Die Fragwürdigkeit vieler Kommentare zur Verhaftung des Starregisseurs Roman Polanski hat mich sehr überrascht. Wenn Kulturschaffende direkt nach der Verhaftung dessen sofortige Freilassung fordern, scheint mir dies zwar ziemlich unreflektiert, aber aus dem ersten Schreck heraus vielleicht noch entschuldbar. Es stellt sich hier nur die Frage, ob die Betreffenden irgendwann schon mal von den Grundsätzen eines Rechtsstaates gehört haben. Offenbar ist ihnen nicht klar, dass ein Rechtsstaat keine Ausnahme machen kann für einen prominenten und genialen Regisseur, ohne sich selber ausser Kraft zu setzen. Dass Prominente sich ausserhalb der Gesetze stehend sehen, kennen wir doch zur Genüge von Silvio Berlusconi. Dass nun die Fans eines Prominenten diesen ausserhalb der Gesetze stehend sehen, ist jedenfalls nicht viel besser. Jeder Hauch einer Berlusconisierung der Verhältnisse scheint mir verheerend.
Inzwischen ist jedoch genügend Zeit verflossen, um sich über die Hintergründe und Umstände dieser Verhaftung zu informieren und darüber nachzudenken.
Aber viele Kommentare sind meinem Eindruck nach immer noch geprägt von einer hoch fragwürdigen, ziemlich blinden Loyalität mit einem verehrten Idol.
Die Behörden hätten Roman Polanski vor der Verhaftung warnen müssen.
Das fordert der Grüne Nationalrat Daniel Fischer, ein Anwalt und Strafverteidiger (!). Das fordert Daniel Binswanger im „Magazin“ (Nr. 40/2009), dessen kluge Kommentare ich oft schätze. Das fordert Alt-Bundesrat und Ex-Justizminister Christoph Blocher, der allerdings nicht zum ersten Mal ein problematisches Verhältnis zum Rechtsstaat zeigt.
Sehr erstaunlich, dass diese doch sehr unterschiedlichen Personen sich unisono für die Begünstigung eines Prominenten vor dem Gesetz aussprechen.
Mein Vorschlag: Daniel Vischer, Daniel Binswanger und Christoph Blocher sollen doch zusammen eine Volksinitiative lancieren, um den Grundsatz einer Vorwarnung von prominenten gesuchten Verbrechern anlässlich einer bevorstehenden Verhaftung in der Verfassung zu verankern. Dann haben wir für ihre Forderung wenigstens eine Rechtsgrundlage.
Wenn Daniel Vischer die Grünen ins Boot holt, Christoph Blocher die SVP von der Wichtigkeit dieses Anliegens überzeugt und seine finanziellen Ressourcen zu Verfügung stellt, und Daniel Binswanger publizistische Schützenhilfe via Tamedia gibt, dürfte eine solche Volksinitiative locker die nötigen Unterschriften bekommen. Keine Frage aber, dass die Stimmberechtigten ein solches Anliegen haushoch bodigen würden. Im “einfachen Volk” ist meinem Eindruck nach durchaus noch ein Sensorium vorhanden für die Bedeutung der Rechtsgleichheit.
Das Parlament könnte ja dann einen Gegenvorschlag ausarbeiten, wonach die Vorwarnung durch die Behörden anlässlich einer geplanten Verhaftung bei allen gesuchten Verbrechern zur Pflicht wird. So wäre mindestens die Rechtsgleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger gewahrt…….
Differenzierter
Differenzierter, aber an einigen Punkten immer noch sehr fragwürdig, scheint mir der Kommentar von Manfred Papst in der heutigen “NZZ am Sonntag” unter dem Titel “Korrekt gehandelt und doch vieles falsch gemacht.”
Papst schreibt: “Die Verhaftung des Filmregisseurs Roman Polanski bei seiner Einreise in die Schweiz war rechtmässig. Doch sie erfolgte zum falschesten Zeitpunkt und bringt niemandem etwas.” Und er spricht sich zugunsten der Rechtsgleichheit und gegen eine behördliche Vorwarnung aus.
Über den Zeitpunkt der Verhaftung kann man sich durchaus kritische Gedanken machen. Dann müsste aber vor allem in Frage gestellt werden, warum Polanski über so viele Jahre in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern nicht festgesetzt wurde, und ob auch hier der “Promi-Effekt” mitgewirkt hat. Das wäre dann der Skandal und nicht die Verhaftung nun bei der Einreise zum Filmfestival.
Papst schreibt: “Ein kantonaler Beamter fragte beim Justizdepartement nach, was im Fall der Einreise Polanskis zu tun sei. Das EJPD setzte sich mit den zuständigen Behörden in den USA, mit denen ein Rechtshilfeabkommen besteht, in Verbindung und veranlasste die Verhaftung des Regisseurs, als er am 26. 9. am Zürcher Flughafen ankam.”
Bei diesem Vorgehen, so schreibt Papst, scheint es sich “eher um eine typisch helvetische Mischung aus Formalismus und vorauseilenden Gehorsam zu handeln.”
Mit Verlaub: Ich finde, dieser kantonale Beamte und die Leute im EJPD haben hier nur ihren Job gemacht, für den sie angestellt sind.
Natürlich ist es unschön, wenn Polanski genau in einem Moment verhaftet wird, an dem er für sein Lebenswerk eine Auszeichnung bekommen sollte.
Immerhin hält Papst die da und dort aufgetauchte Vorstellung, dass die Behörden dem Regisseur absichtlich eine Falle gestellt haben, aufgrund der Chronologie der Ereignisse für unzutreffend.
