Fragen an Ständerätin Simonetta Sommaruga (SP, BE), Präsidiumsmitglied des JA-Komitees.
Sehr geehrte Frau Sommaruga
Die Befürworterinnen und Befürworter der Abstimmungsvorlage vom 17. Mai zur Förderung der Komplementärmedizin versprechen bei einem JA bessere Bedingungen für sogenannt traditionelle Heilmittel. Sie beklagen sich über unnötige und harte Schikanen durch die Heilmittelbehörde SWISSMEDIC, hohe Kosten und bürokratische Hindernisse.
“Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes” – das tönt sehr sympathisch, blendet aber meines Erachtens einen grossen Teil der Realität vollkommen aus.
Die Darstellung jedenfalls scheint mir sehr einseitig und irreführend. Es mag durchaus zutreffen, dass es an manchen Punkten übertriebene Kosten oder allzu hohe bürokratische Hürden gibt.
Unterschlagen wird bei diesem einseitigen Gejammer aber dreierlei:
1. Die Bevorzugung von Homöopathica und Anthroposophica durch Befreiung vom Wirksamkeitsnachweis.
Viele Heilmittel der Komplementärmedizin werden von der Heilmittelbehörde SWISSMEDIC aufgrund von politischen Vorgaben bevorzugt behandelt.
Grundsätzlich ist es schon mal so, dass Medikamente der Homöopathie und der Anthroposophischen Medizin bei SWISSMEDIC von jedem Nachweis einer Wirksamkeit befreit sind, während dies von “normalen” Medikamenten und auch von neuen Heilmitteln aus der Phytotherapie selbstverständlich verlangt wird.
Homöopathische und anthroposophische Medikamente müssen keinerlei Belege für ihre Wirksamkeit einreichen, es reicht der Nachweis, dass es sich um ein Medikament nach homöopathischen Grundregeln oder anthroposophischen Angaben handelt.
Homöopathika und Anthroposophika werden ohne auf ihre Wirksamkeit geprüft zu werden von der Krankenkasse aus der Grundversicherung bezahlt (BAG-Spezialitätenliste 70.01 Homöopathica und Anthroposophica) Das wissen allerdings die meisten Leute im “Volk” nicht, die im Glauben gelassen werden, es gehe in der Abstimmung vom 17. Mai um das Bezahlen homöopathischer oder anthroposophischer Medikamente. Die aber sind schon längst in der Grundversicherung, wenn ein Arzt oder eine Ärztin sie verschreibt.
Frau Sommaruga, wie lässt sich Ihrer Meinung nach diese Bevorzugung der Homöopathika und Anthroposophika rechtfertigen? Sie sagen doch, die Wirksamkeit der Therapiemethoden Homöopathie und Anthroposophie sei durch alle wissenschaftlichen Studien belegt (Tagesschau vom 9. April). Wie rechtfertigt sich dann diese Ungleichbehandlung? Die Bevölkerung weiss nichts von diesem ungleichen Status und dieser Befreiung vom Wirksamkeitsnachweis.
Finden Sie das als profilierte Konsumentenschützerin nicht stossend? Wäre nicht Transparenz (Produktedeklaration) das absolute Minimum?
Die Bevorzugung von Heilmitteln der Homöopathie und Anthroposophie durch Befreiung vom Wirksamkeitsnachweis hat jedenfalls Konsequenzen, die Ihnen als Konsumentenschützerin meiner Ansicht nach gar nicht gefallen können.
Ein Beispiel:
Verschiedene Johanniskraut-Extrakte aus der Phytotherapie sind als Heilmittel bei leichten und mittleren Depressionen gut belegt mit Dutzenden von Patientenstudien.
Verschreibt sie ein Arzt oder eine Ärztin, werden sie darum von der Krankenkasse über die Grundversicherung bezahlt. Phytotherapeutika erreichen diesen Status im Gegensatz zu Homöopathika und Anthroposophika allerdings nur, wenn sie diese Belege wirklich liefern.
Johanniskraut-Extrakte werden jedoch seit Jahren nicht nur über die Grundversicherung abgerechnet, sondern auch direkt in Apotheken und Drogerien gekauft und selber bezahlt. Nun zeigte sich, dass einige dieser Heilpflanzen-Präparate mit gewissen Medikamenten Wechselwirkungen machen können, indem sie deren Abbau in der Leber beschleunigen. Daraufhin wurde der Verkauf von solchen gut belegten Johanniskraut-Extrakten auf Apotheken beschränkt. Und was machen nun die Drogerien? Sie weichen aus auf homöopathische Johanniskraut-Präparate zum Beispiel von Similasan. Hier ist das Johanniskraut (Hypericum perforatum) sehr stark verdünnt (D12/D15/D30, D 12 = 1 : 1 000 000 000 000).
Klar ist: Hier sind Wirkstoffe nur noch in allerkleinsten Spuren vorhanden und Wechselwirkungen daher ausgeschlossen. Darf die Drogerie also verkaufen.
Nur stellt sich dann zwangsläufig die Frage: Lassen sich die wechselwirkenden Inhaltsstoffe herausverdünnen, aber die Wirkung bleibt trotzdem dieselbe? Kaum denkbar. Diese Frage wird allerdings nicht geklärt, weil ja eben Homöopathika keinerlei Wirksamkeitsnachweis bringen müssen. Ganz nebenbei spart der Hersteller durch diese Bevorzugung auch alle Forschungs- und Entwicklungskosten. Er übernimmt einfach den Ruf, den sich die Johanniskraut-Extrakt-Präparate durch seriöse Forschung aufgebaut haben, und das ohne Eigenleistung. Zudem entspricht der Verkauf dieses homöopathischen Hypericum-Produktes auch nicht den Regeln der klassischen Homöopathie. Aber was soll‘s…
Geht es um solche Trittbrettfahrer, wenn Sie von der Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes reden?
Die Konsumentinnen und Konsumenten wissen kaum über diese Unterschiede Bescheid und werden meines Erachtens oft getäuscht.
Und was halten Sie von Pflanzentinkturen, die nach Vorschrift des Homöopathischen Arzneibuches (HAB) hergestellt werden, und daher bequemerweise (kein Wirksamkeitsnachweis) und viel billiger bei SWISSMEDIC als Homöopathika angemeldet werden, aber beim Patienten als Phytotherapeutika propagiert werden und auch so zum Einsatz kommen? Sind es solche etwas eigenartigen Grauzonen, für die Sie sich einsetzen?
2. Hausspezialitäten von Apotheken und Drogerien
Vor allem Ständerat Rolf Büttiker hat auf SF 1 (Arena) und Radio DRS 1 vage angedeutet, worum es beim “Bewahren des traditionellen Heilmittelschatzes” auch gehen könnte. Er hat gefährdete Heilmittelabgabemöglichkeiten der Drogerien und Apotheken angedeutet.
Zwischenbemerkung: Rolf Büttiker hat in beiden Sendungen die achtjährige Ausbildung der Drogisten herausgestrichen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ein Drogist oder eine Drogistin absolviert eine gute, seriöse 4jährige Ausbildung. Die meisten Mitarbeitenden in einer Drogerie haben diesen Abschluss. Wer als Geschäftsführer eine eigene Drogerie leiten möchte, geht noch für zwei anspruchsvolle Jahre Vollzeit an die Drogistenschule in Neuenburg, nachdem er oder sie zwei Jahre als Angestellter in einer Drogerie gearbeitet hat. Ein solcher Drogist HF (früher dipl. Drogist) hat also sechs Jahre Ausbildung. Auf eine 8jährige Ausbildung kommt nur, wer die zwei Jahre als Angestellter zur Ausbildung zählt. Ich bin selber ursprünglich dipl Drogist und finde es unredlich, von einer achtjährigen Ausbildung “der Drogisten” zu sprechen. Es ist dieses immer wieder anzutreffende aufplustern und sich grösser und kompetenter machen, das mich in der komplementärmedizinischen “Szene” zunehmend stört.
Rolf Büttiker hat in der Arena und auf DRS 1 wohl auf die sogenannten Hausspezialitäten angespielt, welche Apotheken und Drogerien ohne Wirksamkeitsnachweis verkaufen dürfen.
Dazu würden dann zum Beispiel all die Entschlackungskuren und Schlankheitsmittel gehören, welche von Apotheken und Drogerien jeden Frühling vor der Badesaison vor allem den Frauen angedreht werden. Aus fachlicher Sicht in der Regel vollkommener Schrott, allenfalls noch mit Gewöhnungsgefahr und mit Nebenwirkungen (Darmkrämpfe), weil oft starke Abführmittel enthaltend.
Der “Wunderfigurtee” zum Beispiel, den ich in einer Apotheke in Bern gekauft habe: Enthält als wirksame Bestandteile nur Abführpflanzen und entwässernde Heilpflanzen. Verspricht im Beipackzettel: “Beim Trinken von 1 Liter täglich kommen Sie Ihrer Traumfigur 2 – 3 Kilogramm pro Woche näher!” Kein Einzelfall!
So nimmt niemand ab, allenfalls gibt es einen Wasserverlust und eine Annäherung ans Traumfigurziel “Dörrfrucht”. Betrug an den Konsumentinnen, würde ich sagen.
Offenbar geht es um solche “Perlen” bei der Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes, für welche Sie sich einsetzen.
Was sagen Sie dazu als profilierte Konsumentenschützerin?
Auch hier scheint mir: Die Apotheken und Drogerien sollten ihre Hausaufgaben machen und weniger Schrott verkaufen, statt nach (noch mehr) staatlichen Schonräumen zu rufen.
3. Appenzeller Heilmittel-Liste
Oder geht es um die über dreitausend Heilmittel, die nur durch die Heilmittelkontrolle des Kantons Appenzell zugelassen und durch das neue Heilmittelgesetz in ihrer Existenz gefährdet sind? Der Kanton Appenzell verlangt ja generell keinerlei Wirksamkeitsbelege für “seine” Heilmittel, im Gegensatz zur SWISSMEDIC, die nur bei Homöopathika und Anthroposophika darauf verzichtet.
Auch auf dieser Appenzeller-Heilmittelliste gibt es vielleicht ein paar wertvolle Produkte, aber auch sehr viel Schrott und Konsumententäuschung. Darunter wieder viele Entschlackungskuren und Abmagerungsmittel. Ist das wirklich der traditionelle Heilmittelschatz, den es zu erhalten gilt?
Finden Sie, dass Sie etwas Gutes tun für die Naturheilkunde, wenn Sie auch den Schrott unter Heimatschutz stellen? – Ich finde ganz und gar nicht, dass ein solches Vorgehen für die Entwicklung einer fundierten und seriösen Naturheilkunde sinnvoll wäre.
Oder finden Sie, dass der Staat generell Heilmittel zulassen sollte, ohne Ansprüche zu erheben bezüglich Wirksamkeitsbelege oder nur schon fachlich fundierte Zusammensetzungen? Aber dann könnte man ja auf eine Heilmittelkontrolle ganz verzichten und müsste der Bevölkerung keine Qualitätssicherung vorgaukeln.
Wie viele dieser “Naturheilmittel”, die Sie unter dem Begriff des “traditionellen Heilmittelschatzes” unter Heimatschutz stellen wollen, können wirklich “Tradition” in Anspruch nehmen? Nicht sehr viele, würde ich vermuten.
Und ist Tradition wirklich schon Legitimation genug?
Maria Treben hat in ihren Schriften in den 1980er Jahren die Ringelblume pauschal gegen allerlei Krebsarten empfohlen. Das lässt sich traditionell aus alten Schriften begründen. Ringelblume wurde früher sogar “Herba canceri” genannt. Dieser “traditionelle” Therapievorschlag hat einigen Kindern mit Leukämie das Leben gekostet. Die Zeitschrift “Stern” hat dies damals recherchiert. Das Recht auf freie Meinungsäusserung erlaubt es Autorinnen wie Maria Treben, solche fahrlässigen Behandlungsvorschläge in ihren Schriften zu verbreiten. Obwohl das höchst problematische ist, stelle ich dieses Recht aufgrund von demokratischen Gründen nicht in Frage.
Kann ich aber nun aufgrund dieser Tradition ein Heilmittel aus Ringelblume gegen Krebs herstellen und propagieren? – Reicht auch hier die Tradition als Legitimation?
Oder gibt es hier dann doch wieder über die Tradition hinausgehend Kriterien, vielleicht sogar medizinische, die ein solches Heilmittel verhindern?
Und warum dann nicht auch bei den Entschlackungsmitteln und Schlankheitskuren?
Würden Sie dort einfach sagen, wenn die Leute dran glauben, ist das Qualitätsbeweis genug? Aber warum kümmern Sie sich dann als Konsumentenschützerin zum Beispiel um kritische Bewertungen von Kosmetika, Waschmitteln, Ferienkatalogen, Versicherungen usw.? Dort könnte man ja auch sagen, wenn die Leute dran glauben und es ihnen gut tut…
Aber ausgerechnet beim Thema Naturheilmittel / Komplementärmedizin befürworten Sie offenbar unter dem Begriff “traditioneller Heilmittelschatz” einen Schonraum für Schrott und Konsumententäuschung? Ich finde diese “positive Diskriminierung” verfehlt und wäre sehr interessiert daran von Ihnen zu hören, was sie genau unter “Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes” verstehen. Bisher habe ich im Vorfeld der Abstimmung vom 17. Mai dazu nur vage Andeutungen mitbekommen.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Klinik, Palliative Care
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch