Ich selber habe mich – als Naturheilkundler – noch nicht entschieden, ob ich am 17. Mai Ja oder Nein stimmen soll und verfolge die Äusserungen zu diesem Thema mit grossem Interesse.
Ständerätin Simonetta Sommaruga (SP, BE) hat in der Tagesschau vom 9. April, 19.30 nun aber eine Aussage gemacht, die so irreführend und falsch ist, dass sie meiner Meinung nach nicht einfach so im Raum stehen gelassen werden sollte. Darum hier ein paar Fragen an Simonetta Sommaruga:
Sehr geehrte Frau Sommaruga
Ich schätze Ihre Politik in der Regel, gerade weil sie nicht so von einseitigem Lagerdenken geprägt ist, sondern differenziert argumentiert.
Im Bereich der Komplementärmedizin vermisse ich aber in Ihren Äusserungen dieses differenzierte Denken vollständig.
In der Tagesschau SF1 vom 9. April 2009, 19.30 Uhr, sagten Sie:
“Wenn Bundesrat Couchepin aber die Zulassungsverfahren korrekt anwendet und umsetzt und unvoreingenommen prüft, dann gehe ich heute davon aus, dass die fünf Methoden wieder in die Grundversicherung zugelassen werden, weil sie nämlich wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind, das haben alle wissenschaftlichen Studien gezeigt.”
Die Aussage, dass alle wissenschaftlichen Studien zeigen, dass die fünf Methoden (gemeint: Homöopathie, Anthroposophische Medizin, TCM, Phytotherapie, Neuraltherapie) wirksam sind, ist einfach nicht wahr.
Oder wie verwenden Sie den Begriff “wirksam sein” im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Studien?
1. Der Patient oder die Patientin findet, dass es ihm / ihr besser geht?
Dann müssten Sie konsequenterweise auch Scientology und Uriella als Heilmethode über die Grundversicherung zulassen. Sehr viele Patientinnen und Patienten sind dort begeistert von den “Erfolgen”. Und ich mag es zwar jedem Menschen gönnen, wenn es ihm besser geht – Mit Wissenschaft hat da aber noch kaum etwas zu tun.
2. Oder heisst “wissenschaftlich wirksam” für Sie, der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin sind von der Wirkung überzeugt?
Das wäre meines Erachtens sehr “arztgläubig” und naiv.
3. Oder verstehen Sie unter “wirksam sein”, dass auch unterschieden wird zwischen der Methode oder dem Heilmittel als solchem und den in allen Fällen mitwirkenden Faktoren wie Placebo-Effekt, natürliche Selbstheilungsprozesse und natürliche Auf- und Abs bei chronischen Verläufen. Das wäre dann ja etwa das, was Wissenschaft unter anderem mit Studien mehr oder weniger erfolgreich versucht zu unterscheiden.
Wenn mit der Aussage, dass alle wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit zeigen Punkt 1 und/oder 2 meinen, dann ist höchst fraglich, ob man von “wissenschaftlich” reden kann.
Wenn Sie Punkt 3 meinen, dann ist Ihre Aussage krass falsch.
Es stimmt einfach nicht, dass alle wissenschaftlichen Studien für alle fünf Methoden die Wirksamkeit belegen.
Es gibt diesbezüglich Differenzen, Widersprüche, grosse Unterschiede….
Wer nicht einfach aus einem komplementärmedizinischen Lagerdenken auf das Feindbild Schulmedizin starrt, sieht meines Erachtens, dass beispielsweise die Studienlage im Bereich “Homöopathie” und “Anthroposophische Medizin” desolat ist.
Hier nur zwei Links dazu (es gäbe Dutzende):
http://www.evimed.ch/AGORA/HTZ000/downloads/asthmahomoeopathie.pdf
Diese Studie berücksichtigt auch die homöopathischen Regeln der individuellen Arzneimittelfindung und damit einen der häufigsten Einwände der Homöopathie-“Szene” gegen die Überprüfung mit Studien.
Was halten Sie, Frau Sommaruga, von dieser Studie?
Halten Sie trotzdem fest an Ihrer Aussage, dass alle wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit der Komplementärmedizin zeigen?
Dann wäre diese Studie also einfach für Sie keine Wissenschaft? Mit welcher Begründung?
http://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/Homoeopathie-ist-eine-widerlegte-Methode/story/16361064
Die Reaktionen auf diesen Artikel in der Öffentlichkeit sind übrigens sehr typisch. Jeder, der irgendwo eine kritische Anmerkung macht im Bereich der Komplementärmedizin, muss sich die Unterstellung anhören, er sei von der Pharmaindustrie gekauft (das kenne ich selber zur Genüge). So laufen halt die Feindbilder. Und so muss man sich auch nicht mit den Argumenten auseinandersetzen.
Halten Sie entgegen den Arbeiten von Professor Ernst an Ihrer Aussage fest, dass alle wissenschaftlichen Studien die Wirksamkeit der Komplementärmedizin zeigen?
Mit welcher Begründung?
Ich selber bin nicht der Meinung, dass Studien immer das letztgültige Mass sein sollten.
In meinem eigenen Fachgebiet – der Phytotherapie – sind nur etwa ein Dutzend Heilpflanzen aus wissenschaftlicher Sicht ausreichend fundiert. Das mindert den Wert für mich keineswegs.
Ich bin aber strikt dagegen, offene Fragen, Widersprüche und Defizite in der Komplementärmedizin auszublenden, nur weil “Komplementärmedizin” eine sympathische Sache ist. Diese Scheuklappen sehe ich bisher bei fast allen Befürworterinnen und Befürworter der Vorlage vom 17. Mai. Hauptsache mehr Komplementärmedizin!
Das erschwert es mir sehr, mich für ein “JA” zu entscheiden.
In über 25 Jahren Lehrtätigkeit im Terrain Naturheilkunde / Kompelmentärmedizin habe ich nämlich auch zur Genüge mitbekommen, wie verbreitet hier Allmachtsdenken, gefährliche Selbstüberschätzung und sektiererische Tendenzen sind – und wie massiv die Probleme bezüglich Qualitätssicherung.
So pauschale, absolute und irreführende Aussagen wie die Ihre in der Tagesschau verhindern genau die konstruktive Zusammenarbeit zwischen “Schulmedizin” und Komplementärmedizin, die mir am Herzen liegt. So werden gegenseitige Feindbilder gefestigt, statt aufgeweicht.
Und noch eine letzte Frage:
Falls Studien nicht zur Unterscheidung von Wirksamkeit und Unwirksamkeit herangezogen werden sollen: Welche Kriterien dann?
Oder geben Sie diese Unterscheidung ganz auf? Dann sind wir aber wieder bei Scientology und Uriella.
Freundliche Grüsse
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch