Auf Exkursionen trifft man ihn häufig, den Storchenschnabel (Geranium robertianum), eine alte Heilpflanze. In letzter Zeit fällt mir aber auf, dass immer wieder hoch dogmatische Aussagen über die Wirkung des Storchenschnabels kursieren.

Zum Beispiel:

– Storchenschnabel wirkt gegen Schock!

– Storchenschnabel wirkt gegen Unfruchtbarkeit

– Storchenschnabel entstaut die Lymphgefässe

Eindrücklich ist für mich, wie absolut und völlig zweifelsfrei diese Behauptungen meist geäussert werden.

Auf der Website einer Drogerie steht sogar als Empfehlung für die Storchenschnabeltinktur:

“Bei akuten Schockzuständen ist mit einigen Tropfen eine Lösung innerhalb von Sekunden möglich.”

Ich frage bei solch absoluten Aussagen gerne präziser nach:
Was verstehen Sie genau unter “Schock”? Schock ist ein lebensbedrohlicher Zustand. Hilft da wirklich Storchenschnabel auf der Intensivstation? In der Ambulanz? Oder ist eher “Schreck” gemeint? Ein Schreck geht allerdings von selbst vorüber.

Und gegen welche Art von Unfruchtbarkeit soll Storchenschnabel genau helfen?
Da gibt es ja ganz verschiedene Hintergründe. Storchenschnabeltee oder Storchenschnabeltinktur wirkt in jedem Fall?

Es kommt allerdings zu solchen Aussagen und Fragen praktisch nie eine auch nur ansatzweise plausible Erklärung oder Begründung.

Die Aussagen stehen meist einfach als dogmatische Glaubenssätze im Raum. Beim Thema Storchenschnabel und unerfüllter Kinderwunsch hört man als Begründung für seine Wirksamkeit bei unerfülltem Kinderwunsch, dass der Storchenschnabel Früchte ausbildet, die in der Form dem Schnabel eines Storches gleichen.
Da muss man allerdings schon sehr überzeugt sein davon, dass der Storch beim Kinderkriegen eine Rolle spielt……

Manchmal erscheint mir das wie eine Art von Religionsersatz. Dem Papst in Rom glaubt man nicht mehr, aber irgendetwas total Gewisses muss her, an das man sich halten kann. Nur ja keine Fragen und schon gar keine Zweifel! Bewahre, wo würden wir denn da hinkommen!

Weder in der traditionellen Pflanzenheilkunde noch in der neuzeitlichen Phytotherapie sehe ich irgendwelche plausiblen Hinweise, die auf eine Wirkung des Storchenschnabels gegen Schock, Unfruchtbarkeit oder Lymphstauungen hinweisen.

Es scheint sich hier schlicht und einfach um die Behauptungen von “Propheten” zu handeln, die überzeugt sind, das “Wesen” der Pflanzen erkannt zu haben.

Solchen Beschreibungen des “Wesens” der Pflanzen ist eigen, dass sie in der Regel sehr stark bezogen sind auf Beschwerden, Schwierigkeiten oder Krankheiten des Menschen und dass offen gelassen wird, in welcher Bedeutung der Begriff “Wesen” gemeint ist.

Bevor also vom Wesen der Pflanzen gesprochen wird sollten Redende und Zuhörende klären, was genau sie unter dem “Wesen” verstehen, sonst reden sie aneinander vorbei.
Das “Wesen” ist in der abendländischen Kultur einer der schwierigsten Begriffe, der immer wieder sehr unterschiedlich verstanden und aufgefasst wurde.

Aber nehmen wir mal der Einfachheit halber an, es gebe ein “Wesen” der Pflanzen.
Und nehmen wir der Einfachheit halber an, dass wir Menschen ein solches “Wesen der Heilpflanzen” erkennen können.

Dann müsste dieses “Wesen” ja etwas sein, das die Pflanze ganz und gar ausmacht, unabhängig von menschlicher Wahrnehmung, Interpretation und Assoziation. Ihren Kern sozusagen.
Warum nur geht es dann in den Wesensbeschreibungen der Pflanzen fast immer um menschliche Bedürfnisse, Beschwerden, Krankheiten, Probleme, Interpretationen, Phantasien etc.?

Warum gehört zum Beispiel die Wirkung gegen “Schock” zum Wesen des Storchenschnabels?
Das scheint mir doch sehr eigenartig. Wenn Pflanzen ein Wesen haben, müsste es meiner Ansicht nach darin um sie selbst gehen! Und nicht um uns.
In solchen Wesensbeschreibungen steht aber fast immer der Mensch im Zentrum.
Daher scheinen sie mir nicht nur sehr dogmatisch, sondern auch ziemlich anthropozentrisch und narzisstisch. Der Mensch bezieht hier die Natur ganz und gar auf sich.

Woher kommt es, dass der Mensch sich hier so wichtig nimmt in der Beziehung zur Natur?

Und woher kommt dieser blinde Dogmatismus im Gefilde von Naturheilkunde bzw. Komplementärmedizin, welcher Behauptungen einfach ungeprüft übernimmt?

Welche Bedürfnisse erfüllt diese Art der Pflanzenbeschreibung? – Vielleicht liegt ja die Attraktivität gerade darin, dass man mit solchen Vorstellungen die Pflanzen ganz und gar auf sich beziehen kann.
Ausserhalb des Bewusstseins bleibt dabei wohl, dass die ganze narzisstische “Geschichte” selbst inszeniert ist.
Etwas mehr Bescheidenheit im Umgang mit den Pflanzen wäre meines Erachtens sehr angebracht. Und diese blindgläubige, dogmatisierte Form der Pflanzenheilkunde scheint mir sehr fragwürdig.

Zum Thema Storchenschnabel und Unfruchtbarkeit / unerfüllter Kinderwunsch siehe auch:
Pflanzenheilkunde: Storchenschnabeltee gegen Kinderlosigkeit?

Ein ähnliches Thema:

Signaturen der Pflanzen: Fragwürdiger Neuaufguss der Signaturenlehre

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

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