Kürzlich brachte eine Teilnehmerin ein Heilpflanzen-Buch mit in den Kurs und bat um eine Einschätzung dazu, wie verlässlich seine Angaben sind.
Neben vielen anderen Heilpflanzen wird darin auch der Storchenschnabel (Geranium robertianum) vorgestellt. Storchenschnabeltee wird nun von diesem Autor empfohlen, wenn eine Frau gerne schwanger würde und es damit nicht klappt. Mit einer solchen Angabe steht dieses Kräuterbuch gar nicht so allein da. Ich höre solche Vorschläge immer wieder im Umfeld der Pflanzenheilkunde. Und das gibt mir jeweils schon zu denken.
Mal abgesehen davon, dass Storchenschnabel allein wohl keine Kinder bringt……
Es gibt keinerlei konkrete und fundierte Hinweise dafür, dass Storchenschnabeltee oder Storchenschnabeltinktur bei ungewollter Kinderlosigkeit bzw. bei unerfülltem Kinderwunsch hilft: Keine dokumentierten Fälle, keine Erkenntnisse über Inhaltsstoffe, die eine solche Wirkung plausibel machen und schon gar keine kontrollierten Studien.
Fragt man Leute, die Storchenschnabel in diesem Bereich empfehlen nach einer Begründung, bekommt man immer dieselbe Antwort:
Der Storchenschnabel hat länglich zugespitzte Früchte, die an den Schnabel eines Storches erinnern.
Mich irritiert dann jedesmal von neuem, dass solche Aussagen in vollem Ernst daher kommen, und ich frage darum jeweils nach: Glauben Sie denn wirklich, dass der Storch ins Kinderkriegen involviert ist? Und wie genau?
Auf diese Fragen bekomme ich allerdings kaum je eine befriedigende Antwort. Sie erschüttern bei diesen Personen aber auch nicht den Glauben an die Wirksamkeit des Storchenschnabels.
Wir haben es hier mit einem Analogiedenken zu tun, das offensichtlich viel Überzeugungskraft hat. Ähnlichkeiten lassen sich sehr schnell, in jeder Lage und für jedes Bedürfnis entdecken. Glaubt man fest daran, dass Ähnlichkeit die Wirkung einer Heilpflanze enthüllt, so findet man für jedes Problem eine rasche, eindeutige, unbezweifelbare Lösung. Unter der Voraussetzung allerdings, dass man nach der Entdeckung der Ähnlichkeit jedes Nachdenken unterbleiben lässt. Weil sonst nämlich vielleicht Zweifel aufkämen, ob der Storch wirklich mit dem Kinderkriegen zusammenhängt. Jede Pflanze bietet mit ihrer Vielfalt an Formen und Farben Gelegenheit zu Tausenden von Analogien.
Da stellen sich mindestens zwei Fragen, wenn man das Denken nicht bequemer weise einfach bleiben lässt:
1. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Farben und Formen der Heilpflanzen und ihren Wirkungen? – Dafür sehe ich keinen einzigen greifbaren Hinweis. Farben und Formen entwickelt die Pflanze vollumfänglich entlang ihrer eigenen Bedürfnisse. Wenn wir annehmen, sie stünden in einem Zusammenhang mit uns und unseren Krankheiten, nehmen wir uns viel zu wichtig.
2. Angenommen, die Ähnlichkeiten würden tatsächlich auf Heilwirkungen hinweisen: Wie könnte man herausfinden, welche der Tausenden von Analogien bedeutsam sind und welche nicht? Oder gelten alle Ähnlichkeiten gleichermassen? Das gäbe eine grosse Unübersichtlichkeit und wäre wohl sehr willkürlich. Rote Haare weisen über eine Analogie auf Feuer hin – ein deutlicher Fingerzeig, dass es sich bei rothaarigen Frauen um Hexen handelt, die auf den Scheiterhaufen gehören. Solche Analogie-Argumente haben zahlreichen Frauen ganz konkret das Leben gekostet. Vielleicht wäre es deshalb ja nützlich, nach dem Finden von Analogien das Denken nicht ganz einzustellen.
Das Denken in Analogien gehört ganz offensichtlich zur Grundausstattung des menschlichen Gehirns
Ohne die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen, dürften Lernvorgänge wesentlich schwerer fallen. Ob das Analogiedenken aber im Bereich des Erkennens der Wirkungen von Heilpflanzen angemessen ist, würde ich sehr in Frage stellen.
Natürlich: Das Trinken von Storchenschnabeltee kann motivierend wirken. Ausserdem ist die Vorstellung, dass der Storchenschnabel durch seine Form quasi zu mir redet und mir sagt, wofür er gut sei, sehr ansprechend. Da kümmert sich eine Pflanze um mein Wohlergehen, ohne selber Ansprüche zu stellen – was kann man sich mehr wünschen. Aber dass die Heilpflanzen mit ihren Formen und Farben auf uns und unsere Beschwerden abgestimmt sind, ausgerechnet auf uns Menschen, ist ja wohl schon eine ziemlich unbescheidene Idee.
