Die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) ist eine eindrückliche Persönlichkeit, die sich neben kirchlich-religiösen und politischen Fragen auch mit der Heilkunde befasst hat. In den letzten Jahren ist eine eigentliche Hildegard-Medizin entstanden, die sich angeblich nach den Ratschlägen und Regeln der Hildegard von Bingen richtet.
„Hildegard-Medizin“ hat wenig mit Hildegard von Bingen zu tun
Fachleute wie der Medizinhistoriker Johannes Gottfried Mayer sehen das durchaus kritisch. Lange nicht überall, wo Hildegard drauf steht, ist auch Hildegard drin. Das Portal katholisch.de hat mit Mayer ein Interview geführt.
Im Gespräch kommt die Rede zum Beispiel auch auf die Dinkelbackrezepte nach Hildegard, die im Umlauf sind. Mayer sagt dazu:
„Hildegard von Bingen hat kein einziges Backrezept mit Dinkel verfasst. Sie lobt in ihren naturkundlichen Schriften zwar diese Getreidesorte, weil sie gesund sei und ein frohes Gemüt verschaffe, aber sie gibt keine Tipps für die Zubereitung von Speisen. Im Gegenteil. Wenn Hildegard ein Rezept empfiehlt, dann betrifft dies immer die Heilwirkung einer Pflanze. Alles andere, also sämtliche Kochbücher und Backbücher nach Hildegard sind eine reine Erfindung der Neuzeit.“
Mayer wird dann gefragt, ob es spezielle Hildegard-Kräuter gebe.
Antwort:
„Ja, das sind Kräuter, die vor ihrer Zeit in ihrer Heilwirkung noch nicht erwähnt oder entdeckt waren, aber in ihren heilkundlichen Werken eine bedeutende Rolle spielen. Hildegard von Bingen war zum Beispiel die erste, die die Ringelblume nennt und konkrete Anwendungen auf der Haut festlegt. Und sie nennt auch ein Wundkraut, das aus heutiger Sicht die Arnika sein könnte……………………Fenchel ist eines ihrer Lieblingskräuter. Auch hier nennt sie konkrete Rezepte für medizinische Anwendungen. Erstaunlich ist auch, dass sie asiatische Gewürzpflanzen kennt wie Ingwer, Muskatnuss oder Galgant. Das sind auch sogenannte Hildegard-Kräuter, aber keine Entdeckung von Hildegard selbst. Berühmt ist aber ihre Gewürztherapie mit Galgant für eine bessere Verdauung.“
Die Überlieferungen der traditionellen Pflanzenheilkunde und auch der Klostermedizin sind für die heutige Phytotherapie wichtig als Inspiration. Mayer legt aber auch zu Recht Wert darauf, dass man sich mit der Tradition kritisch auseinandersetzen muss. Es brauche Umsicht in der Bewertung der Anwendungen Hildegard von Bingens.
Es gibt in diesem Fundus Wert- und Sinnvolles, wie die Anwendung von Ringelblume bei Wunden. Es gibt aber auch Irrtümer und aus heutiger Sicht schlicht Unbrauchbares.
Der Medizinhistoriker Johannes Gottfried Mayer sagt dazu:
„Man kann vieles aus Hildegards Heilkunde nachmachen, aber es ist auch Vorsicht geboten. Zum Beispiel empfiehlt Hildegard bei Epilepsie eine Handvoll Maiglöckchen zu essen. Das geht gar nicht, denn damit würde man sich selbst vergiften.“
Quelle der Zitate:
https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/krauterkunde-nach-hildegard-heilsam-bis-giftig
Kommentar & Ergänzung:
Der Medizinhistoriker Johannes Gottfried Mayer ist ein Experte für die Klostermedizin. Er lehrt am Institut für Medizingeschichte der Universität Würzburg und leitet als Geschäftsführer die Forschergruppe Klostermedizin.
Mir fällt immer wieder auf, dass es im Umfeld der „Hildegard-Medizin“ viele Anhängerinnen und Anhänger gibt, die jedes Wort und jeden Rat der Hildegard von Bingen als absolute Wahrheit auffassen. Das ist meines Erachtens fragwürdig und es ist eine offene Frage, ob Hildegard das so gewollt hätte.
Tradition braucht nicht gedankenloses Nachplappern, sondern eine interessiert-kritische, sorgfältige Auseinandersetzung. Dazu gehört auch, dass man sich um ein Verständnis bemüht über den geschichtlichen Kontext, aus dem ein alter Text stammt. Man muss eine Idee davon haben, in welchem Menschenbild und Weltbild eine Person wie Hildegard von Bingen gelebt hat, um Texte einordnen zu können.
Siehe auch:
Komplementärmedizin: Hat Tradition Recht?
Es gehört zu den interessanten und anregenden Aspekten der Phytotherapie, dass sie einen Bogen schlägt durch die Geschichte der Menschheit bis zu den modernen Erkenntnissen der Arzneipflanzenforschung.
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