Der Philosoph und Journalist Jürgen Wiebicke hat ein kleines Bändchen veröffentlicht mit dem Titel „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“. Dieses Motto tönt zwar etwas gar alarmistisch und heroisch. Der Autor geht dabei aber sehr gegenwartsbezogen, ansprechend und gut verständlich auf die durchaus besorgnisserregende gesellschaftspolitische Situation ein.
Interessant ist zum Beispiel, dass Jürgen Wiebicke ein „schwaches Denken“ propagiert und es in einen Gegensatz stellt zu einem „starken Denken“ der unerschütterlichen Gesinnungen, der grossen Vereinfachungen und Zuspitzungen, das sich bis zum Fanatismus steigern kann. Aus dieser Grundhaltung heraus verwirft das «starke Denken» gute Ideen des politischen Gegners unbesehen und reflexartig.
«Schwaches Denken» dagegen ist offener und igelt sich nicht hermetisch ein. Es kann sich verändern, wenn gute Argumente auftauchen und lernt dadurch dazu.
Zitat Jürgen Wiebicke:
„Wir sollten uns im «schwachen Denken»üben. Das ist ein Begriff des italienischen Philosophen Gianni Vattimo, der anfangs vielleicht merkwürdig klingt. Vattimo wollte mit ihm die Konsequenz daraus ziehen, dass die Zeit der grossen Erzählungen vorbei ist. Fünfhundert Jahre nach Thomas Morus’ «Utopia» mögen wir zwar noch den nostalgischen Wunsch nach einem grossen utopischen Wurf haben, aber die Erfahrung des Zerschellens von grossen Erzählungen ist für uns postmoderne Menschen die intensivere. Auch wenn sich die Prophezeihung vom Ende der Geschichte als falsch erwiesen hat: Das starke Denken gehört der Vergangenheit an. Wer will heute noch freiwillig Kommunist sein und vom neuen Menschen träumen? Die starken Denker von heute, die Identitären und Islamisten, sind ja gerade das Problem! Wer sein eigenes Denken als schwach begreift, weiss um die Vorläufigkeit der eigenen Position, ist bereit, den eigenen Standpunkt zu räumen, wenn sich eine andere Meinung als die tragfähigere herausgestellt hat. Zum schwachen Denken gehört bei Vattimo immer auch die Ironie, die werden wir als Haltung nicht mehr los. Und sie ist allemal sympathischer als der Fanatismus. Sie gibt uns die Kraft, uns nicht so wichtig zu nehmen. Die anderen natürlich auch nicht. Schwaches Denken sollte die gemeinsame Basis für intelligentes Problemlösen in der Demokratie von morgen sein, in der Partizipation ganz sicher eine grössere Rolle spielen wird……….
Wer sich im schwachen Denken übt, weiss auch um die eigene Verführbarkeit. Dass wir geneigt sind, immerzu Bestätigungen für die eigene Überzeugung zu suchen. Ständig verlangen wir nach Futter für die eigenen Vorurteile. Weniges ist so schwer wie das Ändern der eigenen Meinung. Jeder sollte sich daher in regelmässigen Abständen die Kontrollfrage stellen, wann man zuletzt eine alte Überzeugung aufgegeben hat. Wem dann nichts einfällt und wer sich womöglich gar für seinen Meinungsstolz rühmt, hat die Tugend des schwachen Denkens nicht begriffen……..
Schwaches Denken heisst auch, dass ich um meine Manipulierbarkeit weiss und daher immer bestrebt bin, die eigene Blase zu verlassen. Dass ich meine Skepsis nicht verliere, wenn mich Nachrichten von Gleichgesinnten erreichen, dass ich meine Neugierde auf das nicht verliere, was meinem Denken widerspricht. Die Demokratie hätte sich niemals entwickeln können ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, in der debattiert und zivilisiert gestritten wird. Diese Öffentlichkeit ist zurzeit in ihrer Existenz bedroht. Durch Verrohung im Netz, durch diffamierende Lügenpresse-Vorwürfe, durch massenhaften Rückzug in die eigene Blase. In den Worten Kants: durch selbst verschuldete Unmündigkeit.“
Zitat aus:
Zehn Regeln für Demokratie-Retter, von Jürgen Wiebicke, KiWi Verlag 2017
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Kommentar & Ergänzung:
Drei Anmerkungen zum „schwachen Denken“, wie es Wiebiecke im Zitat beschreibt:
☛ Das „schwache Denken“, wie es Jürgen Wiebicke hier beschreibt, gründet meiner Ansicht nach in Stärke. Um sich auf „schwaches Denken“ einzulassen, ist Stärke nötig. Starkes Denken, wie es hier beschrieben wird, entspringt eigentlich aus Schwäche.
☛ Der Aufforderung, sich in schwachem Denken zu üben, könnte noch ein zusätzlicher Punkt angefügt werden: Bei Wahlen Politikerinnen und Politiker vorziehen, die mit schwachem Denken vertraut sind. Sie eignen sich prägnant besser für konstruktive, demokratische, problemlösungsfähige Politik. Politikerinnen und Politiker, die in einem starken Denken festgefahren sind, sind dagegen bei Wahlen eher zu meiden. Sie tragen oft zu Polarisierung und Blockierung bei. Das würde auch dem Populismus das Wasser abgraben, der überwiegend mit „starkem Denken“ daher kommt. Zum Thema „Populismus“ gibt’s hier einen Text von mir:
Was ist Populismus? Und was nicht?
Eine Zusammenfassung des Populismus-Konzepts des Politologen Jan-Werner Müller.
☛ „Schwaches Denken“ und „starkes Denken“ gibt es natürlich nicht nur in der Politik, sondern in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel auch in Medizin, Komplementärmedizin, Naturheilkunde etc.
Übersicht meiner eigenen gesellschaftspolitischen Texte und Buchempfehlungen.
Jürgen Wiebicke moderiert auf WDR 5 jeden Freitagabend die Sendung „Das philosophische Radio“, das auch online nachhörbar ist:
https://www1.wdr.de/radio/dasphilosophischeradio100.html