Weil sie vermeintlich allergisch dagegen sind, verzichten nicht wenige Menschen auf bestimmte Lebensmittel. Allzu häufig jedoch beruht diese Annahme auf völlig wertlosen Analysen: sogenannten Immunglobulin G (IgG- oder auch IgG4)-Tests zum Nachweis von Nahrungsmittel-Allergien oder Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten.
„Die dabei im Blut nachgewiesenen Antikörper gehören zur ganz normalen Reaktion des Immunsystems“, erklärt Privatdozent Jörg Kleine-Tebbe vom Allergie- und Asthma-Zentrum Westend in Berlin. Sobald ein Mensch etwas isst, werden sie gebildet. Trotzdem werben Anbieter im Internet, in Zeitschriften und in Broschüren damit, für mehrere hundert Lebensmittel eine mögliche Unverträglichkeit testen zu lassen.
Erst im Mai publizierten fünf große deutschsprachige Allergiegesellschaften eine gemeinsame Leitlinie, die sich strikt gegen die sinnlosen IgG-Bestimmungen richtet (Allergo Journal 4, 2009, 267). Die Angebote seien seither jedoch nicht weniger geworden, hielt Kleine-Tebbe fest, der die Leitlinie führend mit erarbeitet hat. „Bei den Firmen wird so getan, als wäre die Nützlichkeit noch in der wissenschaftlichen Diskussion. Das ist nicht so. Aber mit den Tests lässt sich eben auf simple Weise viel Geld verdienen.“ 800 Euro kann eine solche Bestimmung kosten. Meistens seien es um die 300 Euro.
Lebensmittel nicht vertragen
Schätzungsweise ein Fünftel aller Menschen in Deutschland ist überzeugt davon, dass sie ein oder mehrere Lebensmittel nicht vertragen. „Tatsächlich sind es maximal ein bis fünf Prozent“, erklärt Privatdozentin Kirsten Jung vom Bundesvorstand des Ärzteverbandes Deutscher Allergologen, ÄDA. „Das wird sehr überschätzt.“ Egal ob Magenweh, chronische Hautleiden, Dauermüdigkeit oder häufiger Kopfschmerz – zahlreiche Patienten glaubten bei solchen Symptomen rasch, an einer Nahrungsmittel-Unverträglichkeit zu leiden. „Gerade chronisch Kranke mit ihrem hohen Leidensdruck sind ein leichtes Opfer für die IgG-Test-Angebote“, sagt die Erfurter Hautärztin.
Bedenklich sei, dass entsprechende Werbe-Broschüren auch in so mancher Arztpraxis auslägen, erklärt Kleine-Tebbe. „Vielen Ärzten ist einfach nicht bewusst, dass die Tests ungeeignet sind. Und es gibt auch schwarze Schafe.“ Ein Arzt oder Heilpraktiker, der das für den IgG-Test nötige Blut abzapft und zum jeweiligen Anbieter schickt, erhält einen Teil der Gebühr.
Kritisch sehen die Allergie-Experten die Untersuchungen jedoch nicht nur wegen des Geldes, das die Betroffenen zahlen, ohne wirklich Hilfe zu bekommen. Tragisch seien hauptsächlich die mitunter abgeleiteten Verhaltensweisen der Menschen. „Völlig unberechtigte Diäten werden gemacht, die bei einigen Betroffenen zu Mangelerscheinungen oder Unterernährung führen“, betont Kleine-Tebbe. „Und das auch bei Kindern. Ein Skandal, das ist Körperverletzung.“
Wer annehme, gewisse Lebensmittel nicht zu vertragen, solle am besten einen Allergologen konsultieren, empfielt Jung. Verträgt eine Person tatsächlich bestimmte Lebensmittel nicht, wehrt sich der Körper mit Immunglobulinen der Klasse E – die sich mit einem sogenannten IgE- oder auch Prick-Test nachweisen lassen. Charakteristische Anzeichen dafür seien juckende Quaddeln, Gesichtsschwellungen, starkes Jucken im Hals, Übelkeit und Atemnot, sagt Kleine-Tebbe.
Weitere Infos:
Deutsche Gesellschaft für Allergie und Klinische Immunologie (DGAKI): www.dgaki.de
Ärzteverband Deutscher Allergologen (ÄDA): www.aeda.de
Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin (GPA): www.gpau.de
Österreichische Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI): www.oegai.org
Schweizerische Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (SGAI): www.sgai-ssai.ch
Quelle: www.aerztezeitung.de
Kommentar & Ergänzung: Nahrungsmittel-Allergien: Viele Tests nutzlos, aber lukrativ
Im Bereich der Komplementärmedizin werden Allergietests oft mit Hilfe der Kinesiologie durchgeführt. Dazu ist aber zu sagen, dass es keine fundierten Hinweise gibt, dass sich durch Kinesiologie-Tests Allergien zuverlässig erkennen lassen. Im Gegenteil: Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinesiologie ungeeignet ist für die Testung von Allergien:
– Eine Studie untersuchte Patienten mit bekannter starker Wespenstichallergie. Kinesiologen waren nicht in der Lage, ein Röhrchen mit Wespengift überzufällig oft von einem Röhrchen mit Kochsalzlösung zu unterscheiden.
(R Lüdtke: Test-retest-reliability and validity of the kinesiology muscle test In: complementar ther med, 2001, 9:141)
– In einer weiteren Studie wurden 315 Kinder und Jugendliche über einen Zeitraum von 2 Jahren mit kinesiologischen Mitteln auf Lebensmittelallergien hin getestet. Kinesiologen konnten dabei weder die Resultate von Kollegen überzufällig oft bestätigen, noch stimmten die Diagnosen statistisch signifikant mit den Ergebnissen aus verlässlichen herkömmlichen Allergietests (Antikörperbestimmung, Hauttest) überein.
(R Pothmann: Evaluation der klinisch angewandten Kinesiologie bei Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten im Kindesalter. In: Forsch Komplementärmedizin Klass Naturheilk 2001;8:336-344)
– In einem Test betreffend Intoleranz bzw. Toleranz von zahnärztlichem Material konnten Kinesiologen eigene Diagnosen unter verblindeteten Bedingungen nicht überzufällig oft bestätigen.
(HJ Staehle, MF Koch, T Pioch: Doubleblind Study on Materials Testing with Applied Kinesiology. In: J Dent Res, 84(11), 2005, S.1066-1069)
Diese Resultate müssten meines Erachtens mindestens zur Kenntnis genommen werden. Es gibt im Bereich Komplementärmedizin leider eine weit verbreitete Resistenz gegen solche In-Frage-Stellung. Diese Art von Scheuklappen schadt den Patientinnen und Patienten oder gefährdet sie gar durch Fehldiagnosen. An diesem Beispiel zeigt sich das eklatante Problem der Qualitätssicherung in vielen Bereichen der Komplementärmedizin.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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