Aber selbst wenn es sich um eine Falle gehandelt hätte:
Es schiene mir durchaus zulässig, einen international mit Haftbefehl gesuchten Kriminellen mit einer Falle festzusetzen. Insofern gibt es meines Erachtens gar keinen falschen Zeitpunkt.
Papst hält die Beteuerungen der verantwortlichen Personen, sie hätten nur jetzt und nur so handeln können, für nicht sehr überzeugend. Das kann ich nicht gut beurteilen. Doch die zwei Beispiele, die Papst dafür aufführt, dass Behörden durchaus rechtliche Spielräume nutzen, überzeugen mich noch weniger:
“Erst vor wenigen Wochen hat sich die Schweiz beim libyschen Diktator Ghadhafi in aller Form für die Anwendung geltenden Rechts entschuldigt, und im Streit mit den USA um Steuerbetrug und Bankgeheimnis hat sie geltende Gesetze per Notrecht ausser Kraft gesetzt.”
Zu Libyen: Mit dieser Entschuldigung durch Bundesrat Merz wurde meines Erachtens kein schweizerisches Gesetz gebrochen oder gebeugt. Ob dieses Vorgehen geschickt war, ist eine andere Frage. Ich kann aber nachvollziehen, dass im Bemühen um die Freilassung von unrechtmässig festgehaltenen Personen manchmal zu Mitteln gegriffen wird, die sehr ambivalent sind. Mit diesem Vorgehen wird jedenfalls nicht ein Krimineller dem Zugriff der Justiz entzogen. Dieser Vergleich hinkt vollkommen.
Zum Fall UBS:
Tatsächlich, hier wurden per Notrecht geltende Gesetze ausser Kraft gesetzt. Der Sinn des Notrechts steht hier nicht zur Diskussion und auch nicht, ob seine Anwendung im Fall UBS nötig war oder nicht.
Dass die Anwendung von Notrecht im Fall der Verhaltung von Roman Polanski jedoch völlig überzogen gewesen wäre, wird aber wohl niemand ernsthaft bestreiten. Auch dieser Vergleich ist meines Erachtens ziemlich an den Haaren herbei gezogen.
Am Ende seines Kommentars stellt Manfred Papst die Frage, wem mit Polanskis später Verhaftung gedient ist, und er kommt zum Schluss:
“Der Gesellschaft sicher nicht. Für sie ist der 76-jährige Regisseur keine Gefahr mehr. Dem Opfer auch nicht. Es ist nun gegen seinen Willen wieder eine öffentliche Person. Die Schweiz trägt eine Imageschaden davon, und auch die USA dürften an der Sache wenig Freude haben: Sie müssen sich jetzt mit einem – auch aufgrund damaliger Fehler der Justiz – entsetzlich komplizierten Fall herumschlagen, bei dem es nur Verlierer gibt und der allenfalls ein Exempel statuiert.” Die Verhaftung also “bringt niemandem etwas.”
Einspruch mit Nachdruck!
Ja, alles spricht dafür, dass Polanski für die Gesellschaft keine Gefahr mehr darstellt.
Ja, das Opfer hat ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden.
Nein, ich finde gar nicht, dass die Schweiz einen Imageschaden davonträgt, wenn sie einen internationalen Haftbefehl vollzieht. Polanski hat die gravierende Tat gestanden, es droht ihm in den USA weder die Todesstrafe noch das Abhacken der Hände.
In den USA soll ein Gericht entscheiden, ob nach so langer Zeit ein korrekter Prozess noch möglich ist. Die lange Zeitdauer kann aber nicht zugunsten von Polanski sprechen, weil dieser sich dem Prozess durch Flucht entzogen hat.
Und ja, die US-Justiz wird sich auch mit den Ungereimtheiten und Fehlern im diesem Verfahren befassen müssen. Das wird durch den zeitlichen Abstand vielleicht sogar eher möglich sein. US-Anwälte sind nicht auf den Kopf gefallen und Herr Polanski kann sich bestimmt einen guten Verteidiger leisten.
Und zum Schluss:
Diese Verhaftung dient meines Erachtens durchaus jemandem: Der Rechtsgleichheit.
Das ist zwar eine ziemlich abstrakte Sache, die nicht so personalisiert greifbar ist wie ein berühmter Regisseur oder sein Opfer.
Aber diese Rechtsgleichheit ist ein Grundpfeiler des Rechtstaates und sie ist permanent bedroht. Wer viel Geld hat kommt viel leichter zu seinem Recht. Das ist stossend.
Genauso gefährlich für den Rechtsstaat ist es aber, wenn Prominente vom Zugriff der Justiz ausgenommen werden. Im Falle des Roman Polanski scheint mir, dass der “Promi-Schonraum” schon viel zulange angedauert hat. Dass die Justiz nun endlich gehandelt hat, stärkt den Rechtsstaat.
Dass nun die Schatten der Vergangenheit einen genialen Regisseur eingeholt haben und seinen Lebensabend verdüstern, ist allerdings tragisch.
Beim Umgang mit dem Fall Polanski in der Öffentlichkeit können wir meines Erachtens lernen, wie wichtig Ambivalenztoleranz ist. Es scheint mir eine der wichtigen Herausforderungen der Gegenwart, dass wir lernen, ambivalente Situationen zu bewältigen: Genie und Verbrechen können in einer Person zusammenfallen. Diese Spannung gilt es auszuhalten, ohne die Person zu dämonisieren oder zu idealisieren.
Martin Koradi
P.S.:
Hier finden Sie eine Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.
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Inserat:
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
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