Kürzlich stiess ich auf ein bemerkenswertes Zitat:
“Die Rastlosigkeit des Alltags lässt den Menschen unserer Zeit auch am Wochenende und im Urlaub nicht zur Ruhe kommen. Selbst auf Spaziergängen und Wanderungen hastet er einem Ziel entgegen, ohne nach rechts oder links zu sehen, und unterbricht nur selten einmal Gespräche oder Gedanken, wenn ein Hase, aufgeschreckt aus seiner Sasse, über den Weg flitzt oder ein Reh in hohen Fluchten in ein Kornfeld taucht. Die tausend unscheinbaren Wunder am Wege übersieht er und schilt seine Kinder Bummelanten, wenn sie stehenbleiben und einer Spinne bei der Arbeit zusehen, oder gar verwunderte Fragen stellen.
Welchen Freuden und welchem Reichtum sie sich verschliessen, wird den wenigsten bewusst. Und doch – oder gerade deshalb – lohnt es sich, den Zugang zu den wunderbaren Lebensgesetzen und Erscheinungen der Natur wieder zu suchen.”
Was glauben Sie: Wann wurde dieser Text geschrieben?
Das Zitat stammt aus dem Vorwort des Buches “Wandern mit offenen Augen”, von Hans-Wilhelm Smolik. Erschienen ist es in der 1. Auflage im Jahr 1957. Von der Sprache und der Ausdrucksweise her könnte man ein solches Alter ja vermuten. Überraschend ist aber schon, dass bereits vor über 50 Jahren die Entfremdung des Menschen von der Natur angesprochen wurde.
Nun, der Text ist jedenfalls heute noch aktuell. Es lohnt sich sehr, die kleinen Wunder am Wegrand wieder genauer wahrzunehmen. Man kann sich so in der Pflanzenwelt viele Freunde und Bekannte schaffen. Solche Pflanzenfreundschaften können das Leben bereichern und Halt geben auch in schwierigen Zeiten.
Dabei sollten wir meiner Ansicht nach allerdings die Pflanzen nicht vermenschlichen, wie es in manchen Bereichen der Pflanzenheilkunde heute geschieht. Eine solche Vermenschlichung geschieht zum Beispiel, wenn den Heilpflanzen die Absicht unterstellt wird, uns gesund zu machen. Und ebenso bei Berichten über vertraute Kommunikation und “Gesprächen” mit Pflanzen. Hier nimmt der Mensch sich meines Erachtens schlicht zu wichtig. Pflanzen sind nicht auf uns gerichtet, sondern ganz einfach für sich selber da. Sie wollen nichts für uns und nichts von uns (abgesehen natürlich von Zimmerpflanzen und anderen Kulturpflanzen, die unsere Pflege brauchen).
Das scheint mir im Umgang mit Pflanzen eine bescheidenere und angemessenere Haltung
Mit der Vorstellung, dass die Pflanzen uns etwas mitteilen und wir sie verstehen können, setzen wir uns dagegen ganz schön ins Zentrum dieser “Veranstaltung”.
Das soll uns nun aber ganz und gar nicht daran hindern eine Beziehung zu Pflanzen zu pflegen. Das ist nun aber eine anspruchsvollere Beziehung auf dem Hintergrund, dass die Pflanze nichts für mich will und auch nichts von mir. Die Pflanze bleibt dabei ganz für sich und ich phantasiere sie nicht als auf mich gerichtet. Und weil die Pflanze nicht vermenschlicht wird, bleibt sie mir immer auch ein Stück weit fundamental fremd.
Treffend ausgedrückt hat das der Naturlyriker Nikolaus Lenau:
An Blumen freut sich mein Gemüte,
und ihren Rätseln lausch ich gern.
Wie nah sie uns durch Duft und Blüte,
und durch ihr Schweigen doch so fern.
(Nikolaus Lenau, 1802-1850, Schriftsteller, Naturlyriker, in: Savonarola, erschienen 1837)
Diese teilweise Fremdheit scheint mir ein wesentlicher Aspekt in der Beziehung zu Pflanzen
Beziehungen zu vermenschlichten Pflanzen scheinen mir dagegen ziemlich fragwürdig: Mit der schönen Vorstellung, dass hier eine Pflanze immer wohlwollend und heilend für mich da ist, ohne eigene Ansprüche, lässt sich zwar angenehm leben. Das ist aber eine Beziehung, wie sie eher für die Beziehung zwischen einem Säugling und seinen Eltern angemessen ist. Ein Säugling ist darauf angewiesen, dass liebende Erwachsene seine Wünsche und Bedürfnisse erfüllen und die eigenen Ansprüche für eine gewisse Zeit zurückstellen.
Wer Pflanzen vermenschlicht und zu wohlwollenden Wesen stilisiert mit dem Bedürfnis, uns zu heilen, sucht darin möglicherweise eher einen Anflug dieser urspünglichen Kind-Mutter-Beziehung.
Wenn wir eine Beziehung zu Pflanzen pflegen, welche die Pflanzen nicht vermenschlicht, sondern sie selbst sein lässt, gibt das auch mehr Raum für ein ästhetisches Erleben der Pflanzenwelt. Um die Schönheit wahrzunehmen und zu geniessen, ist eine Prise Fremdheit und Distanz wesentlich, wenn nicht gar unabdingbar. Das zeigt auch die Geschichte der Naturästhetik. Um die Schönheit der Berge und der Natur wahrzunehmen, brauchte es eine gewisse Distanzierung. Doch davon später einmal mehr.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch
P.S.: Heilkräuter-Exkursionen sind eine gute Gelegenheit, um die Tausend Wunder am Wegrand immer besser wahrzunehmen. Angebote dazu finden Sie im Kurkalender auf meiner Website www.phytotherapie-seminare.ch