Im Bereich von Naturheilkunde & Komplementärmedizin werden Aussagen über Heilwirkungen oft mit “Erfahrungen” begründet: “Die Erfahrungen zeigen doch, dass Heilpflanzen-Präparat X. bei Krankheit Y. hilft.”
Etwas zugespitzt heisst es dann: “Wer heilt hat recht.”
Manchmal spricht man sogar von der Erfahrungsheilkunde. Unberücksichtigt bleibt dabei sehr häufig, dass “Erfahrung” ein sehr komplexes Geschehen ist, das gut verstanden sein sollte, wenn man Schlüsse daraus ziehen will.
Wertvolle Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erfahrung stammen von John Dewey und John Stuart Mill.
Dewey schreibt:
“‘Erfahrung‘ bezeichnet das gepflanzte Feld, die gesäten Saaten, die eingebrachte Ernte, den Wechsel von Tag und Nacht, Frühling und Herbst, feucht und trocken, Hitze und Kälte, die beobachtet, gefürchtet, ersehnt werden; Erfahrung bezeichnet auch den, der pflanzt und erntet, der arbeitet und geniesst, hofft, fürchtet, plant, Magie oder Chemie zu Hilfe nimmt, der niedergeschlagen oder voller Triumph ist. Erfahrung ist ,doppelläufig‘ in dem Sinne, dass sie in ihrer primären Ganzheit keine Trennung zwischen Akt und Material, zwischen Subjekt und Objekt kennt, sondern sie beide in einer unanalysierten Totalität enthält.”
(John Dewey, 1859-1952, Philosoph und Pädagoge: in: Erfahrung und Natur (1925), zit. nach: Martin Suhr, John Dewey, Junius 1994)
Dewey zeigt auf, dass wir in der Erfahrung nicht nur ein getrennt von uns existierendes Stück Natur erfahren. Wir erfahren uns immer selber mit. Erfahrung enthält auch ein Stück des Reagierens eines Organismus auf die ihn umgebende Umwelt. In der Erfahrung ist immer eine subjektive Seite (von der Person her) mit einer objektiven Seite (von den Objekten, den Erfahrungsgegenständen her) miteinander verknüpft.
Wir müssen darum bei der Interpretation von Erfahrungen unseren eigenen Anteil daran immer auch zum Thema machen, bevor wir Schlüsse aus unseren Erfahrungen ziehen. Nun ist es jedoch nicht einfach, den eigenen Anteil, mit dem wir in unseren Erfahrungen mit drin stecken, selber zu erkennen. Genau zu diesem Zweck brauchen wir die kritische Auseinandersetzung mit anderen Menschen, die am selben Thema interessiert sind.
Auf diesen Punkt hat auch John Stuart Mill bereits hingewiesen, wie das nächste Zitat zeigt:
”…Quelle alles Achtenswerten im Menschen….dass er seine Irrtümer korrigieren kann. Er ist fähig, seine Missgriffe durch Diskussion und Erfahrung richtigzustellen. Nicht durch Erfahrung allein: Diskussion tut not, um zu zeigen, wie die Erfahrung zu deuten ist. Falsche Urteile und Bräuche geben allmählich den Tatsachen und Überlegungen Raum…Sehr wenige Tatsachen sind imstande, ihre eigene Geschichte zu erzählen…”
(John Stuart Mill, 1806-1873, Philosoph, Psychologe und Soziologe; Über die Freiheit, Reclam 2004)
Erfahrungen sprechen nicht für sich, wir müssen sie erst zum Sprechen bringen. Jede Erfahrung ist mit verschiedenen Deutungen kompatibel. Das gilt auch für Erfahrungen mit Heilmitteln, Heilmethoden und Heilpflanzen. Wenn daher von “Erfahrungsmedizin” die Rede ist, so sagt das noch gar nichts aus. Erfahrung allein kann uns nicht sicher zeigen, ob ein Heilmittel hilft oder nicht. So zeigte sich beispielsweise in der Medizingeschichte immer wieder, dass sich Irrtümer über Jahrhunderte halten können und trotz aller Erfahrung nicht erkannt werden. Erfahrung bringt den Irrtum nicht mit Gewissheit zu Tage.
Entscheidend ist, und das sagt Mill deutlich, wie wir mit unseren Erfahrungen umgehen. Nötig ist eine kritische Diskussion aller Erfahrungen, ein Distanznehmen von eigenen Erfahrungen, um sie zu reflektieren, mit anderen Erfahrungen zu vergleichen und einzuordnen.
Wenn mir also jemand sagt, er habe die Erfahrung gemacht, dass Heilmittel X bei Krankheit Z hilft, dann frage ich immer genau nach, wie diese Erfahrung gemacht wurde und wie der betreffende Mensch sich mit seiner Erfahrung auseinander gesetzt hat.
Wenn dann jede ernsthafte Auseinandersetzung fehlt, scheint mir die berichtete Erfahrung meist nicht sehr überzeugend.
Für die Naturheilkunde ist ein sorgfältiger Umgang mit Erfahrungen besonders wichtig, weil es hier fundamental an Qualitätskontrolle mangelt. Wer sich im Bereich der Naturheilkunde bewegt, kommt daher oft nicht darum herum, sich über die Glaubwürdigkeit von Behauptungen ein eigenes Urteil zu bilden.
Das ist allerdings meistens auch viel interessanter als die Übernahme von vorgekauten Ansichten.
Aus diesem Grund ist es mir wichtig, in Ausbildungen und Kursen über Phytotherapie / Pflanzenheilkunde nicht nur die Wirkungen der Heilpflanzen zu vermitteln
Es geht auch darum, wie man sich eine eigene fundierte Meinung dazu bilden kann.
Wie kommt dieses Wissen zustande und wie lässt es sich überprüfen? Wie verlässlich ist diese oder jene Aussage?
Solche Fragen sind zentral, wenn man nicht blind jede Behauptung übernehmen will.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch