Der „SonntagsBlick“ berichtete über diesen Lokal-Politiker Jörg Meichtry aus Agarn (Wallis), der auf Facebook Homosexuelle mit Kindeschändern gleichsetzt und darüber hinaus noch eine irregeleitete Grossmutter hat, die ihm dazu gratuliert.

Zitat „SonntagsBlick“:

„Vor einigen Wochen schrieb er: «Kriminelle, Grabschänder, Homosexuelle und Kinderschänder haben aus unserer Gesellschaft einen Haufen gemacht, für den man sich schämen muss.»

Weiter wettert er: Homosexualität sei immer noch eine «psychosche Krankheit» – so die Original-Schreibweise…….

Aber Meichtry setzt gleich noch einen drauf: «Abnormalitäten haben in unserer Gesellschaft nichts zu suchen und ich finde, wenn man so krank ist wie die Homosexuellen, ist meine Aussage korrekt.»….

Meichtry bestätigt den Eintrag bei Facebook und betont gegenüber SonntagsBlick: «Ich stehe zu meiner Meinung, und in der Schweiz darf man die frei äussern.»……..

Nur seine Grossmutter hat sich gemeldet. Auf Facebook schreibt sie: «Bravo Jörg, wir sind stolz auf dich.»“

Quelle:

http://www.blick.ch/news/schweiz/westschweiz/svp-mann-hetzt-gegen-schwule-id2662342.html

Kommentar & Ergänzung:

Das ist eine erste Angelegenheit,  zu der es einiges zu sagen gibt – nicht zuletzt, weil in Russland und in vielen Ländern Afrikas (z. B. in Uganda ) diese unsäglich dumme Homophobie wieder ihre Fratze zeigt. Zeit also, etwas genauer hinzuschauen.

Wenn Jörg Meichtry für sich Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt, dann ist festzuhalten, dass wir in der Schweiz zwar Meinungsfreiheit haben, diese aber nicht grenzenlos ist. Eine Lizenz zur Diffamierung nach Belieben ist damit jedenfalls nicht erteilt.

Ein Argument mehr für obligatorische Sexualkunde an Schulen

Das Beispiel Meichtry spricht meines Erachtens für die obligatorische Sexualkunde an Schulen, an der alle Schülerinnen und Schüler teilnehmen müssen, unabhängig von ihrem kulturellen und weltanschaulichen Hintergrund.

Dadurch hätte nämlich auch ein Mensch wie Jörg Meichtry eine faire Chance zu erkennen, welch verheerender Mist ihm durch eine Grossmutter oder durch sein sonstiges Umfeld eingepflanzt wird. Die Familie spielt bei der sexuellen Erziehung unbestritten eine erstrangige Rolle. Aber nur die Schule kann allen Kindern gleichberechtigt und unabhängig Wissen und Fähigkeiten vermitteln. Kinder haben ein Recht auf Chancengleichheit. Sexualkunde schützt Kinder ein Stück weit vor sexuellen Übergriffen, weil sie dadurch Worte haben, mit denen sie darüber reden können, wenn ihnen so etwas passiert. Und sie wirkt durch Information ignoranten Diffamierungen und Diskriminierungen entgegen, wie sie der Fall „Meichtry“ gezeigt hat.

Voraussetzung für eine sinnvolle obligatorische Sexualkunde sind allerdings fachlich und pädagogisch hochstehende Unterrichtsmaterialien und fachlich und pädagogisch geeignete Lehrkräfte. Eine Lehrperson, der dieses Thema peinlich ist, kommt für Sexualaufklärung nicht in Frage.

Ein interessantes Projekt ist in dieser Hinsicht der „Verein Achtung Liebe“, eine Initiative von sexualpädagogisch ausgebildeten Studentinnen und Studenten, die Aufklärungsunterricht an Schulen anbieten.

http://achtungliebe.ch/index.html

Fragwürdige Petition gegen Bildungsplan in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg unterzeichneten gegen 200 000  Personen eine Petition gegen den „Bildungsplan 2015“, unter anderem mit dem Einwand, es fehle darin „komplett die ethische Reflexion der negativen Begleiterscheinungen eines LSBTTIQ-Lebensstils…“

(LSBTTIG meint: lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell-queer)

Der fundamentale Irrtum in dieser Formulierung liegt darin, dass man einen Lebenstil wählen kann, die sexuelle Orientierung aber nicht. Man kann sich nicht entscheiden, homosexuell zu sein. Als Beispiel für negative Begleiterscheinungen des „LSBTTIQ-Lebensstil“ nennt die Petition die höhere Suizidgefährdung homosexueller Jugendlicher. Diese höhere Suizidgefährdung hat aber – das liegt absolut auf der Hand – nichts mit Homosexualität an sichzu tun, sondern mit dem Tabu und der Ausgrenzung, die mit diesem Thema in vielen Bereichen immer noch einher geht. Wenn Homosexualität einfach als gleichberechtigte Variante behandelt würde, wie es sie in der Natur halt gibt, dann gäbe es die erhöhte Suizidrate nicht mehr. Aber genau gegen diese selbstverständliche Gleichbehandlung setzt sich die Petition zur Wehr und trägt damit dazu bei, dass der Unterschied in den Suizidraten uns erhalten bleibt.

Da fehlt es – genau wie bei Jörg Meichtry aus Agarn (Wallis) – an grundlegenden medizinischen und psychologischen Kenntnissen.

Dieses Wissen zu vermitteln gehört meiner Ansicht nach zu den Aufgaben unseres Schulsystems, das an diesem Punkt – die Beispiele zeigen es – offensichtlich noch verbesserungsfähig ist. Und während viele Familien gut mit diesem Thema umgehen, sind andere schlicht überfordert.

Aber auch die Medien stehen hier in der Verantwortung. So bringt beispielsweise der SonntagsBlick die absurden Diffamierungen des Jörg Meichtry im Wortlaut und stellt sie damit quasi auch an den Pranger,  lässt sie aber so im Raum stehen. Ein Info-Kästchen mit einer kurzen Richtigstellung wäre hilfreich gewesen.

Sexualkunde für Putin & Co.

Noch viel absurder ist das komplett skurrile Gesetz gegen „Homosexuellenpropaganda“ in Russland, welches jede positive Erwähnung von Homosexualität in der Öffentlichkeit mit Strafandrohung belegt. Glauben Wladimir Putin, seine politischen Gefolgsleute und seine Unterstützer in der russisch –orthodoxen Kirche tatsächlich, dass man mittels Propaganda homosexuell werden kann? Und dass das eine reale Gefahr ist?

Entscheidender dürfte sein: Wladimir Putin braucht Sündenböcke. Und darin liegt eine grosse Gefahr. Gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle häufen sich in Russland. Dafür und auch für zukünftige Eskalationen tragen Putin und die russisch-orthodoxe Kirche Verantwortung.

Wie real diese Gefahr ist, zeigt ein erschütterndes „Spiegel online Video“ zum Thema „Schwulenhass in Putin-Land“ (4 min)

http://spon.de/vfJV2

Zur Entstehung von Homophobie

Damit auf gesellschaftlicher Ebene diesen gefährlichen Tendenzen etwas entgegengesetzt werden kann ist es wichtig zu verstehen, auf welchem Hintergrund eine Homophobie entsteht, wie sie sich gerade bei Wladimir Putin, in Uganda, im Facebook-Beitrag von Jörg Meichtry und an vielen anderen Orten zeigt.

„Die Zeit“ hat vor kurzem einen hervorragenden Artikel von Ulrich Klocke zu diesem Thema publiziert.

Klocke führt drei  Faktoren an, welche die Entstehung von Homophobie beeinflussen:

Rigide Geschlechternormen, eine fundamentalistische Religiosität und Unkenntnis.

Menschen seien umso homophober,  je stärker ihre Vorstellung davon ist, wie sich „richtige Männer“ und „richtige Frauen“ verhalten sollten.

Quelle:http://link.springer.com/article/10.1023%2FA%3A1015640318045#page-1

Jugendliche, die es nicht gut finden, wenn Mädchen Fußball spielen oder Jungen weinen, lehnen auch Lesben und Schwule stärker ab, schreibt Klocke.

Quelle:http://www.psychologie.hu-berlin.de/prof/org/download/klocke2012_1

Homosexualität widerspreche klassischen Geschlechterrollen: Plötzlich sei unklar, aber wichtig, wer hier Mann und wer Frau in der Beziehung ist. Für Männer sei dies bedrohlicher als für Frauen, was deren stärker ausgeprägte Homophobie erkläre.

Quelle: http://psycnet.apa.org/index.cfm?fa=search.displayRecord&UID=1997-06460-007

In unserer Gesellschaft werde Weiblichkeit als etwas gesehen, das biologisch erworben wird, während Männlichkeit immer wieder neu erkämpft und bewiesen werden müsse.

Quelle: http://psycnet.apa.org/index.cfm?fa=buy.optionToBuy&id=2012-24955-001

Wird Männlichkeit in Frage gestellt, dann neigt Mann danach stärker dazu, sie einmal mehr unter Männern zu beweisen. Homophobe Äußerungen seien eine wirksame Methode, um sich vom “nicht-männlichen Schwulen” demonstrativ abzugrenzen.

Quelle: http://www.sociologyresearch.org/overdoing-gender-a-test-of-the-masculine-overcompensation-thesis/

Psychologisch ist bei der Homophobie folgender Aspekt am interessantesten (Zitat Klocke):

„Besonders angegriffen fühlen sich offenbar Männer, die sich zwar als heterosexuell definieren, aber dennoch von Männern sexuell erregt werden. Diese These untersuchten Henry Adams und Kollegen in einem Experiment, in dem sie heterosexuelle Männer zunächst zu ihrer Homophobie befragten und ihnen später drei erotische Videos zeigten.“

Quelle: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/8772014

Das ist ein sehr spezielles, aber auch sehr aufschlussreiches Experiment.

Zitat Klocke:

„In einem dieser Videos hatten ein Mann und eine Frau Sex, in einem zweiten zwei Frauen und in einem dritten zwei Männer. Während die Probanden die Videos schauten, trugen sie eine kleine Manschette um ihren Penis, einen “penilen Plethysmographen”, der Veränderungen im Penisumfang und damit die sexuelle Erregung misst. Während die Männer auf die heterosexuellen und die lesbischen Paare gleichermaßen erregt reagierten, ergab sich ein interessanter Unterschied in ihrer Reaktion auf die schwulen Paare: Wenig homophobe Männer reagierten nicht auf das Video, stark homophobe Männer zeigten hingegen eine Zunahme ihres Penisumfangs.“

Offenbar speise sich Homophobie auch aus der Angst vor der eigenen homosexuellen Anziehung, erklärt Klocke: „Heterosexuelle Männer fühlen sich dadurch in ihrer Männlichkeit bedroht. Durch demonstrative Abwertung von offen schwulen Männern können sie die bedrohte Männlichkeit wiederherstellen.“ 

Eine neuere Studie bestätige diese These und zeige, dass Homophobie unter Frauen und Männern am höchsten ist, die sich zwar als heterosexuell identifizieren, deren spontan gemessene Reaktionen dieser Identität aber mitunter widersprechen.

Quelle: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22288529

Auch homophobe Äußerungen einiger Politiker oder evangelikaler Prediger können ein Versuch sein, sich gegen die eigene gleichgeschlechtliche Anziehung zu wehren, erklärt Klocke, und verweist auf einen Artikel in der New York Times, der es auf den Punkt bringt:

„WHY are political and religious figures who campaign against gay rights so often implicated in sexual encounters with same-sex partners?“

Quelle: http://www.nytimes.com/2012/04/29/opinion/sunday/homophobic-maybe-youre-gay.html?_r=0

Ein Beispiel aus einer ganzen Reihe ist der amerikanische Fernsehprediger Ted Haggard, der öffentlich gegen Homosexualität anpredigte, aber heimlich eine dreijährige Affäre mit einem Callboy hatte (siehe dazu auf Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Ted_Haggard)

Vorbehalte gegenüber Homosexuellen haben auch viel mit Unkenntnis zu tun, schreibt Klocke. Unbekanntes erzeuge Unbehagen, Vertrautes erzeuge Sympathie. Dieser “Mere-Exposure-Effekt” sei eine fundamentale psychologische Gesetzmäßigkeit, die auf Musik, Werbebotschaften, Personen und vieles andere gleichermaßen zutreffe.

Klocke schreibt dazu: „Viele Menschen kennen Lesben und Schwule nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen oder aus den Medien, wo sie nicht selten als Exoten, Witzfiguren oder sexbesessene Partymenschen dargestellt werden. Wer jedoch feststellt, dass eine Freundin lesbisch oder ein Kollege schwul ist, dessen Einstellung zu Homosexuellen verbessert sich meist.“

Quelle:http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11199-009-9627-3#page-1

Dies gelte besonders für Menschen, die Homosexualität aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen ablehnen.

Quelle: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22449021

Quelle in „Die Zeit“: http://www.zeit.de/wissen/2014-02/homophobie-ursachen-folgen-akzeptanz

Kommentar & Ergänzung:

Drei Punkte:

  1. Je stärker die Homophobie, desto mehr stellt sich die Frage, ob damit eigene homosexuelle Neigungen verdrängt werden. Bei Wladimir Putin fällt auf, wie stark er durch wiederholtes Machogehabe in er Öffentlichkeit seine Männlichkeit immer wieder bestätigen muss. Der Mann brauch offenbar entweder eine gute Sexualaufklärung oder eine gute Therapie.
  2. Wenn Homophobie zum Teil auf Unkenntnis beruht, dann sind Bestrebungen verheerend, das Thema Homosexualität zu tabuisieren, zum Beispiel indem man es aus Familie und Schule ausschliesst oder gar aus der Öffentlichkeit generell mit diesem unsäglichen Gesetz gegen „Homosexuellenpropaganda“ in Russland.  Solche Tabuisierungsversuche bewirken andauernde Unkenntnis und Fremdheit bezüglich dem Thema Homosexualität und verstärken die allgemeine Homophobie, was nur den Homophobikern selbst entgegenkommt. Sie sind mit ihrer Macke dann nicht allein.
  3. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass Homophobie nicht nur eine harmlose Schrulle ist, sondern sehr schnell sehr gefährlich werden kann. Homosexuelle (und wer dafür gehalten wurde) landeten im Mittelalter auf Scheiterhaufen und im Nazi-Reich im KZ. Wer mit Homophobie ein politisches Sündenbocksüppchen kocht wie Wladimir Putin und die russisch-orthodoxe Kirche, oder wer einfach strohdumme Diffamierungen streut wie ein Jörg Meichtry aus Agarn (Wallis), bereitet ein Terrain vor für Übergriffe auf Homosexuelle und ist ein potentieller Anstifter. Solche Tendenzen, die sich immer noch und wieder zeigen, verlangen eine gradlinige gesellschaftliche Reaktion.

Und ich schreibe diesen Text, weil ich sehr überzeugt bin, dass diese Reaktion auch von Heterosexuellen kommen muss.

Mehr Infos zum Thema und Möglichkeiten zum Engagement hier:

http://www.queeramnesty.ch

Ausserdem:

Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie/ Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

 

Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe

Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Heilpflanzenexkursionen in den Bergen / Kräuterkurse

www.phytotherapie-seminare.ch

Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:

Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch

Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch