Ein Essay von Martin Koradi.

Kritik hat keinen guten Ruf.

Kritiker, das sind doch Leute, die alles niederreissen und jeden fertig machen, der ihnen über den Weg läuft….

Diese Sichtweise ist ein grosser und in mancher Hinsicht sogar riskanter Irrtum.

Darum will ich hier zu einem „Lob der Kritik“ ansetzen und eine Lanze brechen für die Kultivierung von Kritikfähigkeit.

Das Wort „Kritik“ stammt ab von griech. krinein «scheiden». Kritik im Sinne von Scheidekunst (kritike techne), Beurteilungskunst, Fähigkeit der Prüfung, ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, in allen Lebensbereichen mehr oder weniger klug zu handeln, sowie Täuschung und Irrtum soweit wie möglich zu vermeiden.

Ohne diese Unterscheidungskunst ist es nicht möglich, als Konsument klug zu wählen oder politisch als Bürgerin oder Bürger verantwortliche Entscheidungen zu treffen.

Wer als Mensch nicht zur Kritik im Sinne einer Beurteilungskunst fähig ist, hat den Einflüssen von Werbung und Propaganda nichts entgegenzusetzen und wird zum Spielball dieser Mächte. Gegen die grassierenden Fake News im Netz zum Beispiel ist Kritik unverzichtbar.

Den hohen Wert der Kritik hat schon der englische Philosoph John Stuart Mill (1806 – 1873) beschrieben:

Die Gesellschaft profitiert in jedem Fall davon, wenn ihre gängigen Meinungen kritisiert werden.

– Stellt sich eine Meinung im Zuge von Kritik als falsch heraus, so besteht der Nutzen der Kritik darin, dass die falsche Meinung durch eine bessere ersetzt werden kann.

– Kann sich eine Meinung gegen die Kritik, die sich als falsch herausstellt, behaupten, dann besteht der Nutzen der Kritik darin, dass durch die Verteidigung der Meinung ein lebendiges Verständnis für sie erhalten bleibt. Eine Meinung, die harte Kritik übersteht, wird aus dieser Auseinandersetzung zudem gestärkt hervorgehen.

– Wenn sich sowohl die kritisierte Meinung als auch die Kritik als weder vollständig wahr noch als völlig falsch erweisen, dann besteht der Nutzen der Kritik darin, dass sich beide zum Vorteil gegenseitig korrigieren können.

In den Worten von John Stuart Mill:

„Wenn das Urteil irgendeines Menschen wirklich Vertrauen verdient – wie ist es dazu gekommen? Dadurch, dass er seinen Geist offen gehalten hat für Kritik an seinen Meinungen und an seinem Verhalten. Dass es seine Gewohnheit war, allem Gehör zu schenken, was gegen ihn gesagt werden konnte, davon zu profitieren, soweit es richtig war, und sich selbst wie bei Gelegenheit auch anderen die Falschheit dessen, was falsch war, klarzumachen. Dass er gemerkt hat, dass der einzige Weg, auf dem ein menschliches Wesen eine gewisse Annäherung an die vollständige Kenntnis einer Sache zu erreichen vermag, der ist, anzuhören, was von Leuten mit ganz verschiedenen Meinungen über sie gesagt werden kann, und alle erdenklichen Gesichtspunkte zu studieren, unter denen die Sache sich irgend betrachten lässt. Kein weiser Mann hat seine Weisheit jemals auf andere Weise erworben als auf diese; und es liegt nicht in der Natur des menschlichen Geistes, auf irgendeine andere Art klug zu werden.

Die ständige Gewohnheit der Korrektur und Vervollständigung der eigenen Meinung durch ihren kritischen Vergleich mit den Meinungen anderer ist – weit davon entfernt, Zweifel und Hemmungen bei ihrer Übertragung in die Praxis hervorzurufen, – die einzige feste Grundlage für ein Vertrauen auf sie. Denn wenn ein Mensch all das kennt, was, wenigstens offensichtlich, gegen ihn gesagt werden kann, und wenn er seinen Standpunkt gegen alle Kritiker vertreten hat – wenn er weiss, dass er nach Einwänden und Schwierigkeiten gesucht hat, statt ihnen aus dem Wege zu gehen, und dass er kein Licht ausgesperrt hat, das von irgendeiner Seite auf die Sache geworfen werden kann -; dann hat er ein Recht, sein eigenes Urteil für besser als das irgendeines anderen oder einer Mehrzahl von Menschen zu halten, die nicht durch einen ähnlichen Prozess hindurchgegangen sind.“

(John Stuart Mill, Über die Freiheit,1859, 2. Abschnitt: Von der Freiheit des Denkens und der Diskussion)

Fazit: Wenn wir unsere Ideen und Projekte weiterentwickeln und verbessern wollen, sind wir auf Kritik angewiesen.

Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft und haben Wahlmöglichkeiten in einer Vielfalt, wie sie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit vorhanden waren. Diese Wahlmöglichkeiten sind nur sinnvoll zu nutzen, wenn wir unsere Kritikfähigkeit, unsere Scheidekunst, entsprechend entwickeln. Sie ist die Basis für jede fundierte Wahl. Der kritische Diskurs, die interne und externe Beratung, führen zur Urteilsbildung, die der Wahl vorausgeht.

Deshalb stellt unsere Zeit ganz besonders hohe Anforderungen an die Kritikfähigkeit im Sinne der Prüfung und Unterscheidung.

Die Kritik und ihr besonderer Wert kommen jedoch auch in anderen Kulturen zur Sprache.

Konfuzius (551 – 479 v.u.Z) war fest überzeugt davon, dass der Unterricht nicht nur den Lernenden, sondern auch den Lehrenden Nutzen bringt. Deshalb versuchte er ständig, seine Schüler zur Kritik an ihm zu ermutigen. Seinem Lieblingsschüler Yan Hui warf er vor, nicht mutig genug zu sein, ihn als seinen Lehrer zu kritisieren. Er empfand die Zurückhaltung Yan Huis sogar als mangelndes Interesse, ihm zu helfen: “Hui hilft mir nicht. Mit allem, was ich sage, ist er einverstanden.”

Was Kritik nicht ist…..

Um den Begriff der Kritik klarzumachen, muss aber auch dargelegt werden, was Kritik nicht ist. Dazu gibt Wikipedia eine interessante Zusammenstellung:

«Kritik wird unterschieden von:

  • der Beckmesserei als Metapher für beflissene und engstirnige Regelgläubigkeit
  • der Krittelei, die als lästig empfunden wird, weil sie Ausdruck einer ausdauernd kleinlichen und ungerechtfertigt erscheinenden Kritik ist
  • der Skepsis, die systematisch hinterfragt und dabei immer davon ausgeht, dass auch sie selbst irren kann
  • dem Zweifel als einem Zustand der Unentschiedenheit zwischen mehreren möglichen Annahmen oder einer Unsicherheit in Bezug auf Vertrauen, Handeln, Entscheidungen, Glauben oder Behauptungen bzw. Vermutungen
  • dem Tadel, der als missbilligende Beurteilung eines Verhaltens u. a. in der Schule auch als erste Stufe einer Sanktionsmaßnahmefungiert (siehe analog dazu die Rüge oder Abmahnung für jeden Bereich zivilrechtlicher Unterlassungsansprüche und in jedem vertraglichen Dauerschuldverhältnis)
  • dem Verriss, dessen Argumente nicht auf eine Verbesserung des kritisierten Gegenstandes abzielen, sondern auf seine Vernichtung (siehe dazu analog als Steigerung die Schmähkritik, deren Argumente vor allem auf die Verächtlichmachung bzw. Diffamierung einer Person abzielen).»

Vor allem die Diffamierung ist hier hervorzuheben und strikt von Kritik zu unterscheiden. Kritik benennt konkrete Handlungen oder Aussagen und gibt Gründe dafür an, weshalb diese als falsch zu betrachten sind. Diffamierung dagegen ist in der Regel pauschal und greift die Person in ihrer Ehre an. Man spricht in diesem Zusammenhang vom argumentum ad hominem oder in den Worten von Arthur Schopenhauer vom argumentum ad personam, bei dem es keinerlei Bezug mehr zum eigentlichen Streitthema gibt und der Angriff ausschließlich auf sachlich irrelevante persönliche Eigenschaften des Gegners zielt. Das argumentum ad personam benötigt im Gegensatz zum argumentum ad hominem keinen logischen Aufbau und besteht im Extremfall aus einer schlichten Beleidigung. Schopenhauer führt es in seinem Werk zur eristischen Dialektik als letztes Mittel in einem Streitgespräch an:

„Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob.“

Diese Vorgehensweise ist nach Schopenhauer beliebt, da sie von jedermann angewandt werden könne. Im Gegensatz dazu sei die Fähigkeit zu einer sachlichen Auseinandersetzung und dem Eingestehen des eigenen Unrechts nicht jedem gegeben, und er konstatiert:

„Daraus folgt, daß unter Hundert kaum Einer ist, der wert ist, daß man mit ihm disputiert.“

Schopenhauer unterstreicht, dass ein dialektischer Sieg, also das sachliche Widerlegen einer Position, einen Streitgegner weit mehr erbittert als eine bloße Beleidigung, und empfiehlt dieses Vorgehen als Gegenstrategie (Quelle: Wikipedia).

Vor allem die Auseinandersetzungen im Internet werden zunehmend durch Diffamierung geprägt. Das ist eine Entwicklung, die Gegenwehr braucht.

Siehe dazu auch das Buch von Ingrid Brodnig: Hass im Netz, sowie meine Zusammenfassung dazu: „Notwendig: Den Sumpf der Hasspropaganda im Internet trocken legen.“

Fazit: Zwischen Diffamierung und Kritik klar zu unterscheiden ist ausgesprochen wichtig. Diffamierung soll wo immer möglich in Frage gestellt und als solche benannt werden, während auf Argumente gestützte Kritik grundsätzlich schützenswert ist (auch wenn man sie nicht in jedem Fall teilt).

Zu den Formen kritischen Denkens

Kritik basiert auf kritischem Denken. Das scheint selbstverständlich, doch was ist unter kritischem Denken zu verstehen? Paul (Critical thinking 1990, zitiert nach Miller / Babcock 2000) unterscheidet im Hinblick auf kritisches Denkvermögen vier Denktypen:

a) Kritisches Denken im allgemeinen Sinn

b) Unkritisches Denken

c) Sophistisches kritisches Denken

d) Wahres kritisches Denken

Diese Denktypen existieren nicht in Reinform, da menschliches Verhalten so komplex ist, dass bei einem einzelnen Menschen alle Spielarten vorkommen. So kann eine Person in der einen Situation um echtes kritisches Denken bemüht sein und in einer anderen unkritisch denken. Ideal wäre natürlich, sich in jeder Situation um wahres kritisches Denken zu bemühen. Dieses Ideal ist aber wohl für niemanden vollkommen erreichbar.

Ad a) Kritisches Denken im allgemeinen Sinn besteht nach Paul im Versuch, sich seine eigenen Denkprozesse bewusst zu machen und sich um mehr Genauigkeit, Sorgfalt, Relevanz, Konsistenz und Fairness zu bemühen. Diese Form des Denkens bringt eine tiefgründige Auseinandersetzung mit sich, die auf eine konstruktive Art skeptisch ist. Eine Person, die so denkt, erkennt Fehler, Vorurteile und Einseitigkeiten im Denken – zumindestens soweit möglich – und bemüht sich um die Beseitigung dieser Mängel – ebenfalls soweit möglich. Sie ist sich bewusst, was sie weiss und was sie nicht weiss. Kritisches Denken im allgemeinen Sinn ist Voraussetzung für selbstgesteuertes, tiefgreifendes, rationales Lernen.

Diese Definition nimmt Paul zum Ausgangspunkt für die Definition der anderen Typen.

Ad b) Unkritisches Denken ist am wenigsten erwünscht, weil es unklar, ungenau, vage, unlogisch, unüberlegt, oberflächlich, unzusammenhängend, nachlässig und trivial ist. Unkritisches Denken ist darüber hinaus auch egozentrisch, d. h. es bezieht alles auf die eigene Person. Die erkenntnistheoretischen Anforderungen des korrekten Denkens und die Prinzipien des logischen Schlussfolgerns werden zugunsten eigener egozentrischer Belange ignoriert. Unkritisches Denken kreist also um die Person selbst und ist verstrickt mit Wünschen, sozialer Beeinflussung, Vorurteilen oder irrationalen Vorstellungen. Es lässt relevante Belege, Implikationen (Verflechtungen zwischen verschiedenen Sachverhalten) und Konsistenz (gedanklicher Zusammenhang) ausser acht.

