„Über wirksamere Methoden verfügen Naturheilkundler wohl nicht. Was sie der Schulmedizin voraushaben: Sie hören zu, fassen ihre Patienten mehr an und widmen ihnen viel Zeit,“ schreibt Prof. Edzard Ernst im der Zeitschrift „Stern“.
Die Aussage, dass Naturheilkundler wohl nicht über wirksame Methoden verfügen, ist mir etwas gar pauschal. Hier wäre in erster Linie eine genaue Definition von „Naturheilkunde“ gefragt.
Siehe:
Zählt man nämlich zur Naturheilkunde beispielsweise die 5 Säulen nach Sebastian Kneipp – Hydrotherapie, Ernährung, Bewegung, Phytotherapie, Lebensordnung – dann findet man darin durchaus Anwendungen, die sich auch wissenschaftlich erklären und belegen lassen. Edzard Ernst selber hat sich immer wieder positiv zu verschiedenen Forschungen in der Phytotherapie geäussert. Wahrscheinlich meint er mit seiner Aussage im Stern mehr den viel unübersichtlicheren, sehr heterogenen Bereich der Komplementärmedizin.
Siehe: Komplementärmedizin – ein fragwürdiger Begriff
Sehr interessant am Text von Ernst ist seine Ansicht dazu, was Naturheilkundler der Schulmedizin voraus haben:
Sie hören zu, fassen ihre Patienten mehr an und widmen ihnen viel Zeit.
Darüber lohnt es sich meines Erachtens vertieft nachzudenken.
Hier eine bearbeitete Zusammenfassung des Textes mit anschliessendem Kommentar:
Rund zwei Drittel aller Deutschen schätzen komplementärmedizinische Therapieverfahren. Dies obwohl die konventionelle Medizin heute effektiver ist als je zuvor – und die Wirksamkeit der meisten Alternativmethoden alles andere als gut belegt. Dass Komplementärmedizin dennoch so beliebt ist, führen Fachleute darauf zurück, wie ihre Vertreter mit Patienten umgehen.
Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass die Beziehung von Therapeut und Patient in der Komplementärmedizin in entscheidenden Punkten anders aussieht als in der Schulmedizin. Naturheilkundler nehmen sich beispielweise meist mehr Zeit. Sie hören zu und können dadurch auf die Belange ihrer Patienten besser eingehen. Diese legen viel Wert auf Empathie, Sympathie, Einfühlungsvermögen und Offenheit. Das sind Qualitäten, die im Alltag der konventionellen Praxis leider häufig hintenanstehen.
Hinzu kommt der körperliche Kontakt – ein wenig beforschter Umstand, vermutlich aber von grosser Bedeutung. Schulmediziner berühren ihre Patienten nur noch selten, schreibt Prof. Ernst. Die traditionelle körperliche Untersuchung sei zum Großteil durch Labor- und andere Tests ersetzt worden. Selbst Blutdruckmessungen würden halb automatisch fast ohne Kontakt ablaufen. Im Vergleich dazu gebe es während einer Konsultation beim Manualtherapeuten oder Akupunkteur viel mehr Körperkontakt. Dieser helfe, eine intensive Therapeut-Patient-Beziehung aufzubauen; er beruhige und flöße Vertrauen ein.
Naturheilkunde hilft Kontrolle zu bewahren
Weitere Faktoren seien wahrscheinlich ebenso wichtig: „Patienten wollen ihr gesundheitliches Schicksal nicht aus der Hand geben. Naturheilkundliche Therapien geben viel Gelegenheit, die Kontrolle über die eigene Gesundheit zu bewahren. Kneipp’sches Wassertreten, Tai-Chi oder Yoga involvieren den Patienten zu 100 Prozent, und diese Einbeziehung motiviert ihn.“
Ernst fährt weiter:
„Ein Schulmediziner mag ein Medikament verschreiben. Dem Patienten obliegt es dann lediglich, es regelmäßig einzunehmen. In der Komplementärmedizin wird dagegen meist viel mehr Wert darauf gelegt, dass der Patient Eigenverantwortung übernimmt, etwa regelmäßige Entspannungsübungen absolviert und gesundheitsschädigende Verhaltensweisen unterlässt.“
All das intensiviere die zwischenmenschlichen Interaktionen. Untersuchungen hätten gezeigt, dass dies der Hauptgrund dafür ist, warum Patienten die Komplementärmedizin schätzen: „Viele konsultieren Heilpraktiker und naturheilkundliche Ärzte also nicht wegen deren effektiver Verfahren, sondern wegen der Beziehung, die sie zu den Heilern aufbauen können. Sie fühlen sich verstanden und motiviert, an ihrer eigenen Gesundheit mitzuarbeiten. Die Erkenntnis, dass Komplementärmedizin so beliebt ist, muss deshalb zugleich als deutliche Kritik an der Schulmedizin verstanden werden, die als kalt oder zu technisch empfunden wird.“
Quelle:
http://www.stern.de/gesundheit/alternativmedizin-gefuehlter-vorteil-1537492.html
Kommentar & Ergänzung: Warum Komplementärmedizin?
Meiner Ansicht nach lenkt die Auseinandersetzung Medizin versus Komplementärmedizin und umgekehrt oft von wichtigeren Fragen ab.
Dazu würde beispielsweise gehören:
Welche Medizin wollen wir?
Welche Komplementärmedizin wollen wir?
Die Punkte, die Prof. Edzard Ernst in diesem Interview anspricht, gehören genau in diesen Bereich. Stichworte: Therapeut-Patient-Beziehung, Eigenverantwortung, Zuhören, Ernstnehmen.
Es müsste allerdings auch diskutiert werden, ob eine gute Medizin bzw. Komplementärmedizin wirklich alle diese Bedürfnisse erfüllen muss, die da von den Patientinnen und Patienten an sie herangetragen werden.
Es gibt meines Erachtens nämlich auch eine ganze Menge von Erwartungen und Ansprüchen, die gar nicht erfüllt werden können. Zum Beispiel ist in manchen Fällen Heilung einfach nicht möglich (jedenfalls beim gegenwärtigen Wissensstand). Damit finden wir uns aber heute kaum mehr so einfach ab. Aus Sicht der Betroffenen ist es zwar verständlich, nach Heilung zu suchen.
Auf dem Hintergrund eines riesigen medizinischen und komplementärmedizinischen Angebotes kann sich aus diesem Suchen nach Heilung aber auch eine endlose Patientenkarriere entwickeln. Und in manchen Fällen geht dafür viel Geld, Zeit und Kraft verloren, die vielleicht sinnvoller dafür verwendet würden, um mit der Krankheit eine möglichst gute Lebensqualität zu erreichen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch