Die „Weltwoche“ veröffentlichte am 4. 11. 2010 online einen Artikel unter dem Titel „’Mission impossible’ bei der Komplementärmedizin“. Autor Alex Reichmuth schreibt:
„ Die Bundesverwaltung muss entscheiden, wie weit alternative Heilmethoden in der Grundversicherung berücksichtigt werden. Sie steht vor einem unerfüllbaren Auftrag.“
Das sehe ich genau so. Weiter schreibt die „Weltwoche“:
„Die Verantwortlichen beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind nicht zu beneiden. Im letzten Jahr hat das Stimmvolk mit 67 Prozent Ja entschieden, dass fünf alternative Heilmethoden im Gesundheitswesen stärker berücksichtigt werden sollen. Bis Ende Jahr muss das BAG nun entscheiden, ob und wie weit die Leistungen der Homöopathie, der Neuraltherapie, der Phytotherapie, der anthroposophischen Medizin und der traditionellen chinesischen Medizin Aufnahme in die Krankengrundversicherung finden. Das Problem dabei ist, dass die Wirkung von Leistungen, die die Krankenkasse übernimmt, nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein muss. So verlangt es das Gesetz.“
BAG
Wie wahr. Das BAG ist tatsächlich nicht zu beneiden, denn es steht massiv unter Druck und befindet sich in einem kaum lösbaren Dilemma.
Druck kommt von diesem Volksentscheid im Mai 2009, bei dem 67 % der Stimmenden für einen Verfassungsartikel zur Förderung der Komplementärmedizin votierten. Der Verfassungsartikel ist zwar vage formuliert. Er verlangt eine Berücksichtigung der Komplementärmedizin durch Bund und Kantone und sagt nichts über konkrete Methoden aus. Doch die Befürworter der Vorlage im Parlament versprachen, dass bei einem JA die fünf Methoden wieder in die Grundversicherung aufgenommen würden. Und sie blendeten dabei einfach aus, dass das Krankenversicherungsgesetz auch weiterhin „Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit (WZW)“ als Bedingung für eine Aufnahme in die Grundversicherung fordert.
Genauer gesagt: Sie gingen wohl fraglos davon aus, dass die fünf Methoden diese Kriterien erfüllen, was ziemlich naiv ist. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wurden meiner Ansicht nach hier in die Irre geführt.
Krankenkassen
Dazu kommt noch, dass die Stimmenden nur marginalst über die Thematik im Bilde waren. Die meisten Leute, die ich gefragt habe, gingen davon aus, dass es bei der Abstimmung darum gehe, dass Medikamente beispielsweise der Homöopathie und der Anthroposophischen Medizin von den Krankenkassen bezahlt würden. Dabei werden diese Präparate schon seit 1996 von der Grundversicherung bezahlt – und zwar befreit vom Wirkungsnachweis und ohne ersichtliche gesetzliche Grundlage. Ganz abgesehen davon, dass viele Leute kaum den Unterschied zwischen einem Kamillentee und einem Homöopathikum kennen…….
Unter Druck kommt das BAG auch aus dem Parlament. Hier kommt die andauernde Forderung nach pauschaler Aufnahme dieser fünf Komplementärmedizin-Methoden, wieder unter Ausblendung der Tatsache, dass die vom Gesetz geforderte Wirksamkeit keineswegs so pauschal feststeht. Würde das Parlament seine Verantwortung wahrnehmen, dann würde es statt in populistische Rhetorik zu verfallen das Krankenversicherungsgesetz ändern und das Kriterium „Wirksamkeit“ streichen – und nicht den Schwarzen Peter einfach ans BAG weiterreichen. Die Parlamentsmehrheit reitet meines Erachtens auf einer Populismuswelle: Das “Volk“ will Komplementärmedizin. also geben wir ihm, was es wünscht. Dabei geht jede differenzierte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema unter.
