Ständerätin Simonetta Sommaruga (SP, BE) ist Präsidiumsmitglied des JA-Komitees.
Sehr geehrte Frau Sommaruga
Sie fordern eine Aufnahme der Anthroposophischen Medizin in die Grundversicherung, eine Professur für Anthroposophische Medizin an einer Universität und überhaupt die Berücksichtigung der Anthroposophischen Medizin in der Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten.
Dies im Zusammenhang mit der Abstimmung vom 17. Mai 2009 über den Verfassungsartikel zur Förderung der Komplementärmedizin.
Ein wesentlicher Kern der Anthroposophischen Medizin ist die Karmalehre. Moralische Verfehlungen in einem früheren Leben bewirken Krankheit und Behinderung im jetzigen.
Nach Michaela Glöckler, Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum und damit eine zentrale Person in der Anthroposophischen Medizin, bewirkt egoistisches Erwerbsstreben eine Disposition zu Infektionskrankheiten im nächsten Leben.
Nach Rudolf Steiner, auf dem die Anthroposophische Medizin gründet, führt Lügenhaftigkeit zu geistiger Behinderung im nächsten Leben.
Warum finden Sie es wichtig, dass die Medizin durch eine solche Lehre ergänzt wird?
Warum setzen Sie sich dafür ein, dass eine solche Lehre vom Staat mittels einer Professur gefördert wird?
Finden Sie, dass eine solche Lehre an die Universität gehört und allen zukünftigen Ärztinnen und Ärzten vermittelt werden sollte? Reicht es nicht, wenn diese Karmatheorien in den Ausbildungen für anthroposophische Ärzte und Ärztinnen am Goetheanum gelehrt werden?
Es geht hier nicht um ein Randthema, sondern um das Herzstück der anthroposophischen Weltanschauung und damit um einen Kern der Anthroposophischen Medizin.
Weite Infos und Quellenangaben zu den Zitaten hier:
http://www.heilpflanzen-info.ch/cms/2009/04/15/komplementaermedizin-abstimmung-kritische-anmerkungen-zur-anthroposophischen-medizin.html
Ich selber halte diese Theorien für behindertenfeindlich – eine spirituell verbrämte Behindertenfeindlichkeit allerdings. Wie stehen Sie dazu?
In Tibet zum Beispiel werden Blinde massiv diskriminiert, weil sie in einem früheren Leben angeblich Schlimmes gemacht haben.
Natürlich gibt es in der Anthroposophischen Medizin keine so offensichtliche Diskriminierung. Aber einem Behinderten ein moralisches Versagen in einem früheren Leben unterzuschieben (überprüfbar ist diese Unterstellung jedenfalls nicht) und dann an einer Verbesserung dieses Karmas zu arbeiten, scheint mir doch eine höchst problematische und fragwürdige Sache. Und letztlich bereiten solche Lehren auch den Boden für “handfestere” Abwertungen.
Ich selber bin stark kurzsichtig und könnte ohne Sehhilfe nicht selbständig leben. Die Medizinische Sektion des Goetheanums hat zum Thema Kurzsichtigkeit “Augenheileurythmie” im Weiterbildungsprogramm. In der Tagesschau vom 9. April haben Sie auch bezogen auf die Anthroposophische Medizin gesagt, dass alle wissenschaftlichen Studien ihre Wirksamkeit und Zweckmässigkeit gezeigt haben. Gilt das also auch für die Augenheileurythmie? Vielleicht könnte ich dann via Grundversicherung an meinem schlechten Augenkarma arbeiten?
Im Ernst: Ich bin keineswegs unkritisch gegenüber Wissenschaft und Medizin. An diesem Punkt ziehe ich einfach die Wissenschaft vor, die wertfrei Kontaktlinsen und Brillen entwickelt hat, mit denen ich ein normales Leben führen kann, und die mir im Gegensatz zur Anthroposophischen Medizin kein moralisches Versagen in einem früheren Leben unterstellt. Aber vielleicht bin ich ja auch einfach in meiner geistigen Entwicklung noch nicht so weit, um diese höheren karmisch-anthroposophischen Zusammenhänge zu verstehen….
Mit diesem geistigen „Brett vor dem Kopf“ komme ich zum Schluss, dass ich es lieber hätte, wenn mir die Grundversicherung statt „Anthroposophischer Karmabehandlung“ einfach die nötigen Kontaktlinsen und Brillen bezahlt – vom operativen Einsetzen von Implantatlinsen will ich gar nicht reden, solche „Luxusbehandlungen“ kommen wohl nie in die Grundversicherung.
Ich finde die Idee, dass egoistisches Erwerbsstreben eine Disposition zu Infektionskrankheiten bewirkt, ziemlich makaber bezüglich der hohen AIDS-Raten in Afrika. Das waren wohl alles einmal Egoisten in einem früheren Leben, diese Afrikaner, weshalb sonst wären sie so anfällig für Infektionen? Und das passt ja sogar zur Theorie von Steiner, dass Schwarze egoistisch sind, weil sie so dunkle Haut haben und daher alle Wärme zurückhalten…..so ist halt alles mit allem verbunden.
Also hören wir doch auf mit der kleinlichen Kritik am Präservativ-Verbot des Papstes, welches die Ausbreitung von AIDS in Afrika fördern soll. Die Afrikanerinnen und Afrikaner haben sich AIDS aus karmischen Gründen selber ausgewählt.
Über AIDS hat Steiner natürlich nichts geschrieben, weil die Krankheit damals noch nicht existierte. Michaela Glöckler aber meint zu AIDS:
“Die Krankheit bringt ins Bild, was heute weltweit zu lernen ist, wenn es einen entschiedenen Kulturfortschritt geben soll. Die von der Krankheit Betroffenen bringen körpersprachlich zum Ausdruck, was Aufgabe für uns alle ist: an der Überwindung des Egoismus zu arbeiten. So gesehen sind AIDS-Kranke “Stellvertreter” für uns alle. AIDS ist eine Stellvertreter-Krankheit. Wer sie durchleidet, erlebt auf körperlicher Ebene die Überwindung des Egoismus, d. h. das Wesen der Selbstlosigkeit. Er lernt körperlich und damit unbewusst und gleichsam gezwungenermassen, was aus freien Stücken zu lernen eine heutige Kulturaufgabe ist. Für den AIDS-Patienten, der an dieser Krankheit verstirbt, bedeutet dies, dass er zumindest auf biologisch-körperlicher Ebene, d. h. im unbewussten Erlebnisbereich der Seele, dem für die heutige Menschheit wichtigsten Ideal nahe gekommen ist: der Selbstlosigkeit. So wird er diese Fähigkeit im folgenden Erdenleben unbewusst-instinktiv als Veranlagung haben und damit zu einer altruistischen Lebenseinstellung und einem grossen Interesse für die Weltverhältnisse disponiert sein.”
Komisch nur, dass vor allem so viele Afrikanerinnen und Afrikaner an AIDS erkranken und stellvertretend für uns Selbstlosigkeit lernen sollten. Verstehe ich nicht, aber dazu müsste es ja wohl auch wissenschaftliche Belege geben, wenn doch die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der Anthroposophischen Medizin so gut wissenschaftlich belegt ist, wie Sie und viele weitere BefürworterInnen der Vorlage vom 17. Mai glauben.
Zum Thema “Pocken” hat sich Steiner geäussert. Michaela Glöckner erklärt die Zusammenhänge so:
“Im Falle einer ausgeprägten Lieblosigkeit wird der Betreffende dafür sensibilisiert sein, sich durch das Pockenvirus anstecken zu lassen. Die Krankheit selbst erscheint dann im Leben als Kampf zur Überwindung einer früher durchlebten Einseitigkeit. Der durch die Pocken bewirkte körperliche Auflösungsprozess stellt gleichsam ein ,Aus-sich-heraus-Wollen‘ dar. Auf leiblicher Ebene wird dadurch die frühere Lieblosigkeit überwunden und das Ich erhält die Kraft, in ein neues Wechselverhältnis mit seiner Umwelt zu treten. Stirbt der Mensch in der Auseinandersetzung mit dieser Krankheit, so steht dem Ich diese Kraft für das nächste Leben zur Verfügung.” (in: Goebel/Glöckler, Kindersprechstunde, 1984).
Die Angabe von Michaela Glöckler, dass “kein Interesse für Musik” zu Asthma und Lungenkrankheiten führt, wird Sie als Pianistin nicht weiter beunruhigen, mich als (leider) ziemlich unmusikalischen Menschen bedrückt das allerdings schon.
Aber Anthroposophische Medizin arbeitet ja an der Verbesserung des Karmas. Und weil Anthroposophische Medizin wohl demnächst über die Grundversicherung abgerechnet werden kann, besteht noch Hoffnung für mich.
Und was halten Sie von der Karmatheorie als Kern der Anthroposophischen Medizin aus politischer Sicht? Auch die Sicht der Sozialdemokratischen Partei dazu wäre interessant (ich werde dort nachfragen).
Krankheiten und Behinderungen werden nach anthroposophischer Weltanschauung von den Betroffenen aus karmischen Gründen gewählt.
Ich wähle mir den Feinstaub, um damit mein Karma zu verbessern, wenn ich durch Feinstaub krank werde. Könnte es da nicht ein heikler Eingriff in ein kosmisches Schicksal sein, die Grenzwerte für Feinstaub zu senken? – Anthroposophen werden da schon irgendeine beruhigende Antwort wissen und mir erklären können, dass ich das alles nicht richtig verstanden habe. Aber die verlassen sich ja auch nur auf Rudolf Steiner und der hat sich meiner Ansicht nach schon schwer getäuscht bei seinen Ausflügen in höhere Welten (beispielsweise wenn er Indianer als dekadente Abzweigung in der Entwicklung zum Arier irgendwo zwischen Affen und Menschen ansiedelt).
Auch ein Kind, das von einem Lastwagen überfahren wird, wählt sich übrigens nach anthroposophischer Lehre den Lastwagen aus karmischen Gründen selbst und bestellt ihn an die Unfallstelle. So haben die Lastwagen sogar einen karmischen Sinn und eine therapeutische Bedeutung. Der Nutzfahrzeugverband ASTAG wird sich über diese Botschaft freuen.
Als beim Bau des ersten Goetheanums der siebenjährige Theodor von einem Möbelwagen erdrückt wurde, kommentiert Rudolf Steiner das so:
“Das Kind war also tot. Die äußere materialistische Anschauung kann sagen: Nun ja, zufällig ist dort zu dieser Stunde der Möbelwagen umgefallen, das Kind kam darunter und wurde zerquetscht. So wird natürlich die materialistische Anschauung sagen. Vor der spirituellen Anschauung ist das ein vollständiger Unsinn. Denn das, was da vorliegt, ist das Karma des Kindes, und dieses Karma des Kindes lenkte all die einzelnen Verhältnisse. Es hat auch den Möbelwagen dorthin gelenkt gerade zu der Stunde, wo das Kind den Tod brauchte, weil das Karma des Kindes es so wollte. Das Karma des Kindes war abgelaufen. Wir haben es hier zu tun mit der Notwendigkeit, Ursache und Wirkung wirklich umzukehren.” (Rudolf Steiner, Das Geheimnis des Todes, GA 159, S. 51)
Der kleine Theodor hat sich selbst geopfert, und zwar deshalb, damit seine wegen der Kürze seines Lebens noch “unverbrauchten” Lebenskräfte der anthroposophischen Organisation zur Verfügung stehen und den Bau, das Goetheanum, beschützen:
“Da ist ein Knabe, durch sein Seelenwesen besonders veranlagt; er opfert seinen Ätherleib hin, damit der Bau eingehüllt ist in die Kraft dieses Ätherleibes. Da haben wir ein solches Beispiel, an dem wir ersehen, wie unverbrauchte Ätherleiber, die hingeopfert werden, ihre Aufgabe in der Welt haben.” (ebd, S. 242)
Alles in schönster Ordnung also. Das ist übrigens genau der Punkt, an dem Anthroposophie und Anthroposophische Medizin als starkes “Heilmittel” wirken. Problematisch daran ist unter anderem, dass die Sinngebungen immer heteronom erfolgen.
Schwierig wurde dieses tragische Ereignis für die Anthroposophen erst, weil das erste Goetheanum einem Brand zum Opfer fiel. Da stellte sich ja die Frage, ob der kleine Theodor in seinem Schutzauftrag versagt hat. Dazu hat sich der “Menschheitsführer” Rudolf Steiner nämlich leider nicht geäussert.
Zur anthroposophischen Diskussion dieses Problems anlässlich des 100. Geburtstages von Theodor siehe:
http://rudolf-steiner.blogspot.com/2007/07/schne-wissenschaften_09.html
Frau Sommaruga, sind Sie wirklich überzeugt, dass wir eine solche Heilslehre in der Grundversicherung und an den Universitäten brauchen?
Die Vorlage vom 17. Mai hat meines Erachtens sehr viele problematische Elemente (weitere Texte dazu im Blog unter „Naturheilkunde-Debatte“). Das Thema dieses Beitrages zur Karmalehre der Anthroposophischen Medizin ist einer der wichtigeren Punkte, aufgrund derer ich mich zu einem NEIN entschlossen habe. Es wären schon sehr deutliche Aussagen und Antworten der Befürworter nötig, damit ich diesen Entschluss revidieren würde.
Freundliche Grüsse
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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