Von den Frauen, die eine Storchenschnabel-Teekur machen, werden zudem tatsächlich einige schwanger. Und dann passiert regelmässig ein Fehlschluss, den ich im Bereich der Naturheilkunde sehr oft beobachte: Vom zeitlichen Zusammenfallen wird auf einen ursächlichen Zusammenhang geschlossen. Wird eine Frau schwanger, während sie Storchenschnabeltee trinkt, ist es für unkritische bis naive Personen immer der Storchenschnabeltee, der geholfen hat, und nicht etwa die Natur selbst – also der Organismus der Frau. Und schon haben wir wunderbare Berichte von Schwangerschaften durch Storchenschnabeltee. Wenn dann noch der Kampfbegriff “Wer heilt hat recht!” ins Feld geführt wird, steht diese Geschichte unumstösslich in der Pflanzenheilkunde.
Das Analogiedenken hatte seinen Höhepunkt in der Renaissance
In Form der “Signaturlehre” war es für die Pflanzenheilkunde von grosser Bedeutung. Diese Signaturenlehre kann man aber nur aus ihrem historischen und philosophischen Kontext heraus verstehen und nicht einfach auf die Gegenwart übertragen. Wer sich für die Signaturenlehre interessiert, findet dazu Informationen im Kurs “Die Heilkräfte der Pflanzen im Wandel der Zeit” (auf: www.phytotherapie-seminare.ch im Kurskalender oder via Sitemap).
Aber nehmen wir abschliessend noch einmal das Thema “Storchenschnabeltee & ungewollte Kinderlosigkeit” auf.
Ich sehe zwar keinerlei Hinweise auf eine Wirksamkeit von Storchenschnabeltee bei Kinderlosigkeit, aber auch keine Hinweise darauf, dass das Trinken von Storchenschnabeltee schädlich sein könnte.
Die folgenden Aussagen sind nur gedacht für Personen, die nun immer noch fest davon überzeugt sind, dass die Formen und Farben der Heilpflanzen ihre Wirkung ausdrücken:
Wenn Sie eine Storchenschnabelkur machen wollen, um schwanger zu werden, dann nehmen Sie die Heilpflanze niemals in Form von Tee. Bei der Teezubereitung siebt man ja die Pflanzenteile ab und trägt sie auf den Kompost. Damit werden aber auch die storchenschnabelähnlichen Früchte weggeworfen. Das ist eine deutliche Analogie zu einer Fehlgeburt und birgt daher ein entsprechendes Risiko. Essen Sie statt dessen nur die storchenschnabelähnlichen Früchte, weil nur dort die Information drin steckt, dass ein Kind kommen soll. Essen sie nur die Früchte. Die Stängel der Pflanze sind nämlich stark abstehend behaart. Das ist eine Signatur für überschiessende und abstehende Beinbehaarung und fördert beim Kind entsprechende Tendenzen. Schauen Sie sich die Früchte vor dem Verzehr ausserdem genau an.
Es gibt mehrere Storchenschnabelarten mit unterschiedlichen “Schnabelformen” und auch beim Geranium robertianum gibt es einzelne Exemplare mit gekrümmten Schnäbeln. Das könnte beim Kind Missbildungen an der Wirbelsäule auslösen. Verwenden Sie daher nur gerade gewachsene “Storchenschnäbel”.
Ich würde auch dringend dazu raten, nur eine storchenschnabelähnliche Storchenschnabelfrucht pro Zyklus zu essen:
Das Risiko ist sonst gross, dass der Storch die Botschaft missversteht und ihnen eine Mehrlingsgeburt beschert. Und abschliessend rate ich dazu, die Frucht jeweils ganz zu essen. Man kann ja nie wissen, welchen Einfluss das Zerkauen auf Mutter oder Kind hat.
Wenn wir uns schon an Analogien orientieren wollen, dann bitte genau.
Im Ernst: Ich bin immer wieder erschüttert darüber, wie fraglos irgendwelche abstrusen Phantasien und Geschichten in Bereich von Pflanzenheilkunde & Naturheilkunde für bare Münze genommen werden.
Und so warte ich denn gespannt darauf, bis meine Regeln für die Storchenschnabelkur irgendwo in einem Heilpflanzen-Buch auftauchen oder als uralte Weisheit heilkundiger Hebammen herumgeboten werden. Ich bitte nur um eine Quellenangabe….
Weil ich seit über 25 Jahren laufend mit solch fragwürdigen Geschichten konfrontiert werde, bin ich überzeugt davon, dass es im Bereich von Pflanzenheilkunde & Naturheilkunde mehr kritisches Denken braucht. Wir haben genug fundiertes Wissen über die Wirkungen der Heilpflanzen und sind nicht auf Nachschub aus Absurdistan angewiesen. Wer jedoch weiterhin zum Beispiel an den Storch als Kinderlieferanten glauben will, soll das meinetwegen tun.
Aber nur wer auch kritische Fragen stellen kann hat eine Chance, sich eine eigenständige und fundierte Meinung zu bilden. Und das ist eine Voraussetzung für Mündigkeit im Umgang mit Gesundheit und Krankheit.
Das eingangs erwähnte Heilpflanzen-Buch war übrigens voll von fragwürdigen Behauptungen und dementsprechend fiel auch mein Kommentar aus.
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Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
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