Pflanzen und Tiere reagieren weltweit auf die Klimaerwärmung. Das betrifft auch den Alpenraum. Wiener Wissenschaftler haben nun die Überlebenschance von Gebirgspflanzen berechnet und kommen zum Schluss, dass Enzian und Edelweiß etwa drei Viertel ihrer Lebensräume verlieren werden.
Andere Pflanzen wie die Clusius-Primel oder das Portenschlag-Läusekraut werden bis Mitte des nächsten Jahrhunderts aussterben – und dies weltweit, weil sie nur in den Alpen vorkommen.
Dies berichten Wissenschaftler vom Department für Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie der Uni Wien in einer Studie, in der sie Wanderungsprozesse der Gebirgsfauna mit einem neuen Modell vorhersagen.
Das Modell basiert zum einen auf einer Klimaentwicklungsprognose des Weltklimarats IPPC und zum anderen auf der heutigen Verbreitung von 150 Gebirgspflanzenarten, darunter Edelweiß, Enzian, Alpenglöckchen und verschiedene Primelarten.
Die Wissenschaftler unterteilten die gesamten Alpen – von Frankreich bis Österreich – in 20 Millionen lokale Untersuchungseinheiten und errechneten daraus die Gebietsveränderungen der Pflanzen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts. Dabei kamen sie zum Schluss, dass die Alpenpflanzen Im Durchschnitt 44 bis 50 Prozent ihrer heutigen Fläche verlieren.
Das führe jedoch bis zu diesem Zeitpunkt nicht automatisch zum Aussterben. Die Wissenschaftler gehen von einem „extinction debt“ aus, wie sie in ihrer Studie feststellen. Dabei handelt es sich um eine Art „Aussterbe-Verzögerung“, die in bisherigen Modellen nicht berücksichtigt wurde.
Um langfristig an einem Standort zu überleben, muss eine Pflanze den vollständigen Reproduktionszyklus abwickeln können, also Samen bilden, keimen, heranwachsen, blühen und schließlich wieder Samen produzieren. Veränderungen der Standortbedingungen als Folge des Klimawandels können den erfolgreichen Abschluss des vollständigen Lebenszyklus erschweren oder verunmöglichen. Die Pflanzenart ist dann an diesem Standort längerfristig nicht überlebensfähig.
Es dauert allerdings einige Zeit, bis sie tatsächlich verschwindet, denn ausgewachsene Alpenpflanzen halten Einiges aus. Die „Aussterbe-Verzögerung“ beträgt durchschnittlich 40 bis 50 Jahre – bei manchen Pflanzenarten deutlich weniger, bei anderen viel mehr.
In den kommenden Jahrzehnten werden deshalb wahrscheinlich nur geringe Verluste an Pflanzenarten in den Alpen zu beobachten sein. Das sage aber nichts über die längerfristige Zukunft dieser Arten aus, betont Karl Hülber vom Wiener Institut für Naturschutzforschung und Ökologie (VINCA), ein Mitautor der Studie. Irgendwann sterbe auch die widerstandsfähigste und langlebigste Pflanze und dann sei es vorbei.
Bis zu acht Prozent aller Pflanzenarten werden laut Prognose bis zum Ende des 21. Jahrhunderts an Orten wachsen, an denen ein dauerhaftes Überleben unmöglich ist. Berücksichtigt man den Verzögerungseffekt und geht davon aus, dass es nicht wieder kühler wird, werden diese Pflanzenarten bis zum Jahr 2140 ausgestorben sein.
Zu den zukünftigen Opfern der Klimaerwärmung gehören etwa die Zwergprimel und das Alpenglöckchen. Die Zwergprimel wird laut Modell bis zum Jahr 2100 100 Prozent ihrer Lebensräume verlieren, das Alpenglöckchen 98 Prozent. Auch das Edelweiß und diverse Enzianarten sind bedroht, denn sie verlieren 70 bis 80 Prozent der für sie bewohnbaren Gebiete in den Alpen.
Noch dramatischer ist die Entwicklung für sogenannte endemische Arten, also Pflanzen, die es nur in der alpinen Region gibt. Von ihnen werden unter den erwähnten Bedingungen bis zu 28 Prozent aller Arten bis ins Jahr 2140 ausgestorben sein. Das ist besonders besorgniserregend, weil diese Pflanzearten im Falle des Aussterbens unwiederbringlich verloren sind.
Quelle:
http://science.orf.at/stories/1698337/
Die Studie:
„Extinction debt of high-mountain plants under twenty-first-century climate change“ von Stefan Dullinger und Kollegen ist in „Nature Climate Change“ erschienen.
http://www.nature.com/nclimate/journal/vaop/ncurrent/full/nclimate1514.html
Kommentar & Ergänzung:
Aus der Beschreibung geht meinem Eindruck nach nicht deutlich hervor, weshalb die Alpenpflanzen durch die Klimaerwärmung bedroht sind:
Wird das Klima wärmer, wandern Pflanzen, die sonst in tieferen Regionen wachsen, zunehmend in die Gipfelregionen. Sie verdrängen dort die Pflanzenarten der höheren Standorte, denn Gipfelpflanzen können ja nicht einfach auch nach oben ausweichen.
Alpenpflanzen wie Enzian und Edelweiss beeindrucken nicht nur mit ihren zum Teil sehr intensiven Farben. Sie sind auch faszinierende Überlebenskünstler, die unter schwierigsten Bedingungen existieren können.
Siehe auch:
Klimaerwärmung bedroht Schmetterlinge
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Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz
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