Ad c) Sophistisches Denken führt auf suptile Art in die Irre. Es nutzt die Prinzipien der Logik mit dem Ziel, persönliche Interessen zu verfolgen. Eine sophistisch denkende Person ist nicht nur egozentrisch, sondern auch ethnozentrisch. Sie denkt geschickt und clever, aber die Triebfeder ihres Denkens ist nicht die Suche nach Wahrheit und Objektivität, sondern das Eigeninteresse. Sophistisches Denken berücksichtigt Kategorien wie Belege, Gründe, Relevanz (Bedeutsamkeit für einen bestimmten Zusammenhang), Implikationen und Konsistenz nur, wenn dies persönlichen Interessen dient. Es wird erkenntnistheoretischen Anforderungen nur gerecht, wenn sie mit persönlichen Interessen in Einklang stehen. Sophistisches Denken wird auch als schwache Form des kritischen Denkens bezeichnet.

Ad d) Wahres kritisches Denken ist der am meisten erwünschte Denktyp. Es hält sich an die Prinzipien des logischen Denkens, unabhängig davon, ob persönliche Vor- oder Nachteile damit einhergehen. Eine Person, die sich um echtes kritisches Denken bemüht, wendet die Prinzipien des logischen Denkens zwar auf andere, aber auch bei sich selbst an. Wahres kritisches Denken hält sich an erkenntnistheoretische Anforderungen, ungeachtet von persönlichen Interessen oder ideologischen Belangen. Es ist geprägt von Einfühlungsvermögen in andere Sichtweisen und Liebe zur Wahrheit, auch wenn eigene Interessen dagegenstehen. Es beachtet konsequent die Prinzipien logischen Denkens und wendet die gleichen strengen Bewertungskritierien der Klarheit und Beweiskraft auf sich und andere an. Es prüft alle Standpunkte wohlwollend und bewertet sie nach denselben intellektuellen Kriterien, ohne eigene Gefühle oder Interessen und die Gefühle oder Interessen von Freunden, Gemeinden oder der Nation dabei zu berücksichtigen. Eine Person, die wahrhaft kritisch denkt, ist daher immer auf der Suche nach Wahrheit und Objektivität, auch wenn dieses Ideal nie vollständig erreichbar ist.

Kommentar zu diesen vier Denktypen

Wir alle sollten uns also um wahres kritisches Denken bemühen. Vielleicht denken Sie aber nach dem Lesen der vorhergehenden Abschnitte, dass dazu eine Ausbildung in Logik und Erkenntnistheorie nötig ist. Möglich oder sogar wahrscheinlich, dass solche Kenntnisse nützlich wären.

Ich glaube aber nicht, dass dies der entscheidende Punkt ist (ich selber habe keine Ausbildung in Logik und nur beschränktes Wissen über Erkenntnistheorie).

Entscheidend ist vielmehr, aus diesen vier Denktypen den zentralen Kern zu erfassen. Das ist mehr eine Grundhaltung.

Es ist schon sehr viel gewonnen, wenn Sie sich nicht mit vagen, schwammigen, wohlklingenden Begriffen abspeisen und einlullen lassen, die kaum fassbaren Inhalt transportieren. Fragen Sie bei solchen Worthülsen hartnäckig nach, was genau gemeint ist. In meinem Fachbereich der Naturheilkunde geistern beispielsweise eine ganze Reihe derart leerer Begriffe herum (z. B. Energie, das Wesen der Pflanzen, Entschlackung, Leberschwäche). Wenn die Bedeutung solcher Begriffe nicht geklärt wird, kann man sich stundenlang darüber unterhalten und redet dabei vollkommen aneinander vorbei, weil jeder und jede mit einer eigenen, anderen Vorstellung im Kopf dasitzt.

Es ist auch schon viel gewonnen, wenn Sie aufmerksam sind für Widersprüche und eine Aussage vergleichen mit Aussagen von anderen Fachleuten aus dem betreffenden Wissensbereich.

Es ist ebenfalls schon viel gewonnen, wenn Sie für bestimmte Aussagen nach Quellen fragen (wer hat was, wann, wo gesagt oder publiziert?).

