Die österreichische Zeitung „Der Standard“ publizierte vor kurzem einen Beitrag zum Thema „Das grosse Geschäft mit Hildegard von Bingen“.
Der Historiker Peter Dinzelbacher vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien stellt darin einleitend fest, dass die Benediktinerin wohl mit dem heiligen Zorn der Prophetin reagieren würde, könnte sie heute ihre Vermarktung kommentieren.
In der Alternativmedizin werde gut und gerne mit dem Namen Hildegard von Bingen geworben, was nicht selten die Bezeichnung „Etikettenschwindel“ verdiene, schreibt „Der Standard“.
Kaum eine historische Persönlichkeit habe eine derartige Kommerzialisierung und Instrumentalisierung erfahren wie die Nonne und Äbtissin Hildegard von Bingen.
Zahllose Kräutermischungen, Liköre, Nahrungsmittel, Tinkturen, Elixiere, Öle, Kosmetika, Edelsteine, Kochbücher, Gesundheitsratgeber und sogar Schulen, Hotels und Wellnesstempel tragen ihren Namen.
Ein genauer Blick auf die angepriesenen Produkte lasse mitunter allerdings gewisse Diskrepanzen zutage treten, stellt „Der Standard“ fest. So werde gegenwärtig ein „Aronia-Saftgetränk in der Tradition der Hildegard von Bingen“ angepriesen, obwohl diese Beerenart im 12. Jahrhundert – zu Lebzeiten der Kirchenheiligen – in Deutschland noch völlig unbekannt war. Die Formulierung „in der Tradition von“ im Produktnamen lasse jede Menge Interpretationsspielraum offen. Ähnlich verhalte es sich mit Likören, die mit dem Signet der „Posaune Gottes“ – wie sich Hildegard von Bingen selbst nannte – versehen werden: Das habe überhaupt nichts mit Hildegard von Bingen zu tun, erklärt Johannes Mayer, Leiter der Forschergruppe Klostermedizin in Würzburg, in dem Beitrag.
Keine Hildegard-Fastenmethode überliefert
Auch beim Heilfasten sei es um die Seriosität der beworbenen Hildegard-Kuren schlecht bestellt. In den Schriften von Hildegard setze sich lediglich ein Satz mit diesem Thema auseinander, der frei übersetzt laute: ‚Das Fasten sollst du nicht übertreiben‘. Das sei alles, sagt Medizinhistoriker Mayer. Nach Ansicht des Experten handelt es sich bei den Hildegard-Diäten um einen „kleinen Etikettenschwindel“. Das Prinzip sei denkbar einfach: Es werde eine Heilfastenmethode – etwa jene nach Buchinger – genommen und das wenige, was in dieser Fasten-Zeit gegessen werde, mit Pflanzen angereichert, die Hildegard von Bingen speziell empfohlen hat.
Eine spezielle Fastenmethode nach Hildegard von Bingen gebe es aber definitiv nicht.
Edelsteintherapie nach Hildegard?
Ein breites Geschäftsfeld stelle die nach der Nonne benannte Edelsteintherapie dar, schreibt „Der Standard“. In ihren kirchenmedizinischen Traktaten liste die „Prophetin“ neben 290 Pflanzen immerhin auch 25 Mineralien und acht Metalle auf.
Gemäss den Empfehlungen der Verkäufer sollen die angeblich gesundheitsfördernden Steine entweder als Amulett am Körper getragen, als Elixier getrunken oder in pulverisierter Form unter das Essen gemischt werden – und so gegen Nervosität oder Unruhe wirken und die Entgiftung des Körpers fördern. Die Therapie entbehre jeder rationalen Grundlage. Oral eingenommene Edelsteinpulver würden einfach wieder ausgeschieden – ohne irgendeinen Effekt, sagt dazu der klinische Psychologe Colin Goldner.
Auch Johannes Mayer von der Forschergruppe Klostermedizin steht dieser Methode skeptisch gegenüber: Was Hildegard von Bingen da betrieben habe, sei sozusagen ‚weiße Magie‘, die naturwissenschaftlich natürlich nicht nachweisbar sei. Er sehe das in gewisser Weise als Spiel.
Symbolische Naturinterpretation
Im Beitrag des „Standard“ wird im weiteren ein wichtiger Punkt erwähnt: Von Laien häufig nicht mitgedacht werde, dass die beiden kirchenmedizinischen Hauptwerke „Physica“ und „Causae et Curae“ (Krankheitsgründe und Heilmittel), deren Entstehung Historiker auf 1158 datieren, nicht von einem naturwissenschaftlich Weltbild geprägt sind, sondern von einer symbolische Naturinterpretation, die sich auf einen göttlichen Heilplan beruft. Pflanzen, Steine und Metalle besitzen in diesem Weltbild nicht per se eine heilende Wirkung, sondern entfalten diese ausschließlich durch die ihnen innewohnende göttliche Kraft.
Hildegard-Medizin ist eher Hertzka-Medizin
Die massenhafte Vermarktung von „Hildegard-Produkten“ lasse sich auf den österreichischen Arzt Gottfried Hertzka zurückführen, der von dem visionären Ursprung der Schriften der Kirchenheiligen überzeugt war. Gemeinsam mit dem Apotheker Max Breindl entwickelte Hertzka in den 60er-Jahren entsprechende Rezepturen, die er ab 1970 unter der Bezeichnung „Hildegard-Medizin“ propagierte.
Es gebe zwar Produkte, die stimmig seien, insgesamt seien das aber nur wenige, lautet die Schlussfolgerung von Johannes Mayer. Dazu zähle etwa die Ringelblumensalbe, die tatsächlich eine Entdeckung von Hildegard sei. Der Medizinhistoriker weist darauf hin, dass die Calendula tatsächlich eine sehr gute Pflanze gegen Hautverletzungen ist, die Ringelblumensalbe heute aber nicht mehr mit Schweineschmalz hergestellt wird. Die Produkte müssten also streng genommen unter dem Namen „Hertzka-Medizin“ geführt werden, was aber weit weniger gut ziehen würde als die „Marke“ „Hildegard von Bingen“.
Quelle:
http://derstandard.at/1371171658909/Das-grosse-Geschaeft-mit-Hildegard-von-Bingen
Kommentar & Ergänzung:
Die Vermarktung der Hildegard von Bingen ist tatsächlich ziemlich fragwürdig und es ist löblich, dass „Der Standard“ dieses Thema kritisch aufgreift.
Merke:
Nicht überall, wo Hildegard draufsteht, ist auch Hildegard drin.
Traditionen erfordern eine interessierte Auseinandersetzung, nicht blinde Gläubigkeit.
Nicht alles, was ein paar hundert Jahre alt ist, ist dadurch auch schon plausibel.
Eine kritische Haltung gegenüber der „Hildegard-Medizin“ steht einer Würdigung der aussergewöhnlichen Leistungen der „Hildegard von Bingen“ nicht im Wege.
Wenn Colin Goldner darauf hinweist, dass von oral eingenommem Edelsteinpulver keine Wirkung zu erwarten ist, dann kann man dem meines Erachtens insofern zustimmen, als wohl kaum relevante Stoffe in den Organismus aufgenommen werden. Zu beachten ist allerdings, dass Edelsteine bei Hildegard eine symbolische Bedeutung haben. Und Symbole und Rituale haben in manchen Fällen durchaus eine Wirkung.
Weitere Infos zum Thema:
Papst erhebt Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin
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