Am 17. Mai 2009 haben die teilnehmenden Stimmberechtigten in der Schweiz einem Verfassungsartikel zugestimmt, welcher Bund und Kantone beauftragt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Komplementärmedizin zu berücksichtigen.
Am Parlament läge es nun, diesen sehr offen formulierten Auftrag zu konkretisieren. Die Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier vermeidet aber meinem Eindruck nach bisher jede Differenzierung. Zu hören sind hauptsächlich pauschale, vernebelnde Formulierungen und irreführende, unreflektierte, hohle Phrasen. Populismus halt, der sich um eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Thema drückt.
Am deutlichsten zeigt sich dies – leider – bei der Sozialdemokratischen Partei (SPS).
Für die SPS – so mein Eindruck – ist Komplementärmedizin grundsätzlich und umfassend gut und heilsam.
Nebulöse Begriffe und hohle Phrasen
Das zeigt sich zum Beispiel in der Wortwahl. So fordert die Sozialdemokratische Partei den “Heilmittelschatz” und die “Vielfalt an traditionellen Heilmittel” zu bewahren und SP-Nationalrat Steiert verlangt Massnahmen zur Erhaltung bewährter Heilmittel.
Diese Forderungen nach Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes tönen sehr schön und sprechen auch vielen Menschen aus dem Herzen. Wer stellt sich schon gegen die Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes?
Hinter den schönen Phrasen versteckt sich aber nur die Forderung, dass auch in Zukunft Produkte als Heilmittel verkauft werden dürfen, ohne dass deren Hersteller die Wirksamkeit glaubwürdig dokumentieren müssen.
Die Problematik der schönen Phrasen, wie sie in diesem Zusammenhang von der SP verwendet werden, zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen. Es ist nämlich vollkommen unklar, was die Sozialdemokratische Partei denn genau meint mit der Forderung nach Bewahrung des traditionellen Heilmittelschatzes.
Bisher konnte mir auch noch niemand in der SPS sagen, um welche Heilmittel genau es der Partei geht, geschweige denn, aufgrund welcher Argumente sie unter Schutz zu stellen seien.
Dabei stellen sich an diesem Punkt zahlreiche Fragen:
1. Was meint die SPS genau mit traditionellen Heilmitteln?
Wie alt muss ein Heilmittel sein, um als traditionell zu gelten? Zehn, fünfzig, hundert oder fünfhundert Jahre?
Und ist “traditionell” allein schon ein schützenswerter Wert?
Welche traditionellen Heilmittel genau will die SPS retten? Wirklich traditionelle Heilmittel wie Kamillentee oder Johannisöl sind nämlich nicht bedroht (aber was sind wirklich traditionelle Heilmittel?)
Und was spricht denn dafür, traditionelle Heilmittel pauschal unter Heimatschutz zu stellen?
Für mich steht fest, dass es wertvolle traditionelle Heilmittel gibt. Genauso existiert in diesem Bereich aber auch jede Menge Schrott und Betrug an Konsumentinnen und Konsumenten.
Ist “Tradition” für die SPS trotzdem generell gut und erhaltenswert?
Wenn Ja, dann schützt die SPS auch massenhaft hoch fragwürdige Heilmittel. Und ausserdem haben wir dann schlechtere Argumente gegen Frauenbeschneidung und Diskriminierung von Homosexuellen – beides ist traditionell gut verankert. Und Tradition ist doch generell schützenswert, oder?
Wenn nein: Welche Kriterien hält die SPS für geeignet zur Unterscheidung zwischen erhaltenswerten und nicht erhaltenswerten traditionellen Heilmittel? Oder will die SPS gar keine Unterscheidung?
“Traditionell” ganz simpel als “gut”
Wer “traditionell” ganz simpel als “gut” betrachtet betreibt meines Erachtens eine ziemlich obskure Retro-Romantik, oder anders ausgedrückt eine Vergangenheitsverklärung.
Erstaunlich, dass die SPS auf dieser Welle surft.
Das Alter eines Heilmittels kann aber ja wohl nicht pauschal als Kriterium für Vertrauenswürdigkeit gelten. Sonst können wir uns auch einsetzen für die Erhaltung der “traditionellen” 60-Arbeitsstunden-Woche.
Welche Argumente also sprechen dafür, den traditionellen Heilmittelschatz – ganz generell – zu bewahren?
