Ausgelöst durch einen Gerichtsentscheid in Deutschland, welcher die Beschneidung eines Knaben als Körperverletzung beurteilt hat, läuft seit einigen Wochen eine heftige Diskussion um die Zulässigkeit dieses Eingriffs.
In dieser schwierigen Auseinandersetzung steht die Religionsfreiheit (der Eltern) gegen das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes.
Eine ganze Reihe von Fachleuten aus Pädiatrie, Urologie, Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie haben auf mögliche körperliche und psychische Folgen einer Beschneidung hingewiesen (z. B. Schmerzen, Infektionsrisiko, verminderte sexuelle Empfindungsfähigkeit infolge Entfernung sensiblen Gewebes, psychische Traumatisierung).
Jüdische und islamische Geistliche und Verbände dagegen betonen die Harmlosigkeit des Eingriffs, bestehen auf dem Recht der Eltern, ihre Söhne zu beschneiden und betonen die zentrale Bedeutung dieses Rituals für ihre Religionsgemeinschaft.
Als „Totschlag-Argument“ wird zudem von einigen Verteidigern der Beschneidung den Kritikern generell eine antijüdische und antiislamische Absicht unterstellt.
Auch wenn antijüdische und antiislamische Tendenzen – die abzulehnen sind – in manchen Stellungnahmen möglicherweise mitwirken sollten, sind solche pauschalen Diffamierungen meines Erachtens zurückzuweisen. In einer offenen, liberalen Gesellschaft müssen sich Religionsgemeinschaften mit ihrem Handeln einer kritischen Auseinandersetzung stellen. Und es dürfen selbstverständlich Einwände gegen bestimmte Praktiken erhoben werden.
Meiner Ansicht nach ist die Beschneidung von Knaben eindeutig eine Körperverletzung. Ich verstehe nicht, wie man das anders beurteilen kann. Schliesslich wird ein Körperteil irreversibel entfernt. Diese Tatsache lässt sich auch nicht dadurch vom Tisch wischen, dass die weibliche Genitalbeschneidung in ihren Folgen deutlich schlimmer ist.
Auf diesem Hintergrund fände ich es sehr angebracht, wenn mit der Beschneidung solange gewartet würde, bis der Knabe urteilsfähig ist und selbst entscheiden kann, was mit seiner Vorhaut geschieht.
Inzwischen hat der Deutsche Ethikrat sich am 23. August für einen Kompromiss ausgesprochen:
„Ja zur religiösen Beschneidung von Juden und Muslimen in Deutschland, aber nur unter Auflagen: Dafür hat sich der Deutsche Ethikrat am Donnerstag ausgesprochen. Geht es nach dem unabhängigen Gremium, sollte das umstrittene Ritual erlaubt bleiben, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind:
– eine umfassende Aufklärung über mögliche Risiken,
– die fachgerechte medizinische Ausführung des Rituals,
– eine qualifizierte Schmerzbehandlung,
– und die Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts der betroffenen Jungen.“
Quelle:
http://www.focus.de/politik/deutschland/religioeses-ritual-deutscher-ethikrat-stimmt-beschneidung-zu-unter-auflagen_aid_805726.html
Sehr fraglich scheint mir, wie sich ein entwicklungsabhängiges Vetorecht der betroffenen Jungen praktizieren lässt bei Säuglingen und kleinen Jungen. Ein solches Vetorecht würde eine Verschiebung des Eingriffs in ein urteilsfähiges Alter voraussetzen.
„Eindeutig gegen Beschneidung sprach sich im Ethikrat nur der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel aus. Es sei ‚bizarr’, wenn Religionsgemeinschaften eine Definitionsmacht darüber hätten, wann und wie sie einen Körper von Menschen verletzten könnten. Gleichwohl gebe es eine ‚weltweit singuläre Pflicht gegenüber allen jüdischen Belangen’, ergänzte er. Im Konflikt zwischen dem körperlichen Eingriff und der Verpflichtung gegenüber dem Judentum entstehe ein ‚rechtspolitischer Notstand’. Einem auf die praktischen Details gerichteten Kompromiss des Ethikrats könne auch er deswegen zustimmen, sagte Merkel.“
Quelle: http://www.abendblatt.de/politik/article2380003/Empfehlung-des-Ethikrats-Erlaubnis-religioeser-Beschneidung.html
„Die ‚Kompromiss’-Entscheidung des Nationalen Ethikrates stößt bei den deutschen Kinder- und Jugendärzten auf Unverständnis und Entsetzen. Dr. Wolfram Hartmann, BVKJ-Präsident: ‚Kindeswohl und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit haben bei der heutigen Entscheidung offenbar keine Rolle gespielt. Erst im Januar ist das neue Bundeskinderschutzgesetz in Kraft getreten, nun erleben wir, dass das Bundeskinderschutzgesetz für eine große Zahl von Kindern in diesem Lande nicht gelten soll. Muslimische und jüdische Kinder schützt es nicht. Ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit ist offenbar zweitrangig. Das ist ein Skandal!’
Der BVKJ verweist in diesem Zusammenhang auf §24 der UN- Kinderrechtskonvention, die von allen Staaten außer Somalia und den USA ratifiziert wurde. Danach haben die Vertragsstaaten ‚alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen zu treffen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen’.
Quelle:
http://de.nachrichten.yahoo.com/recht-eines-kindes-auf-körperliche-unversehrtheit-zählt-offenbar-155609085.html
Mich selber beschäftigen aber bei diesem Thema andere Fragen:
Wieso erschafft der Herrgott, falls es ihn geben sollte, den Mann mit einer Vorhaut, um dann von seinen Gläubigen zu fordern, dass sie dieses Körperstück nach der Geburt eines Jungen wieder abschneiden. Das erscheint mir einfach absurd und setzt ja irgendwie voraus, dass der Mann einen gravierenden Konstruktionsfehler hat, was auf den Konstrukteur zurück fallen würde.
Und wenn im Judentum davon ausgegangen wird, dass die Beschneidung eine Besiegelung des Bundes zwischen dem Knaben und Gott sei – warum braucht es dazu ausgerechnet die Vorhaut? Warum nicht das linke Ohrläppchen?
Ja ich weiss, Gott hat das im Alten Testament offenbar von Abraham so gefordert. Im alten Testament steht aber so einiges, dessen Umsetzung heute nur noch für Spinner und gestörte Fundamentalisten ein Anliegen ist – beispielsweise die Forderung nach Steinigung:
„Die Steinigung wird im Tanach und demnach auch im Alten Testament als Strafe für Taten von Israeliten in Israel gefordert, die als Verbrechen an Gott und dem ganzen Volk galten. Dazu gehörten Götzendienst (z. B. Dtn 17,5), vorsätzlicher Sabbat-Bruch (Num 15,35f.), Wahrsagen (Lev 20,27), Ehebruch (Lev 20,10; Dtn 22,22), Ungehorsam gegenüber den Eltern (Dtn 21,21) und Gotteslästerung (z.B. in Lev 24,14ff.). Diese Strafart sollte eine abschreckende Wirkung auf das Volk ausüben.“
(Quelle: Wikipedia)
Glücklicherweise gibt es im Judentum und im Islam vernünftige Kräfte, für welche Steinigung keine akzeptable Bestrafungsform mehr ist.
Was spricht also dagegen, auch bei der Beschneidung einen Schritt weg von der Überlieferung und hin zu einer menschenfreundlicheren Variante zu machen – beispielsweise durch eine Verschiebung des Beschneidungstermins in ein mündiges Alter?
Oder steht dem etwa die Angst entgegen, dass ältere Knaben sich gegen dieses Ritual und für ihre Vorhaut entscheiden könnten?
Und wie wird dieser Vorhaut-basierte Bund eigentlich bei Mädchen besiegelt? Oder gibt es keinen Bund zwischen Gott und Mädchen bzw. Frauen? Falls es einen solchen Bund geben sollte, dann hängt er jedenfalls nicht ab von der entfernten Vorhaut.
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