„Freie Erziehung ist immer eine Erziehung zur Kontroverse, wer sein Fach nicht als widersprüchlich gelernt hat, beherrscht es nicht.“
George Bernhard Shaw (1856 – 1950), irischer Dramatiker, Satiriker und Träger des Literaturnobelpreises (1925).
Dieses Zitat des grossen Georg Bernhard Shaw drückt meines Erachtens etwas ganz Wichtiges aus und betrifft alle, die etwas lernen wollen, auch – aber nicht nur – im Bereich Komplementärmedizin / Naturheilkunde / Pflanzenheilkunde.
Bevor ich näher darauf eingehe, möchte ich den Gedanken von Shaw verdeutlichen anhand von Ausführungen, die Norbert Landwehr in seinem Buch „Neue Wege der Wissensvermittlung“ (Sauerländer 1997) im Abschnitt „Kritische Gedanken zum ‚Lehrbuchwissen’“ publiziert hat. Landwehr bezieht sich dabei auf Untersuchungen von Horst Rumpf:
Rumpf zeigt, dass Lehrbuchwissen in der Regel jeweils so dargestellt wird, als ob es sich dabei um abgeschlossene, endgültige und unantastbare Erkenntnisse handeln würde. Lehrbücher stellen Wissen dar als definitives, solides, zuverlässiges Tatsachenwissen, welches von Lernenden „zur Kenntnis genommen“ und wiedergegeben werden soll.
Das erspart den Lernenden Wirrnisse und Zweifel, die sie durchmachen, wenn sie selber nach der Wahrheit suchen. Eine Frage offen lassen, Widersprüche und Lücken aushalten, all das wird den Lernenden nicht zugemutet oder nicht zugetraut. Als einzige Lernaktivität wird von den Lernenden verlangt, den Lehrstoff zur Kenntnis zu nehmen und sich einzuprägen, und zwar gläubig und nicht kritisch.
Nach Landwehr/Rumpf wird dies durch folgende Darstellungsweise erreicht:
„- Der Inhalt beschränkt sich auf das Eindeutige, auf Darstellungen, die keine kritischen Gedanken zu provozieren vermögen. Der Leser ist ausserstande, vom Text aus etwas anderes zu tun als die dargelegten Tatsachen hinzunehmen. Er soll sie sich einprägen; zum kritischen Nachdenken bieten sie keine Handhabe und keinen Ansatzpunkt.
– Das dargestellte Wissen wird befreit von ‚Widerhaken’, an denen kritisches Nachdenken ansetzen könnte. Problematische Tatbestände und Deutungen werden entfernt bzw. ‚entproblematisiert’. Es wird alles verhüllt, wodurch die Fragwürdigkeit von Tatsachenbewertungen und Interpretationen ans Licht kommen könnte. Angeboten werden definitive Tatbestände, die als reproduktionswürdig erscheinen.
– Nichts in den Texten weckt Zweifel über die darin mitgeteilten Tatbestände und Beurteilungen, nichts weist darauf hin, dass u. U. recht kühne Hypothesen und Urteile darin enthalten sind. Die Texte sind offensichtlich nicht von der Position des Nachdenkenden, sondern von der des Wissenden geschrieben, der jetzt sein Wissen knapp, klar, unzweideutig dem Lernenden darbietet. Mögliche Herde des Misstrauens gegenüber dem Lernstoff werden souverän überspielt.
– Das Lehrbuch formuliert nicht die nahe liegenden Einsprüche gegen die aufgestellten Thesen, es drängt in eine und nur in eine Richtung. Nur das, was als Hinweis zugunsten der geäusserten Beurteilung, Interpretation und Meinungsäusserung dient, findet Erwähnung. Mangelnde Schlüssigkeit von Ableitungen wird kaschiert.