Wenn mir eine Behauptung präsentiert wird – zum Beispiel “Curcumin wirkt gegen Krebs“ – dann muss ich den Weg nachvollziehen können, auf dem diese Ausssage in die Welt gekommen ist. Wie kommt es zu dieser Aussage? Wer hat das als erster gesagt? Aufgrund von welchen Erkenntnissen, Erfahrungen, Experimenten, Studien…..?

Erst wenn dieser Weg klar ist kann ich mir eine fundierte Meinung zu dieser Aussage bilden. Und derjenige, der diese Behauptung präsentiert, steht in der Pflicht, sie zu begründen und mir diesen Weg, diese Landkarte mit dem Weg, auf dem diese Aussage in die Welt gekommen ist, aufzuzeigen.

Das wichtigste Werkzeug für wahres kritisches Denken ist meines Erachtens konsequentes Nachfragen, bis ein klares Bild entsteht.

Zentral scheint mir aber auch die Wachsamkeit für sophistisches Denken. Ich würde eher von einseitigem oder einäugigem Denken sprechen. Im Bereich von Komplementärmedizin und Naturheilkunde treffe ich dieses Phänomen häufig an. Es zeigt sich so, dass Personen sehr kritisch bis spitzfindig gegenüber der sogenannten „Schulmedizin“ sind, aber gegenüber dem eigenen Lager keine einzige kritische Frage aufkommen lassen. Ich selbst habe auch kritische Fragen in meinem eigenen Fach, der Phytotherapie. Das irritiert einseitige „Lagerdenker“ in der Regel, weil sie es als eine Art von Verrat empfinden. Aber man kann nicht einseitig kritisch auf ein gegnerisches Lager hin denken, und den eigenen Bereich nicht in Frage stellen. Wer so denkt, denkt nicht kritisch, sondern einseitig, oder eben, in der Terminologie von R. Paul: sophistisch.

Wer wahrhaft kritisch denkt, denkt rundum kritisch und macht dieses Lagerdenken nicht mit.

Kenntnisse der Logik und Erkenntnistheorie schützen im Übrigen auch nicht sicher vor unkritischem Denken. Sie werden oft genau dann ausgesetzt, wenn eigene Interessen und Bedürfnisse tangiert sind. Das zeigt sich zum Beispiel an der ganz und gar nicht unbeutenden Zahl von Akademikerinnen und Akademikern, die unkritische Anhänger irgendwelcher obskuren Heilslehren sind. Wissenschaftliches Denken kann offensichtlich sektoriell ausgeschaltet werden. Das ist eine Form des sophistischen Denkens.

Kritisches Denken – aber mit Mass

Nun müssen wir uns aber noch mit dem richtigen Mass an kritischem Denken befassen, das nicht einfach zu finden ist. Kritik ist wichtig und ihre Rolle in den Wissenschaften und in Diskussionen ist kaum zu überschätzen. Ich möchte hier jedoch eine Anregung aufnehmen, die Jürgen Alt in seinem Buch, „Das Abenteuer der Erkenntnis – eine kleine Geschichte des Wissens“ (2002),  gemacht hat. Auch Jürgen Alt betont die Wichtigkeit der Kritik, empfiehlt aber auch, die kritische Haltung nicht zu übertreiben:

„Viele Leute verbauen sich Lernprozesse dadurch, dass sie zu empfindlich auf Schwächen und Fehler in Texten reagieren. Was andere schreiben und sagen, sollten wir mit einer gewissen Grosszügigkeit aufnehmen, sofern wir vorhaben, uns damit auseinanderzusetzen. Lesen Sie also wohlwollend. Bevor wir zu kritisieren beginnen, müssen wir ja wissen, worauf genau sich unsere Kritik zu richten hat. Deshalb sollten Sie auch einmal fragen: Was könnte an der Argumentation stimmen? Was kann ich daraus lernen? Versuchen Sie gelegentlich, eine These, der Sie skeptisch oder ablehnend gegenüberstehen, stärker zu machen – durch Umformulierungen oder kleine Korrekturen. Beissen Sie sich also nicht an jeder Schwäche in einem Buch fest. Sie kommen sonst über die ersten fünf Seiten kaum hinaus. Beim Lesen stellen Sie fest, dass eine Autorin die Meinung eines Kollegen nicht richtig wiedergibt – das sollten Sie zwar registrieren, aber ohne lange damit zu hadern. Es sei denn, Sie arbeiten gerade an einem Problem, wo dieser Fehler eine Rolle spielt, oder Sie schreiben einen Aufsatz über nachlässiges Zitieren. Ein Autor schreibt umständlich, zuweilen unklar. Das ist bestimmt eine Schwäche. Trotzdem kann es sich lohnen weiterzulesen. Lernbereites Lesen und Zuhören ist die Kompetenz, Thesen und Einwände anderer souverän zur Kenntnis zu nehmen – und sie dann bei Bedarf auch zu kritisieren.“

Kritisches Denken – und seine Gegensätze

Wir haben uns bis zu diesem Punkt mit Merkmalen kritischen Denkens befasst. Aber auch hier wird das Bild noch klarer, wenn wir es mit Denkstilen vergleichen, die dem kritischen Denken entgegengesetzt sind.

Ein Gegensatz zu kritischem Denken ist das unkritische Denken. Damit haben wir uns schon befasst. Man kann aber noch zwei spezielle Varianten unkritischen Denkens festmachen, die einer genaueren Betrachtung Wert sind: Den Dogmatismus und den Relativismus.

Der Dogmatismus (Ausschliesslichkeit) kennt nur eine gültige Wahrheit, eine Interpretation, eine Meinung, ein höchster Wert. Weil quasi alles nur einfach vorliegt, schon im vorneherein bekannt und für ewig gültig ist, entfällt im Dogmatismus jede Unterscheidung und jede Prüfung. Unterscheiden kann ich nur, wenn verschiedenes vorliegt. Prüfen muss ich nur, wenn das Ergebnis nicht schon feststeht. So ist Kritik im Dogmatismus unnötig und sogar unerwünscht, weil sie das dogmatische Gebäude grundsätzlich in Frage stellt. Der Dogmatismus ist dadurch  lernimmun bzw. lernunfähig und lernunwillig – er weiss ja schon (seiner Überzeugung nach).

Der Relativismus (Beliebigkeit, Gleichgültigkeit) geht davon aus, dass alle Werte, Interpretationen, Meinungen gleich-gültig sind. Für den Relativismus gibt es keine Wahrheit und vor allem auch keine Aussagen, die näher oder weiter weg von der Wahrheit sind. Hier steht alles quasi wie in einem grossen Lagerhaus auf der gleichen Ebene beziehungslos nebeneinander. Kritik ist hier unnötig oder sogar unsinnig. Wenn alles gleich wahr und gleich viel wert ist – wozu braucht es dann Unterscheidungen und Prüfungen? Auch der Relativismus ist lernimmun. Er vermeidet die Auseinandersetzung mit sich und der Welt.

Relativismus und Dogmatismus vertragen beide die Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Spannungen nicht, die daraus entstehen, dass es keine Letztbegründungen und keine absoluten Werte gibt.

Beide vermeiden die gedankliche Anstrengung, die mit kritischem Denken verbunden ist. Sie verpassen damit aber auch erstens die Befriedigung, die daraus entspringt, wenn man nach sorgfältigem Prüfen und Unterscheiden einen eigenen Standpunkt einnimmt in der Welt, und zweitens die Impulse und Anregungen für die eigene Entwicklung, die aus dieser Auseinandersetzung zu gewinnen sind.

Mehr zum Thema Relativismus und Dogmatismus und wie man diese beiden Extremformen auf der Gesprächsebene überwinden kann, finden Sie in meinem Text:

Demokratie braucht eine diskursive Gesprächskultur – verteidigen wir sie!

Literatur:

Ralph Schumacherr, John Stuart Mill, Junius 1994

Xuewu Gu, Kofuzius, Junius 2002

Mary A. Miller / Dorothy E. Babcock, Kritisches Denken in der Pflege, Huber Verlag 2000

Jürgen Alt, Das Abenteuer der Erkenntnis, C. H. Beck Verlag 2002

Autor dieses Essays:

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde am Seminar für Integrative Phytotherapie in Winterthur (Schweiz) und Leiter von Kräuterwanderungen und Kräuterkursen.

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