Bei Erich Fromm findet sich ein interessantes Zitat zum unterschiedlichen Einstellungen zum Wissen:
„Der Unterschied zwischen den Existenzweisen des Habens und Seins auf dem Gebiet des Wissens drückt sich in den Formulierungen „ich habe Wissen“ und „ich weiss“ aus. Wissen zu haben heisst, verfügbares Wissen (Information) zu erwerben und in seinem Besitz zu halten; Wissen im Sinne von „ich weiss“ ist funktional und Teil des produktiven Denkprozesses.
Unser Verständnis der Eigenart des Wissens bei einem Menschen, der in der Weise des Seins lebt, können wir vertiefen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was Denker wie Buddha, die Propheten, Jesus, Meister Eckhart, Sigmund Freud und Karl Marx vertreten haben. Wissen beginnt in ihren Augen mit der Erkenntnis der Täuschungen durch die Wahrnehmungen unseres sogenannten gesunden Menschenverstandes; nicht nur in dem Sinn, dass unser Bild der physischen Realität nicht der „tatsächlichen Wirklichkeit“ entspricht, sondern insbesondere in dem Sinn, dass die meisten Menschen halb wachen und halb träumen und nicht gewahr sind, dass das meiste dessen, was sie für wahr- und selbstverständlich halten, Illusionen sind, die durch den suggestiven Einfluss des gesellschaftlichen Umfeldes hervorgerufen werden, in dem sie leben. Wissen beginnt demnach mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der „Ent-täuschung“. Wissen bedeutet, durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vorzudringen, die Realität in ihrer Nacktheit „sehen“. Wissen bedeutet nicht, im Besitz von Wahrheit zu sein, sondern durch die Oberfläche zu dringen und kritisch und tätig nach immer grösserer Annäherung an die Wahrheit zu streben…..
All diesen Denkern ging es um das Heil des Menschen, sie alle stellten die gesellschaftliche anerkannten Denkschemata in Frage. Für sie ist das Ziel des Wissens nicht die Gewissheit der „absoluten Wahrheit“, deren man sicher ist, sondern der sich selbst bewahrheitende Vollzug der menschliche Vernunft. Für den Wissenden ist Nichtwissen ebenso gut wie Wissen, da beides Teile des Erkenntnisprozesses sind, wenn sich auch diese Art von Nichtwissen der Ignoranz der Denkfaulen unterscheidet. Das höchste Ziel der Existenzweise des Seins ist tieferes Wissen, in der Existenzweise des Habens jedoch mehr Wissen.
Unser Bildungssystem ist im allgemeinen bemüht, Menschen mit Wissen als Besitz auszustatten, entsprechend etwa dem Eigentum oder dem sozialen Prestige, über das sie vermutlich im späteren Leben verfügen werden. Das Minimalwissen, das sie erhalten, ist die Informationsmenge, die sie brauchen, um in ihrer Arbeit zu funktionieren. Zusätzlich erhält jeder noch ein grösseres oder kleineres Paket „Luxuswissen“ zur Hebung seines Selbstwertgefühls und entsprechend seinem voraussichtlichen sozialen Prestige. Die Schulen sind die Fabriken, in denen diese Wissenspakete produziert werden, wenn sie auch gewöhnlich behaupten, den Schüler mit den höchsten Errungenschaften des menschlichen Geistes in Berührung zu bringen. Viele Colleges verstehen es prächtig, diese Illusion zu nähren. Von indischer Philosophie und Kunst bis zum Existentialismus und Surrealismus wird ein riesiges „Smörgasbord“ angeboten, aus dem sich jeder Student da und dort etwas herauspickt; um seine Spontaneität und Freiheit nicht einzuengen, drängt man ihn nicht , sich auf ein Thema zu konzentrieren, ja nicht einmal, je ein Buch zu Ende zu lesen.“
Erich Fromm, 1900 – 1980, deutscher Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe.
Zitat aus: Haben oder Sein, Die Grundlagen einer neuen Gesellschaft, dtv Verlag 1980
Kommentar & Ergänzung:
Dieser Text enthält meines Erachtens wertvolle Anregungen auch für Menschen, die nach Wissen im Bereich von Phytotherapie / Pflanzenheilkunde streben.
Ein weiteres Zitat von Erich Fromm zum Thema „Lernen“ habe ich hier dargelegt und kommentiert:
Lernen über Heilpflanzen: Auf die Grundhaltung kommt es an – ein Zitat von Erich Fromm
Zum Thema „Haben oder Sein“ bei Erich Fromm hat die Stuttgarter Philosophin Johanna Kosch mehrere fundierte Beiträge publiziert: