Letzte Woche leitete ich den Kurs “Heilpflanzen und Alpenblumen” in Lenk im Simmental – einer Region mit ausgesprochen reichhaltiger Pflanzenwelt und eindrücklichen Landschaften. Auf dem Anstieg zum “Hohberg” wanderten wir über einen alten Feldweg. Nun wurde seit dem letzten Sommer parallel zum alten etwas weiter oben im Hang ein neuer Feldweg gebaut. Interessant war es nun, die beiden Wege zu vergleichen. Während der alte Weg sich mit einigen Krümmungen durch die Weide schlängelt und sich dem Gelände anpasst, verläuft der neue Weg viel gerader. Auch passt sich dieser Weg kaum der Landschaft an – im Gegenteil: das Terrain wurde mit Baumaschinen dem Weg angepasst.
Das Ideal des geraden Weges im Westen
Mir scheint, hier drückt sich ein sehr starkes Ideal unserer Kultur aus: Erstrebenswert ist immer der gerade Weg, die direkte, schnellste und ebenste Verbindung zwischen zwei Punkten, ein Weg, der unserer Fortbewegung möglichst wenig Widerstand bietet. Ich will nun nicht in Gejammer ausbrechen. Gerade und schnelle Wege haben ihre Vorteile, die ich durchaus zu schätzen weiss. Ich bin mir aber auch sehr sicher, dass wir für dieses oft starre Ideal des direktesten Weges einen nicht geringen Preis zahlen. Ein verwinkelter, unebener Weg, der uns da und dort Widerstand bietet, ermöglicht dadurch auch intensiveren Kontakt mit einer Landschaft. Dieser Kontakt geht mehr und mehr verloren auf direkten, schnellen und topfebenen Wegen. Wir gewinnen an Schnelligkeit, verlieren aber dabei quasi an Bodenhaftung. Das kann meines Erachtens Konsequenzen haben bis in den Bereich der Gesundheit. Jedes Lebewesen braucht nämlich ein gewisses Mass an Widerstand, um fit zu bleiben.
Der Umweg im altchinesischen Denken
Dass es Alternativen zum Ideal des Direkten und Glatten gibt, zeigt das altchinesische Denken. Dort wurde der Umweg und der indirekte Zugang besonders geschätzt. In altchinesischen Gärten sind Wege und Bücken oft im Zickzack angelegt. Das zwingt die Spazierenden zu Langsamkeit und zu Richtungswechseln, die immer wieder neue Perspektiven eröffnen. Ausserdem können einem Geister auf Zickzackwegen schlechter folgen, weil sie nur geradeaus gehen können…..
Bei uns zeigt sich das Ideal des Direkten und Glatten nicht nur im Weg- und Strassenbau. Auch beim Erwerb von Wissen scheint es mir stark präsent zu sein. Auch lernen soll möglichst direkt, schnell, ohne Friktionen, Umwege und unnötige Anstrengungen geschehen. Möglicherweise zahlen wir auch hier einen Preis, denn Umwege und Brüche sind oft wichtige Aspekte für die Entwicklung der Persönlichkeit. Und an Widerständen wachsen wir.
Ausbildungsstätte für Naturheilkunde
Wenn beispielsweise die Schulleitung einer Ausbildungsstätte für Naturheilkunde die Ansicht vertritt, die Studierenden könnten Heilpflanzen ja im Botanischen Garten kennenlernen, dazu brauche es doch keine Exkursionen in die Natur, dann drückt sich in einer solchen Haltung genau dieses Ideal des Direkten & Glatten aus. Im Botanischen Garten sind die Heilpflanzen für die BesucherInnen quasi vorpräpariert. Sie “warten” schön geordnet nach Anwendungsbereichen und mit Namensschildern versehen darauf, “konsumiert” zu werden.
Das geht glatt, effizient, direkt und mühelos vonstatten. Sehr fraglich bleibt dabei allerdings, ob sich so überhaupt eine Beziehung zu den Heilpflanzen knüpfen lässt. Dazu müsste man meines Erachtens nämlich – sorry für den unanständigen Ausdruck – ein wenig “den Arsch lupfen” und ein bisschen Zeit und Energie aufwenden, um die Heilpflanzen in ihren Lebensräumen zu besuchen. Beziehung gibt es nicht “gratis” – auch nicht zu Heilpflanzen. Dort, in ihren Lebensräumen, stehen die Heilpflanzen nicht schon gruppiert und angeschrieben herum, sondern immer wieder in überraschenden Konstellationen und zusammen mit ihren Nachbarn aus der Pflanzen- und Tierwelt.
Für solche Besuch…
…muss man sich vielleicht manchmal auch ein bisschen körperlich anstrengen und sich Wind und Wetter aussetzen. Aber um wieviel bereichernder ist eine solche (Beziehungs-) Erfahrung doch verglichen mit dem “Konsum” im Botanischen Garten (nichts gegen Botanische Gärten!) Das ist ein Unterschied wie zwischen einer Fast-Food-Mahlzeit und einem Gourmet-Dinner. Wer Heilpflanzen nur im Botanischen Garten kennenlernen will, könnte sich ja auch auf das Betrachten eines schönen Bildbandes beschränken, so gross ist der Unterschied dann nicht mehr, oder auf Fotos im Internet (ich empfehle meine Heilpflanzen-Bildergalerie …..).
Dann leben wir schlussendlich in einer vollkommen glatten, mühelosen, wettersicheren, aber auch sterilen, beziehungslosen und virtuellen Welt. Das ist meines Erachtens keine wünschenswerte Entwicklung. Als Antidot (Gegenmittel) würde ich empfehlen: Rausgehen und Kontakt aufnehmen mit den Heilpflanzen und ihrem Lebensraum in der realen Natur. Ich selber schätze für diesen Zweck auch die Fortbewegung auf Bergwegen. Diese unebenen, verschlungenen Wege bringen starken Kontakt mit der Landschaft, wenn man dafür offen ist.
Gelegenheiten zu intensivem Naturkontakt und zu “Weg-Erfahrungen” finden Sie auch in meinen Heilpflanzen-Exkursionen
Selbst den Bereich der Erotik könnte das Ideal des Direkten und Glatten beeinflussen, lebt doch die Erotik wesentlich vom Indirekten, von der Andeutung. Im Modus des Direkten verflüchtigt sich die Erotik. Mehr zum Thema Erotik und erotische Berührung im soeben erschienenen Buch “Phänomen Haut”, das Sie auf www.phytotherapie-seminare.ch unter „Publikationen“ anschauen und bestellen können.
Zusammenfassend denke ich, wir sollten das Direkte, Klare, Schnelle und Glatte durchaus nutzen und auch schätzen. Aber wir sollten auch immer wieder bewusst Erfahrungen mit dem Indirekten, Krummen und Unebenen suchen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Seminar für Integrative Phytotherapie / Forum Naturheilkunde & Philosophie
Phytotherapie-Ausbildungen / Heilpflanzen-Kurse & Heilkräuter-Exkursionen
www.phytotherapie-seminare.ch
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch