer werdenden, sich rasch wandelnden Welt umzugehen. Und das ohne in destruktive Simplifizierungen wie Verschwörungstheorien abzutriften?
Dass Ereignisse auch durch Zufall, Dummheit, Fehlplanung zustande kommen können, und ihnen nicht zwangsläufig der grosse geheime Plan zugrunde liegt, scheint für manche Menschen schwer akzeptierbar. Da verschafft die Vorstellung vom grossen Plan offenbar die nötige Übersichtlichkeit und eine eigenartige Idee von Kontrolle.
Zu lernen, mit komplexen, ambivalenten, widersprüchlichen Situationen umzugehen, scheint ein Gebot der Stunde zu sein.
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.