Und wenn der traditionelle Heilmittelschatz nach Ansicht der SPS ganz pauschal unter Schutz gestellt werden soll: Warum nicht auch der traditionelle Schatz an Operationstechniken und der traditionelle Schatz an Diagnosemethoden?
Traditionelle Operationstechniken und Diagnosemethoden müssten doch genauso schützenswert sein wie traditionelle Heilmittel, wenn “Tradition” ein Wert an sich ist?
Hat die SPS Argumente, warum die traditionellen Heilmittel ganz pauschal wirksamer, sicherer und wertvoller sind als traditionelle Operationstechniken und traditionelle Diagnosemethoden?
Oder geht es nicht vielleicht darum, dass es für traditionelle Heilmittel eine aktive Hersteller-Lobby gibt, während an traditionellen Operationstechniken und traditionellen Diagnosemethoden niemand auch nur einen müden Franken verdient.
2. Was meint die SPS genau mit “bewährte Heilmittel”?
Nach welchen Kriterien gedenkt die SPS zu bestimmen, was zu den bewährten Heilmitteln gehört, die es zu erhalten gilt‘
Heisst “bewährt” einfach “wirksam”? Dann braucht es Kriterien dafür, was als wirksam gilt. Die Erfahrung von Patienten, dass es ihnen nach der Anwendung eines Heilmittels besser geht, reicht nicht. Schliesslich heilen die allermeisten Krankheiten auch von selbst – und chronische Krankheiten bessern sich immer wieder zwischendurch.
Oder heisst “bewährt” einfach, dass das Heilmittel schon lange verkauft wird? Das ist ein sehr schwaches Argument, weil es nichts über Qualität aussagt. Auch völlig wirkungslose Pseudoheilmittel werden über Jahrhunderte verkauft. Die Medizingeschichte ist voll von Beispielen.
3. Was meint die SPS genau mit dem traditionellen “Heilmittelschatz”?
Der Begriff “Heilmittelschatz” ist meines Erachtens ziemlich manipulativ. Ein Schatz ist ja fraglos etwas Wertvolles, das es zu bewahren gilt.
Die Sozialdemokratische Partei sagt der Bevölkerung aber nicht, was genau sie zu diesem Schatz zählt (meinem Eindruck nach weiss die SPS das selber nicht). Hausspezialitäten von Apotheken und Drogerien?
Darunter gibt es viel Konsumentenbetrug wie zum Beispiel Abführtees, die als Wundermittel zur Gewichtsreduktion verkauft werden. Oder unnütze Vitalstoffpräparate, die laut Studien gar die Sterblichkeit der Konsumenten erhöhen könnten.
Oder geht es der SPS um die “Appenzeller Heilmittelliste”?
Im Kanton Appenzell (AR) ist ja der Verkauf von wirkungslosen (und zum Teil sehr fragwürdigen) Heilmitteln staatlich legitimiert. Diese Praxis ist durch das neue Heilmittelgesetz bedroht und soll nun offenbar mit Hilfe der SPS bewahrt werden.
Weshalb wird nicht offen dargelegt, um welche Art von “Heilmittelschatz” es geht?
Dann könnten die Bürgerinnen und Bürger nämlich mitdiskutieren, ob sie einen solchen pauschalen Schutz wollen. Ich vermute, dass sich dann eine Mehrheit der Bevölkerung für Differenzierung und gegen Pauschalisierung aussprechen würde. Auch bei der “Appenzeller-Liste” müsste man dann sorgfältig und differenziert prüfen, was erhaltenswert ist und zurecht als Heilmittel gelten soll und was nur dazu dient, kranken Menschen falsche Hoffnungen zu machen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Dazu müsste man sich aber mit dem Thema auseinandersetzen und könnte nicht in einer bequemen Verklärung komplementärmedizinischer Produkte verharren.
Kann die Sozialdemokratische Partei konkrete Heilmittel nennen, für deren Schutz sie sich einsetzt, und begründen, weshalb sie diese Präparate für schützenswert hält?
Warum will die SPS solche Produkte schützen? Wo bleibt der Konsumentenschutz? Sollen auch weiterhin vollkommen unsinnige und unwirksame “Heilmittel” verkauft werden dürfen? Wem nützt dies? Warum verlangt die SPS “Heimatschutz” für Konsumententäuschung?
Die Sozialdemokratische Partei macht es sich meines Erachtens sehr einfach: Indem sie alle “traditionellen” Heilmittel als “Schatz” bezeichnet, muss sie sich keine Gedanken dazu machen, wie sich “Perlen” von “Schrott” trennen lassen. Es gibt ja offenbar für die SPS nur “Perlen”. In einem Schatz kann es niemals Schrott und niemals Betrug geben.
Kann die SPS wenigstens genau sagen, welche Heilmittelgruppen sie als “Schatz” unter Schutz stellen will?
Ist die SPS bereit, konkrete Beispiele zu diskutieren? Im Abstrakten kann man nämlich gut grosse Reden schwingen und schöne Worte machen.
Und welche Firmen sollen auf Kosten der Konsumenten von diesem pauschalen “Heimatschutz” für Schrott profitieren?
Dieser “Heimatschutz” für angeblich traditionelle Heilmittel schadet im übrigen auch jeder seriösen Phytotherapie / Pflanzenheilkunde. Diese dokumentiert und belegt die Wirksamkeit ihrer Heilpflanzen-Präparate nämlich sorgfältig durch aufwendige Entwicklungs- und Forschungsarbeiten. Unter dem Label “traditionell” laufen dagegen zahlreiche Produkte, die reine Trittbrettfahrer sind, nie einen müden Franken in Entwicklung und Forschung gesteckt haben und keinerlei Gewähr bieten für Wirksamkeit und Sicherheit.
Wenn der Staat Produkte als Heilmittel akzeptiert, deren Wirksamkeit in keiner Weise dokumentiert ist, muss sich jeder Phytotherapeutika-Hersteller ernsthaft überlegen, ob er noch unnötigerweise Geld in die Forschung steckt. Forschung wird so nämlich schnell einmal zum Wettbewerbsnachteil, wenn die Konkurrenz sich solche Ausgaben ersparen kann.
Transparenz wäre nötig als Minimalstandard
Oder ist die SPS wenigstens bereit, zu Gunsten der Konsumentinnen und Konsumenten für Transparenz zu sorgen und eine Deklarationspflicht einzuführen, die offenlegt, welche Produkte einen ausreichenden Wirksamkeitsbeleg vorweisen können, und welche unter dem Label “Heimatschutz” betreffend Wirksamkeit undokumentiert akzeptiert werden?
Wenn die staatliche Heilmittelkontrolle nämlich ein Produkt auf eine Heilmittelliste nimmt und zum Verkauf in Apotheken und Drogerien freigibt, macht er damit meines Erachtens eine positive Aussage zur Wirksamkeit. Und wenn er dabei unbesehen wirksame und unwirksame Produkte in den gleichen Topf wirft, wirkt er mit bei der Täuschung von Konsumentinnen und Konsumenten. Diesen schon jetzt bestehenden Zustand halte ich für vollkommen intransparent und unakzeptabel.
Sozialdemokratische Partei – blind für Konsumentenschutz im Bereich Komplementärmedizin?
Überraschend ist für mich, wie konsumentenfeindlich die SPS in diesem Bereich agiert – obwohl die Partei doch immer wieder hervorstreicht, dass sie die Interessen der Konsumenten vertritt. Davon kann ich hier nichts erkennen. Ich sehe blinde Loyalität gegenüber einer einflussreichen und zum Teil fundamentalistisch angehauchten Komplementärmedizin-Lobby.
Und ich bin erstaunt, wie nebulös, intransparent und manipulativ die von der SPS verwendeten Begriffe sind.
Meinem Eindruck nach kommt dies aus einer sehr einseitigen, pauschalen Interpretation der Komplementärmedizin als “heile Welt”.
Differenzierung statt pauschalen „Heimatschutz“
Gut dreissig Jahre Erfahrung im Bereich Komplementärmedizin / Naturheilkunde – den überwiegenden Teil davon als Ausbildner – haben mir ein differenzierteres Bild gezeigt. Ich kann je länger desto weniger einfach pauschal für oder gegen Komplementärmedizin sein. Es braucht meines Erachtens Differenzierung, nicht pauschalen “Heimatschutz”. Und es braucht viel kritische Auseinandersetzung, wenn die Komplementärmedizin sich weiter entwickeln soll. Und zwar “kritisch” im ursprünglichen Sinne einer griechischen “kritike”, einer “Kunst der Beurteilung” als Fähigkeit zu sorgfältiger Unterscheidung.
Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde
Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
Kräuterexkursionen in den Bergen / Heilkräuterkurse
Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital
Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch
Schmerzen? Chronische Erkrankungen? www.patientenseminare.ch