Die „Weltwoche“ schreibt in ihrem Artikel:
„ Die Unterscheidung in Schulmedizin und Komplementärmedizin ist im Grunde eine einfache: Alles, was auf Wissenschaftlichkeit beruht, zählt zur Schulmedizin. Wo es hingegen nur um behauptete Wirkungen geht, die wissenschaftlich nicht belegt sind, handelt es sich um Komplementärmedizin. Die Wirksamkeit der Homöopathie beispielsweise kann wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden. Aufgrund des Konzepts der Homöopathie ist auch nicht zu erwarten, dass je eine Wirksamkeit belegt werden kann, die über den Placeboeffekt hinausgeht. Damit komplementär-medizinische Leistungen in den Grundversicherungskatalog kommen, müsste somit die Wirksamkeit von Methoden nachgewiesen werden, die wissenschaftlich eben nicht nachweisbar sind.“
Auch wenn das viele Leute, die der Komplementärmedizin nahestehen, nicht gerne hören: Alex Reichmuth bringt hier das Problem absolut auf den Punkt. Ich würde einzig die Verwendung des Begriffs „Schulmedizin“ in Frage stellen. Dieser diffamierende Kampfbegriff aus Homöopathie und Nationalsozialismus sollte meines Erachtens nicht mehr verwendet werden oder allenfalls noch zwischen Anführungs- und Schlusszeichen. Siehe dazu:
Schulmedizin – ein fragwürdiger Ausdruck
Was kann das BAG tun?
„ Das Bundesamt für Gesundheit hat in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Es hält sich an das Gesetz und lehnt die Aufnahme alternativer Heilmethoden in die Grundversicherung vollumfänglich ab. Damit handelt es aber gegen den Volkswillen. Oder es respektiert den Volkswillen und nimmt die fünf Methoden auf. Das ist aber gegen das Gesetz und damit illegal.“
Das sehe ich etwas anders. Es gibt durchaus einen grösseren Bereich in der Phytotherapie, der wissenschaftlich anerkannt ist und das Kriterium der Wirksamkeit erfüllt. Nicht ganz ohne Grund gehen (unbestätigte) Gerüchte um, wonach die Phytotherapie für eine Aufnahme in die Grundversicherung vorgesehen sei. Der Clou dabei ist allerdings:
1. Fachlich gibt es meines Erachtens kaum Gründe, Phytotherapie zur Komplementärmedizin zu zählen. Dass Phytotherapie in diesem Fünfer-Päckli als Komplementärmethode auftaucht, scheint mir Folge von cleverem Lobbying im Hinblick auf die Abstimmung vom Mai 2009. Siehe dazu:
Gehört Phytotherapie zur Komplementärmedizin?
2. Sehr fraglich ist, was die Aufnahme der Phytotherapie in die Grundversicherung bringen würde. Kaum ein Arzt oder eine Ärztin wird Phytotherapie als Methode abrechnen. Üblich wird weiterhin sein: Es wird eine normale ärztliche Anamnese und Diagnostik gemacht, und am Schluss steht ein Entscheid, statt eines synthetischen Medikamentes ein Phytotherapeutikum zu verschreiben. Phytopharmaka, deren Wirkung durch Studien belegt ist, werden auch heute schon durch die Grundversicherung bezahlt (im Gegensatz zu den vom Wirksamkeitsnachweis befreiten Präparaten aus Homöopathie und Anthroposophischer Medizin, die wie schon erwähnt ohne Wirksamkeitsnachweis bezahlt werden). Also wird da kaum etwas ändern.
Allenfalls profitiert die Phytotherapie beim Image, wenn sie in die Grundversicherung aufgenommen wird. Und es gibt möglicherweise den einen oder anderen Professorenposten für Vertreter der akademischen Phytotherapie.
Die Homöopathie zum Beispiel würde von einer Aufnahme in die Grundversicherung profitieren, weil ihre langen Gespräche unter dem Titel „Homöopathie“ dann abgerechnet werden könnten. Da wäre mein Vorschlag aber, dass allen Ärztinnen und Ärzten eine solche Gesprächszeitspanne zugestanden und bezahlt wird. Dann hätten nämlich alle gleich lange Spiesse und als Patient kann ich dann wählen, ob ich diese Gesprächszeit zum Beispiel für Homöopathie, Information oder psycho-soziale Beratung einsetzen will. Dass mehr Zeit für Gespräch, Beratung und Information sich günstig auf die Behandlung und den Therapieerfolg auswirkt, scheint mir jedenfalls gut belegt.
Bundesverwaltung
„ Konsequenterweise müsste die Bundesverwaltung den unerfüllbaren Auftrag, über die Aufnahme der fünf alternativen Heilmethoden zu entscheiden, dem Bundesrat zurückgeben. Wäre auch der Bundesrat konsequent, müsste dieser das Parlament anschliessend beauftragen, den wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit aus dem Gesetz zu streichen, um dem Volkswillen nachkommen zu können. In Zukunft wäre Wissenschaftlichkeit bei der Krankengrundversicherung somit kein Kriterium mehr.“
Dann hätten wir statt WZW neu BZW (Beliebtheit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit).
„ Auch Anbieter von allerlei Voodoomedizin hätten die Chance, bald von der Kasse bezahlt zu werden: vom Handaufleger über den Geistheiler bis zu Uriella mit ihrem Badewasser. Würden diese Konsequenzen offen und transparent kommuniziert, gäbe es wohl einen grossen – und heilsamen – Aufschrei: Die Öffentlichkeit würde erkennen, welch unsinniger Volksentscheid 2009 getroffen wurde.“
So krasse Beispiele wie Uriella’s Badewasser würde ich hier zwar nicht wählen. Aber tendenziell sehe ich diesen Punkt sehr ähnlich. Wir hätten dann BZW im Sinne von: Beliebigkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit.
Die Frage ist wirklich und sehr ernsthaft: Welche Kriterien haben wir für die Aufnahme in die Grundversicherung, wenn wissenschaftlich geklärte Wirksamkeit wegfällt.
Nebelbegriff Alltagswirksamkeit
Das BAG in seinem heillosen Dilemma möchte nun „Alltagswirksamkeit“ als Kriterium einführen.
(http://www.news.admin.ch/dokumentation/00002/00015/?lang=de&msg-id=32878)
„Alltagswirksamkeit“ ist nun genau ein solches Beliebigkeits-Kriterium. Für mich ist im Alltag Pilates wirksam. Warum soll – wenn Alltagswirksamkeit Kriterium ist – meine Pilates-Lektion nicht auch aus der Grundversicherung bezahlt werden?
Eine sehr prägnante Stellungnahme zum Kriterium „Alltagswirksamkeit“ findet sich auf der Website der Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte (SGV):
„Im Sumpf methodischer Ungewissheiten pflegen seltsame Pflanzen Blüten zu treiben. In deren ästhetischer Hitliste darf zweifelsohne der neue Begriff der ‚Alltagswirksamkeit’ aus dem Hause BAG den ersten Platz beanspruchen. Abgesehen davon, dass er zu sarkastischen Fragen wie ‚Fallen Sonntage und allgemeine Feiertage auch unter den Begriff?’ oder ‚Sind Tage mit extremen klimatischen Bedingungen auch als Alltag einzustufen?’ provoziert, wird hier irreversibel der Abstieg des Diskurses in die massenmediale Blödelei vollzogen, wo sich nicht wenige Gesundheitspolitiker wohlig tummeln. Womit angedeutet ist, welcher faktische Schaden durch solches Nebelgranatenschiessen bewirkt werden kann.“
(Quelle: http://www.vertrauensaerzte.ch/manual/chapter41.html )
BAG Stellungnahme
Bisher ist es mir nicht gelungen, vom BAG eine Stellungnahme zu bekommen dazu, wie denn diese Alltagswirksamkeit festgestellt werden soll. Ich bleibe aber dran.
Ich bin ja sehr gespannt, wie dieses Dilemma gelöst oder umgangen wird. Die Probleme, die bei der Umsetzung dieses Verfassungsartikels noch auf uns zu kommen werden, haben vor allem damit zu tun, dass schon im Vorfeld dieser Abstimmung sehr einseitig informiert wurde und Wunschdenken die Stellungnahmen beherrschte.
Verschärft werden die Probleme dadurch, dass im Parlament beim Thema Komplementärmedizin Anhängerinnen und Anhänger von Homöopathie und Anthroposopischer Medizin federführend sind. Eine kritische Reflexion auch über die Schwachpunkte dieser Methoden ist hier nicht erkennbar. Der überwiegende Teil der Parlamentarierinnen und Parlamentarier hat aber keinen Schimmer von den Methoden, um welche es da geht – und surft einfach auf der Populismuswelle.
Quelle:
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch