Vor allem von Naturheilpraktikerinnen und Naturheilpraktikern höre ich immer wieder die Vorstellung, dass Stinkender Storchenschnabel (Geranium robertianum, Ruprechtskraut) gegen Schock wirksam sei. Und ich bin immer wieder überrascht darüber, wie ungeprüft solche Gerüchte übernommen und weitererzählt werden.

Erstens müsste man natürlich nachfragen, was genau mit „Schock“ gemeint ist. Medizinisch gesehen ist ein Schock eine lebensbedrohliche Notsituation des Kreislaufsystems. Das ist aber offensichtlich nicht gemeint.

Verbreitet wurde diese Idee durch einen Hersteller von Pflanzentinkturen, der seine Storchenschnabeltinktur bei „psychisch bedingten Schockzuständen“ empfiehlt.

Diese angebliche Wirkung ist meiner Ansicht nach ein reines Phantasieprodukt, das aber als angebliches „Wesen der Pflanze“ in den Zustand allgemeiner Gültigkeit erhoben wurde. Und weil es im Bereich von Komplementärmedizin & Alternativmedizin an kritischem Nachfragen fundamental mangelt, lassen sich solche Phantasien perfekt verkaufen.

Bei den Arzneimittelbehörden ist die Storchenschnabeltinktur als Homöopathika gemeldet (obwohl die Anwendung mit Homöopathie nichts zu tun hat). Deshalb ist dafür kein Wirksamkeitsnachweis nötig

Homöopathika sind generell vom Wirkungsnachweis befreit, doch darf in Folge dessen bei diesen Pflanzentinkturen auch keine Indikation auf die Packung geschrieben werden, also kein Anwendungsbereich wie „psychisch bedingte Schockzustände“.

Das ist aber kein Problem, wenn man die erfundenen Indikationen einfach in einem Buch oder einer Broschüre beschreibt.

Klären müsste man natürlich, was genau mit der schwammigen Bezeichnung „psychisch bedingte Schockzustände“ gemeint ist. Ein Schreck? Ein plötzlicher Todesfall einer Angehörigen? – Für den Verkauf der Storchenschnabeltinktur ist es sicher besser, wenn das nicht so genau geklärt wird. So können viel mehr Menschen zum Schluss kommen, dass auch sie eine solche Pflanzentinktur brauchen.

Und es gibt selbstverständlich auch immer wieder Menschen, welche die Erfahrung bezeugen, dass ihnen Storchenschnabeltinktur bei „Schock“ prima geholfen hat.

Abgesehen davon, dass in diesem Bereich mit einem starken Placeboeffekt gerechnet werden kann, klingen Schreckmomente in der Regel von selber rasch wieder ab.

Wie also lässt sich aus einer solchen Einzelerfahrung schlussfolgern, dass es die Storchenschnabeltinktur war, die geholfen hat?

Die Chance ist gross, dass wir es bei solchen Schilderungen mit einem Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss zu tun haben.

Jedenfalls gibt es meines Erachtens keinerlei glaubwürdige Hinweise auf eine Wirksamkeit von Storchenschnabel bei „Schock“.

Nun könnte man ja argumentieren: Wenn sie jemandem gut tut, was ist dann gegen die Einnahme von Storchenschnabeltinktur einzuwenden?

Diese Argumentation greift meiner Ansicht nach allerdings zu kurz.

In den letzten Jahren hat sich zunehmend eine Haltung verbreitet, bei der in jeder Lebenslage und bei jeder kleinen Störung im Leben Globuli, Bachblütentropfen, Schüssler-Salz-Tabletten oder Pflanzentinkturen „eingeworfen“ werden.

Diese Medikalisierung aller Lebenslagen nimmt in manchen Kreisen der Komplementärmedizin bzw. Alternativmedizin groteske Züge an und ich halte diese Entwicklung für sehr fragwürdig. Sie unterminiert das Vertrauen in die Kompetenz unseres Organismus, mit kleineren Störungen auch selber zurande zu kommen und sie regulieren zu können.

Zum Thema Storchenschnabel & Schock siehe auch:

Zum “Wesen der Heilpflanzen”: Storchenschnabel gegen Schock?

Weil es im Bereich Komplementärmedizin / Alternativmedizin an Qualitätssicherung mangelt, werden via Internet oder auch in Gesundheitszeitschriften sehr viele Empfehlungen verbreitet, Solche „Individualideen“ müssten sich meiner Meinung nach zuerst einer kritischen Diskussion unter Fachleuten stellen und diese Auseinandersetzung „überleben“. Und zwar, weil ein einzelner Mensch mit seinen Vorstellungen und Erfahrungen immer sehr anfällig ist für Selbsttäuschungen.

Kritische Diskussionsprozesse unter Fachleuten sind ein Element der Qualitätssicherung. In der Phytotherapie kennt man als Ergebnis solcher Zusammenarbeit zum Beispiel die Monografien der ESCOP.

Siehe:

Phytotherapie: Was sind ESCOP-Monografien?

Es macht sehr Sinn, sich mehr auf Wissen zu verlassen, dass gemeinschaftlich erarbeitet wurde, und weniger auf isolierte Vorstellungen und Ideen von Einzelpersonen. „Storchenschnabel gegen Schock“ ist ein Beispiel für eine isoliert entstandene und auch isoliert in der Fachwelt stehende Idee.

Und es sehr zu empfehlen, den Heilanpreisungen von Herstellern nicht unbesehen glauben zu schenken.

Martin Koradi, Dozent für Phytotherapie / Pflanzenheilkunde

Winterthur / Kanton Zürich / Schweiz

Phytotherapie-Ausbildung für Krankenpflege und andere Gesundheitsberufe
Heilpflanzen-Seminar für an Naturheilkunde Interessierte ohne medizinische Vorkenntnisse
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www.phytotherapie-seminare.ch

Weiterbildung für Spitex, Pflegeheim, Psychiatrische Klinik, Palliative Care, Spital:

Interessengemeinschaft Phytotherapie und Pflege: www.ig-pp.ch

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