Spinnen waren mir auch zuwider
All meine jungen Jahre,
Liessen sich von der Decke nieder
In die Scheitelhaare,
Sassen verdächtig in den Ecken
Oder rannten, mich zu erschrecken,
Über Tischgefild und Hände,
Und das Töten nahm kein Ende.
Erst als schon die Haare grauten,
Begann ich sie zu schonen,
Mit den ruhiger Angeschauten
Brüderlich zu wohnen;
Jetzt mit ihren kleinen Sorgen
Halten sie sich still geborgen,
Lässt sich einmal eine sehen,
Lassen wir uns weislich gehen.
Hätt ich nun ein Kind, ein kleines,
In väterlichen Ehren,
Recht ein liebliches und feines,
Würd ich’s mutig lehren,
Spinnen mit dem Händchen fassen
Und sie freundlich zu entlassen;
Früher lernt’ es Frieden halten,
Als es mir gelang, dem Alten!
Gottfried Keller (1819 – 1890), Schweizer Dichter und Politiker
Kommentar & Ergänzung:
Sie fragen sich, was ein solches „Spinnen-Gedicht“ auf einer Pflanzenheilkunde-Website zu suchen hat?
Lassen Sie mich das erklären und dazu ein wenig ausholen:
Wer Heilpflanzenkunde nur am Pult oder vor dem Computer betreibt, verpasst einen ganz wesentlichen Aspekt. Heilpflanzen muss man auch in ihrem Lebensraum kennen lernen.
Nur so entsteht ein anregender Kontakt und eine lebendige Beziehung zur Pflanzenwelt. Es geht dabei nicht um ein abgehobenes „Eso-Gesäusel“. Es geht nicht um eine fragwürdige „Vermenschung“ der Pflanzen, die ihnen Dialogfähigkeit, Sprachfähigkeit und Emotionalität unterschiebt. Mensch bleibt Mensch und Pflanze bleibt Pflanze. Sehr unterschiedliche Welten. Trotzdem kann der Mensch in Kontakt treten, Beziehung aufnehmen, mich auf eine anregende Begegnung einlassen.
Vielleicht machen gerade die Unterschiede zwischen Mensch und Pflanze die Qualität dieser Beziehung aus. Kontakt entsteht aus der Wertschätzung der Unterschiede (sagt die Gestalttherapie) und das Spezielle an der Natur ist, dass sie keine Meinung über uns hat (sagt Nietzsche).
Wer sich nun achtsam auf der Suche nach Heilpflanzen in der Natur bewegt, wird hoffentlich irgendwann merken: Es gibt auch viele Pflanzen, die keine heilkundliche Verwendung finden.
Ist es nicht eigenartig, wenn wir uns nur isoliert für Heilpflanzen interessieren, also für das, wovon wir uns einen direkten Nutzen versprechen? Daran schliessen sich knifflige Fragen an: Warum sind Heilpflanzen Heilpflanzen geworden und Nicht-Heilpflanzen Nicht-Heilpflanzen geblieben?
Mein Wunsch: Beachten wir die Nicht-Heilpflanzen mit gleich viel Interesse wie die Heilpflanzen. Und wer das nicht ganz ohne Eigennutz vermag: Zu mindestens ästhetisch bieten uns auch die Nicht-Heilpflanzen sehr viel Genuss.
Wer sich nun also nicht nur auf die Heilpflanzen fixiert, sondern offen ist für die Pflanzenwelt überhaupt, wird irgendwann hoffentlich bemerken: Mit und auf den Pflanzen und um sie herum gibt es ganz viel zu entdecken, was da „kreucht und fleucht“. Wunderschöne oder schlichtere Schmetterlinge….. die muss man ja nicht alle mit Namen ansprechen können (es gibt rund 3000 Arten in Mitteleuropa).
Aber warum kennen sehr viele Menschen – auch naturheilkundlich interessierte – nicht einmal mehr die häufigsten und auffälligsten? Schmetterlinge sind faszinierend von ihrer Lebensweise her und von ihren Farben und Formen eine Augenweide. Immerhin sind sie im Reich der Insekten für die Menschen noch so etwas wie Sympathieträger.
Aber Käfer? – Da kommen wir schon in schwierigere Gefilde. Auch hier gilt: Man muss sie nicht alle mit Namen ansprechen können (es gibt mehr als 8000 Käferarten in Mitteleuropa). Aber wenn man sich einmal Zeit nimmt und einen Käfer von nah anschaut – zum Beispiel die Fühler unter der Lupe oder mit dem Binokular-Mikroskop: Eine ganz neue Welt tut sich auf. Wunderbare Formen und schillernde Farben.
Und erst die Wanzen! – Wanzen? – Ja genau – die verdanken ihren schlechten Ruf der Bettwanze. Auf den Pflanzen gibt es aber ganz harmlose Wanzen mit einem exzellenten Farbdesign. Schauen Sie sich mal die Streifenwanze an in den Bildergalerien von Flims und Jeizinen. Sie könnte locker einen Design-Wettbewerb gewinnen. Aber auch hier muss sich niemand einen Stress daraus machen, alle Wanzen zu kennen (es gibt etwa 700 Wanzenarten in Mitteleuropa, darunter auch einige ausgesprochene „beauties“).
Und jetzt noch die Spinnen. Hier kommen wir beziehungsmässig in ziemlich desolates Gelände. Spinnenfreunde lassen sich meist an einer Hand abzählen (Spinnenfreundinnen an einer halben). Aber ehrlich: Was wissen Spinnenverächter überhaupt von Spinnen: hoch faszinierende Jagdstrategien, perfekte Balzrituale für ein „unfallfreies“ Rendez-vous (Spinnenmännchen müssen ihrer Angebeteten klar machen, dass es jetzt nicht ums Fressen geht….), eindrückliche Netzbaukunst.
Und wer schon mal einer Spinne in ihre acht Augen geschaut hat….das kann ausprobieren, zum Beispiel mit meinem Binokular-Mikroskop, das ich an den Wochenend- und Wochenkursen dabei habe. Dieses Binokular-Mikroskop hat schon manche Spinnenabneigung in unverhohlene Faszination verwandelt. Und schlussendlich: Haben Sie die Springspinne schon gesehen, die in Ihrer Wohnung lebt? Die Zitterspinne? Die grosse Hauswinkelspinne? Alles sehr regelmässige Nachbarn des Menschen, mit interessanter Lebensweise. Warum eigentlich sind Mensch und Spinne sich so fremd?
Damit sind wir wieder beim Gedicht von Gottfried Keller. Ich wollte Ihnen zeigen: Pflanzenheilkunde kann auch ein Einstieg und ein Weg sein, um die Vielfalt der Natur genauer wahrzunehmen, um Beziehungen zu knüpfen zu unterschiedlich Lebewesen aus Pflanzen- und Tierwelt. Das führt schliesslich über die erweiterte Wahrnehmung zu einer Bereicherung der Welt, in der wir leben.
Nicht die Welt wird reicher – sie ist heute schon voller kleiner Wunder am Wegrand – nur laufen die meisten Menschen ziemlich blind durch die Gegend. Wer Pflanzen und Tiere aber einmal genau wahrgenommen hat, wird ihnen immer wieder begegnen. Dadurch kann sich auch eine tragfähigere Verankerung in der Welt entwickeln, eine Beheimatung in der Natur sozusagen.
Aus diesen Gründen scheint es mir wichtig, auf Heilpflanzen-Exkursionen zwar die Heilpflanzen (und andere Pflanzen) ins Zentrum zu stellen, aber auch die Augen offen haben für die kleinen Wunder aus der Tierwelt.
Schauen Sie sich im Kurskalender doch mal die Daten und Orte für meine Kräuterwanderungen an.