Der „Tages-Anzeiger“ veröffentlichte am 11. August 2010 ein Interview mit der ehemaligen Regierungsrätin Rita Fuhrer, die nach einer Krebserkrankung auf dem Weg der Genesung ist. In diesem Gespräch gibt es eine Passage, die mir für den Umgang mit Krankheit sehr bedenkenswert scheint. Der Interviewer fragt:
„Gibt es auch Reaktionen, die Sie stören?“ – Darauf Rita Fuhrer: „Anfangs schon. Viele sagten mir: Du schaffst das. Sie bekommen das in den Griff, Frau Fuhrer. Ich hätte wohl früher auch so reagiert. Aber jetzt, wo ich selber krank bin, haben mir solche ‚Aufmunterungen’ das Gefühl gegeben, allein für meine Genesung verantwortlich zu sein. Ich war sehr verunsichert und hoffte auf Hilfe von meinen Bekannten und natürlich von der Medizin. Ich fand es viel wohltuender, wenn mir jemand sagte, Frau Fuhrer, ich denke an Sie.“
Diese Aussage zeigt deutlich den heiklen Punkt solcher gut gemeinter „Aufmunterungen“. Sie kommen oft eher als Distanzierung an. Ich glaube, dass sich die „Aufmunterer“ damit ein Stück weit den Schrecken einer schlimmen Krankheit wie Krebs vom Leibe halten. Die Aussage, „Sie bekommen das in den Griff, Frau Fuhrer“, impliziert ja auch, dass man das in den Griff bekommen kann, also auch der „Aufmunterer“ selber, sollte es ihn oder sie ebenfalls treffen. Das ist eine Illusion, weil Menschen fragile Wesen sind und krankheitsanfällig. Manches gesundheitliche Problem bekommen wir zwar in den Griff, andere aber leider ganz und gar nicht.
Das macht Angst
Und es sind Ohnmachtserfahrungen, wenn wir plötzlich wie aus heiterem Himmel von einer schweren Krankheit befallen zu werden. Mit Aussagen wie „Sie bekommen das in den Griff, Frau Fuhrer“, wehrt man solche eigenen Ängste und Ohnmachtsgefühle ab. Damit verbunden ist meines Erachtens auch eine subtile Verabschiedung aus der mitmenschlichen Solidarität mit den Kranken, die auf der Basis einer gemeinsamen Fragilität und Gefährdung aller Menschen steht. Krebs zum Beispiel könnte Jeden und Jede treffen – das macht nicht nur Angst, es verbindet auch.
„Frau Fuhrer, ich denke an Sie“ – diese Aussage schafft dagegen Kontakt und verbindet die beteiligten Menschen.
Es scheint mir sehr wichtig, dass wir im Umgang mit Krankheit und kranken Menschen auf solche mehr oder weniger subtilen Distanzierungen achten – und wo immer möglich statt dessen kontaktreich reagieren.
Subtile Distanzierungen
Auf mehr oder weniger subtile Distanzierungen treffe ich auch immer wieder im Bereich Komplementärmedizin. Zum Beispiel in Form der Vorstellung, dass alle Krankheiten psychisch bedingt sind, und dass wer gesund werden will, es nur wollen muss. Dem zugrunde liegt die Vorstellung, dass wir das Steuer betreffend Gesundheit und Krankheit in uns selber tragen in Form der richtigen Einstellung, dem richtigen Willen etc.
Auch diese Vorstellung verschliesst die Augen vor der menschlichen Fragilität und lindert Angst und Ohnmacht, die mit dem Ausgeliefert sein an unkontrollierbare Krankheitsprozesse verbunden sind. Diese Verdrängung kostet aber ihren Preis. Zwar werden möglicherweise Angst und Ohnmachtsgefühle vermindert, doch steht dafür oft das Thema Schuld im Raum. Wer krank bleibt, weil er es nicht schafft, richtig zu denken und gesund werden zu wollen, macht etwas falsch. An diesem Punkt kippt diese Vorstellung nicht selten ins Menschenverachtende und in eine nur schwer erträgliche Arroganz gegenüber chronisch kranken Menschen. Aber die illusionäre Vorstellung, man könne jede Krankheit mit der richtigen Einstellung besiegen, ist halt zu verlockend.
Wichtig scheint mir jedoch vor allem, dass wir die damit verbundene Distanzierung von chronisch Kranken und die Entsolidarisierung sehen. Dass solche höchst einseitigen Vorstellungen dann manchmal gar noch als „ganzheitlich“ dargestellt werden, ist sehr skurril. Wenn alle Ursachen von Krankheiten ausschliesslich in der Psyche gesehen werden, dann ist dies ausgesprochen reduktionistisch: Die körperliche Basis des Menschen als Quelle von Krankheit? Ausgeblendet! Kommt nicht vor. Hier zeigt sich die altüberlieferte Körperfeindlichkeit in „neu-esoterischem“ Gewand. Aber ja, mit unserer materiell-körperlichen Seite sind wir unzähligen Gefahren ausgesetzt, während man sich vormachen kann, dass Geist und Psyche alle körperlich-materiellen Hindernisse und Einschränkungen überwinden.
Umweltfaktoren als Ursachen von Krankheiten? Feinstaub? Dieselabgase? – Offenbar kein Thema.
Gene als Ursache für gewisse Anfälligkeiten gegenüber Krankheiten? Offenbar kein Thema.
Soziale Bedingungen als Ursache für Krankheiten? Mangelnde Bildung? Desolate Arbeitsbedingungen? Kein Thema!
Nur deine Psyche, dein Bewusstsein, dein Wille entscheidet über Gesundheit und Krankheit. Mehr Reduktionismus scheint mir kaum möglich.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch