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Die fragwürdige Rede vom „Wesen der Pflanzen“

Philosophisches

Avatar-FotoMartin Koradi06.05.2011

In der Pflanzenheilkunde stösst man seit einigen Jahren immer wieder auf ein angebliches „Wesen der Pflanzen“, das zu erkennen für die Heilwirkung bedeutsam sein.

Die Rede vom „Wesen der Pflanze“, von „wesenhaften Urtinkturen“ etc. ist meines Ansicht nach sehr unreflektiert und hoch fragwürdig. Um die problematischen Aspekte dieser Theorie zu verstehen, braucht es allerdings eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Wesens“.

„Auch wenn wir uns heute schwer tun, noch daran zu glauben, dass die Welt, so wie sie ist, zum allerbesten eingerichtet sei, handeln wir doch immer noch oft so, als habe sie gar keinen anderen Zweck als uns mit dem auszustatten, was wir zum Leben und zum guten Leben (oder dem, was wir dafür halten) brauchen. Zwar mag nicht alles gut sein in der Welt, aber das, was darin gut ist, ist doch allein deshalb gut, weil es für uns gut ist. Wir behandelt es so, als sei es für uns gemacht, so als wären wir die rechtmässigen Besitzer der gesamten nichtmenschlichen Umwelt. Die Bäume sind nur dazu da, uns Sauerstoff zum Atmen zu spenden (und natürlich auch Bücher aus ihnen zu drucken), andere Pflanzen und Tiere, um uns zu ernähren und uns zu kleiden usw. …..

Aristoteles

Schon Aristoteles hatte in der Politik ähnliches behauptet, nämlich „dass die Pflanzen der Tiere wegen und die Tiere des Menschen wegen da sind, die zahmen zur Dienstleistung und Nahrung, die wilden, wenn nicht alle, so doch die meisten, zur Nahrung und zu sonstiger Hilfe, um Kleidung und Gerätschaften von ihnen zu gewinnen.“ Die Ontologie und Naturphilosophie des Aristoteles aber spricht eine ganz andere Sprache. Hier wird sorgfältig zwischen Artefakten, also von Menschen hergestellten Dingen, und Naturprodukten und insbesondere Lebewesen, unterschieden. Zum Wesen beider gehört die Zweckbestimmung, aber nur für die Artefakte gilt, dass ihr Zweck ihnen äusserlich ist. Sie sind tatsächlich für etwas da, für etwas gut, und zwar für etwas anderes. Ein Messer etwa ist zum Schneiden da. Darin erfüllt sich sein Zweck und zugleich sein Wesen: Es ist ein zum Schneiden bestimmtes Ding. Lebewesen hingegen haben ihren Zweck in sich selbst. Ihre Beschaffenheit dient nicht einem anderen, sondern ihrem eigenen Überleben und Wohl. Sie sind ihrem Wesen nach nicht „für etwas“ gut, sondern allein sich selbst ein Gut.“

Michael Hauskeller, Philosoph, in: Mögliche Welten, Beck Verlag 2006

Kommentar & Ergänzung: esoterisch angehauchten Pflanzenheilkunde

Fatalerweise gibt es auch in einer esoterisch angehauchten Pflanzenheilkunde die Ansicht, dass die Heilpflanzen für uns da sind. Heilpflanzen haben dann nicht ihren Zweck in sich selbst. Ganz im Gegenteil ist es ihr Zweck und ihr Wesen, uns zu heilen. Auch die Beschaffenheit der Pflanzen dient in dieser Sichtweise nicht in erster Linie ihrem eigenen Überleben und Wohl: Formen und Farben gelten als Signaturen, die uns mitteilen, wofür die Pflanze für uns gut ist.

Diese Vorstellungen stellen den Menschen stark ins Zentrum der „Veranstaltung Natur“. Die Heilpflanzen jedenfalls werden hier in ihrem Wesen und in ihrer Beschaffenheit ganz auf den Menschen ausgerichtet gesehen.

So solle es dann beispielsweise tatsächlich das Wesen des Gänseblümchens sein, die Folgen einer Versehrung, einer physischen oder psychischen Gewaltanwendung zu lindern. Das heisst: Der Kern der Existenz des Gänseblümchens soll darin liegen, uns zu heilen von Gewaltanwendung. Es geht im „Wesen“ also nicht um das Gänseblümchen. Es geht exklusiv um uns. Eine ausgesprochen hochmütige Angelegenheit.

Hauskeller beschreibt diese anthropozentrische Position präzis und plädiert für die Einsicht, dass uns diese Position nicht zusteht. Damit verbindet er die Hoffnung, dass unser Blick frei wird………

„…für eine andere Art von Schönheit, eine Schönheit, die nichts mehr mit dem Nutzen zu tun hat, den die Gegenstände der Natur für uns haben, sondern gerade im Gegenteil aus ihrer Nutzlosigkeit entspringt, aus dem Umstand, dass sie ihrer Wesensbestimmung nach nur für sich da sind und allenfalls zufällig, aufgrund gänzlich kontingenter (= zufälliger, M.K.) Umstände, auch für uns.“

Michael Hauskeller, Philosoph, in: Mögliche Welten, Beck Verlag 2006

Kommentar & Ergänzung: Heilpflanzen und ihr Wesen

Die Vorstellung, dass Heilpflanzen ihrem Wesen nach für uns da sind, uns durch Farben und Formen mitteilen, wofür sie gut sind, spricht offensichtlich viele Menschen an. Wie schön: wir sind persönlich gemeint. Hier kümmert sich jemand um uns, ohne eigene Ansprüche und Erwartungen zu hegen. Aus dieser Sichtweise ergibt sich meines Erachtens eine ziemlich eigenartige Beziehung zu den Pflanzen.

Erstens ist es sehr einfach, jemanden zu lieben, der fraglos und ohne eigene Ansprüche für mich da ist. Ich plädiere im Gegensatz dazu für den Versuch, mit den Pflanzen eine Art von Beziehung zu finden auch mit dem Wissen, dass sie sich von sich aus nicht um uns kümmern und dass wir ihnen wohl ziemlich egal sind. Das ist eine anspruchsvollere, aber vermutlich auch reifere Art der Beziehung.

Denn zweitens ist die Vorstellung, dass sich da fraglos und ohne eigene Ansprüche jemand um mich kümmert, am ehesten noch für ein Kleinkind angemessen. In diesem Alter brauchen wir Eltern, die auf unsere Bedürfnisse eingehen, und die eigenen ein Stück weit zurückstellen. Auch schwer erkrankten Menschen können solche Vorstellungen möglicherweise gut tun. Aber als generelle Haltung den Heilpflanzen gegenüber scheint mir dies ziemlich fragwürdig.

Betrachten wir doch die Natur

Betrachten wir doch die Natur – wie Michael Hauskeller es anregt – weniger aus dem Blickwinkel des Nutzens für uns. Auf die Heilkräuter übertragen: Wir sollten meines Erachtens die schöne, aber ziemlich narzisstische und anthropozentrische Vorstellung, dass die Heilpflanzen mit ihren Kräften, Farben, Formen und mit ihrem Wesen auf uns gerichtet sind, zur Seite stellen. Und dann offen sein für eine Begegnung mit den Pflanzen jenseits dieser menschlichen Selbstüberschätzung…..

Wer nämlich die Wesensbestimmung der Heilpflanzen darin sieht, dass sie zu unserer Heilung da sind, der behandelt sie wie einen Artefakt, wie einen Gegenstand, der fremdem Zweck und Wesen unterliegt, und nicht wie ein Lebewesen, dessen Zweck ausschliesslich in ihm selber gründet.

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

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