Statisch und unbeweglich
– Die dargestellte Sache erscheint statisch und unbeweglich. Weder der Weg zu ihr hin noch der mögliche Weg über sie hinaus kommt im Ernst zur Sprache. Weil weder auf seine Grenzen noch auf seine Vorläufigkeit verwiesen wird, hat sie einen Charakter von Endgültigkeit.
– Der Autor erscheint nicht als menschliches Subjekt, dessen Wissen ihm immer wieder als unfertig, ergänzungsbedürftig, fragwürdig vorkommt. Er erscheint viel eher als die Stimme der Wahrheit selbst. Er schreibt aus der Warte dessen, der im betreffenden Gebiet heimisch ist und von dort aus seine unbezweifelbaren Informationen hinabreicht zu den Lernenden, denen nichts anderes bleibt als die lernende und gläubige Übernahme der Lehrsätze.
Fazit: So, wie das Wissen im Lehrbuch steht, fordert es nichts als Kenntnisnahme und Einprägung. Ein Unterricht aber, der in diesem Sinne definites Wissen vermittelt, läuft Gefahr, die Lernenden mit der Blindheit des Bescheidwissers zu schlagen. Die Lehrpersonen glauben, die „soliden Wissensgrundlagen“ weiterzugeben; tatsächlich aber lähmen sie in den Lernenden die Kräfte, ohne die jedes Wissen totes Kapital und Selbsttäuschung zu werden drohen: nämlich die Denkkräfte des Zweifels, der Skepsis, des Misstrauens ebenso wie die der Kühnheit und der Unverzagtheit (Rumpf 1971).“
Soweit das Zitat aus Landwehr (1997).
Kommentar & Ergänzung: Mehr Kontroverse in Komplementärmedizin, Naturheilkunde, Pflanzenheilkunde!
Die Ausführungen von Landwehr bzw. Rumpf sind wichtig für jeden Lernprozess.
Und sie scheinen mir speziell wichtig für das Lernen im Bereich Komplementärmedizin / Alternativmedizin / Naturheilkunde. Diese Aussage will ich näher begründen.
Es gibt in diesem Terrain „Komplementärmedizin / Alternativmedizin / Naturheilkunde“ meiner Erfahrung nach eine starke Neigung zur „Lagerbildung“:
Hier die gute, menschenfreundliche Naturheilkunde / Komplementärmedizin, dort die schädliche, lebensfeindliche „Schulmedizin“. Das wird manchmal sehr deutlich so gesagt, manchmal ist es eher unterschwellig vorhanden. Das Problem mit dieser Lagerbildung ist: Wer in einem Lagerdenken verhaftet ist, kann im eigenen Lager Widersprüche und Lücken nicht sehen und nicht zulassen. Kritik richtet sich nur auf das Gegenlager, hier auf die „Schulmedizin“. Das eigene Lager wird schön homogen gehalten, rein und widerspruchsfrei.
Bereich der Komplementärmedizin
Dieses Phänomen lässt sich im Bereich der Komplementärmedizin in hohem Masse beobachten, sowohl bei Praktizierenden als auch bei Ausbildungsinstituten. Wer im Lagerdenken verhaftet ist, wird es nicht gerne hören: Das weit verbreitete Ausblenden von Widersprüchen, Lücken und offenen Fragen gefährdet die Qualität in der Komplementärmedizin und die Gesundheit der Patientinnen und Patienten. Achten Sie doch auf dieses Phänomen, wenn Ihnen eine qualitativ hoch stehende Komplementärmedizin am Herzen liegt.
Mir selber ist es ein wichtiges Anliegen, in meinen Ausbildungen oder Kursen im Bereich Phytotherapie / Pflanzenheilkunde die Lücken, Widersprüche und offenen Fragen in diesem Terrain nicht auszublenden. Und obwohl ich natürlich danach strebe, möglichst sorgfältig geprüftes Wissen zu vermitteln, betrachte ich mich nicht als Produzent von unbezweifelbaren Informationen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch