Diese Frage stellt sich selbstverständlich nicht nur für die Naturheilkunde, sondern genauso für die Medizin und für alle Heilkunden auf der ganzen Erde.
Ich werde am Schluss dieses Beitrages erläutern, warum ich diese Frage gerade auch für die Naturheilkunde wichtig finde.
Der Psychiater Asmus Finzen gibt auf die Frage, warum unsere Kranken wieder gesund werden, sechs herausfordernde, aber sehr bedenkenswerte Antworten (die Kommentare unter den sechs Antworten stammen von mir):
1. Sie werden gesund wegen der Therapie, die wir anwenden.
Das ist für Therapeutinnen und Therapeuten jeder Couleur zweifellos die angenehmste Antwort – und das kommt tatsächlich vor.
2. Sie werden von alleine gesund
Das ist zwar potenziell kränkend für Therapeutinnen und Therapeuten jeder Art, aber es ist bei weitem der häufigste Fall. Die allermeisten Beschwerden verschwinden wieder, weil unser Organismus die Fähigkeit zur Selbstheilung besitzt.
Wer also bei jeder Besserung sogleich auf Punkt 1 schliesst, missachtet möglicherweise die Selbstheilungskräfte des Organismus.
3. Sie werden gar nicht wieder gesund
Es sieht also nur so aus. Ein gutes Beispiel dafür sind viele chronische Krankheiten, die typischerweise einen schwankenden Verlauf mit Auf-und-Abs zeigen.
Wann geht man zur Ärztin oder zum Heilpraktiker? Richtig – in sehr vielen Fällen dann, wenn es einem am schlechtesten geht. Auf dem Tiefpunkt holt man Hilfe.
Und was passiert dann? – Es geht wieder aufwärts. Diese “naturgemässe” Besserung wird gerne der Therapie zugute gehalten.
4. Sie werden trotz unserer Therapie wieder gesund
Eine Variante, die auch heute noch wohl weniger selten ist als wir annehmen. Die Medizingeschichte ist voll von Beispielen. So hat es ganz offensichtlich Menschen gegeben, welche die exzessiven und belastenden Aderlass- und Abführtherapien, die auf Viersäftelehren bzw. Humoralpathologien basieren, überlebt haben.
5. Sie werden wegen unserer Behandlung gesund, aber nicht wegen jener therapeutischen Faktoren, von deren Wirksamkeit wir überzeugt sind
Jeder Erfahrung, also auch die Erfahrung der Besserung von Krankheiten, ist mit verschiedensten Theorien kompatibel (Karl Popper). D. h. wir können sie mit verschiedenen Theorien erklären. So kann eine Theorie die Besserung zwar gut erklären, aber trotzdem total falsch sein.
Beispielsweise hat Brennnessel den Ruf, dass sie Beschwerden bei Rheuma lindert. Offenbar steckt hier ein Stück Erfahrung in dieser Überzeugung, welches von der Naturheilkunde über lange Zeit erklärt wurde mit der Ausschwemmung von Giftstoffen. Inzwischen ist aber klar geworden, dass bei Rheuma keine auszuschwemmenden Giftstoffe existieren. Diese althergebrachte Theorie ist also offenbar falsch. Neuere Erkenntnisse haben aber gezeigt, dass Brennnesselblätter entzündungshemmend wirken können. Möglicherweise ist dies eine passendere Theorie bzw. Erklärung für einen günstigen Effekt der Brennnessel bei Rheuma (wobei “Rheuma” allerdings ein sehr unspezifischer Sammelbegriff ist).
6. Sie sind gar nicht krank
Oft steckt hinter einer scheinbar wunderbaren Heilung schlicht eine falsche Diagnose.
Nicht selten werden aber auch Patientinnen und Patienten vorgängig für krank erklärt, bevor sie dann scheinbar erfolgreich wieder gesund behandelt und geheilt werden.
Ein Beispiel aus der Naturheilkunde scheinen mir die populären Kuren zur Entschlackung und Entgiftung. Zuerst wird den Leuten eingeredet, sie seien verschlackt, übersäuert und voller “Giftstoffe”. Anschliessend kann man das eingeredete Problem mit Blutreinigungsmitteln, Entschlackungstees oder Basenpulver beheben.
Wie schon erwähnt: Mit diesen sechs Antworten müssen sich meines Erachtens alle Varianten der Heilkunde auseinandersetzen.
Die Unterscheidung, ob bei einer beobachteten Besserung wirklich Antwort 1 vorliegt, oder eine der anderen fünf Antworten, versucht die Medizin mit Hilfe von Studien zu finden. Die zur Frage stehende Therapie wird mit einer Placebo-Behandlung verglichen, einer Scheinbehandlung also. Weder die behandelnde noch die behandelte Person dürfen dabei wissen, ob im konkreten Fall eine echte Behandlung (“Verum”) oder Placebo zur Anwendung kommt. Und es muss per Zufall entschieden werden, ob eine Versuchsperson der Verum- oder der Placebo-Gruppe zugeteilt wird ( = Randomisierung).
Dieses Vorgehen ist nicht unfehlbar. Manchmal widersprechen sich Studien, dann ist es wichtig zu klären, woran das liegen könnte. Gelegentlich sind Studien auch manipuliert, durch kommerzielle Interessen verfälscht etc.
Aber immerhin handelt es sich um ernsthafte Versuche der Unterscheidung zwischen Antwort 1 (es ist die Therapie, welche wirkt) und den anderen fünf Punkten.
In der Phytotherapie gibt es Heilpflanzen-Präparate, welche nach den gleichen Standards geklärt wurden bzw. werden und die sich als einer Placebo-Behandlung überlegen gezeigt haben.
Wir kennen aber auch viele Heilpflanzen, bei denen wir uns fast ausschliesslich auf die Erfahrungen traditioneller Pflanzenheilkunde stützen können.
In solchen Fällen ist es sehr schwierig zu entscheiden, welche der sechs Antworten nun zutreffen.
Sind denn Heilpflanzen, deren Wirkung nicht durch Studien belegt ist, unwirksam?
Dieser Schluss wäre ausgesprochen vorschnell, gibt es doch viele Heilpflanzen, die noch gar nie Gegenstand einer Untersuchung waren – vielleicht aus dem einfachen Grund, dass sich dafür kein “Sponsor” fand.
Meiner Ansicht nach darf man durchaus Heilpflanzen empfehlen und anwenden, deren Wirkung nicht in Studien nach wissenschaftlichen Kriterien belegt sind.
Dies aber unter mindestens drei Bedingungen:
Erstens braucht es ein Bewusstsein darüber, dass die Empfehlung und Anwendung auf wenig gesichertem Boden geschieht. Also keine absoluten Aussagen zu Wirkungen, keine Heilungsversprechungen.
Zweitens braucht es anstelle von Studien mindestens eine kritische Auseinandersetzung über mögliche Wirkungen und dazu gehört auch das Bewusstsein, dass es lange nicht immer der eigenen Therapie zuzuschreiben ist, wenn eine Krankheit bessert. Es braucht eine gewisse Bescheidenheit, die sich darüber klar bleibt, dass es noch fünf andere Antworten auf die Frage gibt, warum Patienten wieder gesund werden.
Drittens darf durch die Anwendung einer wenig gesicherten Therapie nicht eine für den entsprechenden Fall geeignetere Behandlung mit synthetischen Medikamenten oder mit anderen, besser dokumentierten Heilpflanzen-Präparaten verpasst werden.
Patientinnen und Patienten haben ein Anrecht auf das passendste Präparat und das ist nicht immer, aber wohl meistens, das wirksamste.
Naturheilkunde
Dass ich hier speziell die Naturheilkunde im Blick habe, hat nichts mit einer feindseligen Haltung dieser gegenüber zu tun. Im Gegenteil:
Die Naturheilkunde steht mit nah. Nach mehr als 25 Jahren Erfahrung als Ausbildner in diesem Bereich wird mir aber immer klarer, dass eine Auseinandersetzung mit diesen sechs Antworten für die Weiterentwicklung der Naturheilkunde bzw. Komplementärmedizin sehr wichtig wäre – und dass diese Auseinandersetzung über sehr weite Strecken praktisch nicht existiert.
Sehr viele Therapeutinnen und Therapeuten in Komplementärmedizin bzw. Naturheilkunde deuten jede Besserung sehr schnell entsprechend Punkt 1. Jede Besserung wird sogleich der angewandten Therapie zugeschrieben. Diese Haltung erschwert massiv eine selbstkritische Reflexion des eigenen therapeutischen Handelns.
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Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
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Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
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